Das Monster in meinem Gesicht
Vieles spricht dafür, aber kaum jemand tut es: Maske tragen. Wieso?
Ich stehe vor meiner Haustür und atme noch einmal tief durch. Türknauf runter und einfach raus, so wie immer, sage ich mir. Aber so einfach ist es nicht. Nichts ist so wie immer und als wäre das nicht schlimm genug, trage ich es auch noch zur Schau. In meinem Gesicht klebt eine Maske, weiss und aufdringlich, als wäre da ein blinkendes Schild über mir: Corona is real!
Dabei weiss ich, wie wichtig diese Information ist. Der Lockdown mag praktisch vorbei sein, das Virus ist es noch lange nicht. Nichts weist so auffällig auf diese unangenehme Tatsache hin wie eine Gesichtsmaske. Hinzu kommt der Nutzen: Ich weiss, dass eine Maske bei richtiger Anwendung Leben retten kann. Dass sie andere vor mir schützt, wenn ich symptomlos unbedarft draussen rumtschalpe. Keine Symptome bedeutet noch lange nicht kein Corona, auch das weiss ich und es macht mir Angst, aber nicht Angst genug. Denn bis heute habe ich nie eine Maske getragen. Und ganz viele Menschen machen es mir gleich.
Ob Maske oder nicht, ist in der Schweiz seit Wochen Thema. Offiziell ist die Haltung klar.
Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt Masken für Fachpersonal, das Kontakt mit Patient*innen oder Risikogruppen hat und Menschen mit Symptomen einer akuten Atemwegsinfektion. Daniel Koch, der Delegierte für Covid-19, betont immer wieder, es sei nicht erwiesen, dass Masken tragen in der Öffentlichkeit wirklich Mitmenschen vor einer Ansteckung schützt. Ob sie gar nicht schützen, kann er aber auch nicht sagen.
Konträre Botschaften
Gleichzeitig gibt es viele Wissenschaftler*innen, die das Maskentragen in der Öffentlichkeit begrüssen. Etwa der Epidemiologe Marcel Tanner von der Universität Basel. «Allgemeines Maskentragen wäre hilfreich, um unerkannte Infektionskanäle zu unterbinden», sagte er im April gegenüber der Republik. Ein Problem beim Coronavirus sei nämlich, dass Infizierte oft ohne Symptome bleiben, aber das Virus trotzdem verbreiten.
Resultat dieser konträren Botschaften sind Menschen wie ich, die nicht wissen, was sie jetzt tun sollen. Die einfachste Reaktion ist natürlich, keine Maske zu tragen und sich mit dem Argument der Einhaltung staatlicher Anweisungen aus der Verantwortung zu ziehen. Was wenn ich aber das Virus in mir trage und nichts davon weiss?
Besser Maske an, Knauf runter und raus mit mir.
Draussen vor unserem Haus schaue ich wie eine Verfolgte nach links und rechts. Sind die Nachbarjungs irgendwo? Irgendwer, den ich kenne? Dem diese Aufmache komisch vorkommen könnte? Ist doch egal, sage ich mir, aber auch da ist die Lage komplizierter. Sozialisiert in einem System, wo Frauen vorwiegend angeschautes Objekt und nicht schauende Agentin sind, frage ich mich auch bei jedem Mal ungeschminkt Aus-dem-Haus-Gehen, was der für mein Leben maximal irrelevante Walthi nebenan wohl denkt, wenn er mich so sieht. Da komm ich her und es ist privilegiertes Bedauern und auch dafür mag ich mich nicht, aber ich kanns nicht ausblenden und eine Maske im Gesicht macht die Sache auch nicht besser. Im Gegenteil.
«Auf meinem Weg zum Marktplatz sehe ich geschätzt 80 Menschen. Fünf tragen Maske, zwei davon falsch.»
Schnell schwinge ich mich aufs Rad und fahre zum Marktplatz. Auf meinem 5-minütigen Weg dahin sehe ich geschätzte 80 Menschen. Fünf tragen Maske, zwei davon falsch. Eine von diesen Personen ist eine Mitarbeiterin der Spitex. Sie trägt die Maske unter ihrem Kinn und schiebt sie sich hoch, als sie ein Gebäude betritt. Ich weiss nicht, wie ich reagieren soll. Ignorieren? Ansprechen? Moralisieren?
Das letzte Mal, als ich einer Mitbürgerin erklärt habe, wie sie sich korrekt zu verhalten habe, endete bös. Die kleine Seniorin war hinter mir am Käseregal stehengeblieben und hatte zentimeternah an mir vorbei zum Cantadou gegriffen. Ich drehte mich um und wich zurück. Bitte warten sie doch das nächste Mal, bis der Mensch vor Ihnen seinen Käse ausgewählt habe, sagte ich. Sie zischte: «Niemand hat mir was zu sagen und Sie erst recht nicht!» Ich musste ausgerechnet in dem Moment niesen und schaffte es gerade noch, mich in meinen Ellbogen zu drehen. Die Frau griff seelenruhig zu einer zweiten Packung. Persönliche Freiheit. Das Killerargument, im wahrsten Sinne des Wortes.
Es wird auch in der Diskussion um eine Maskenpflicht immer wieder genannt. Bevor ich zum ersten Mal selbst eine Maske trug, konnte ich das nicht verstehen. Was wäre so schlimm an einer Maskenpflicht im ÖV und beim Einkaufen, so wie es in Deutschland gehandhabt wird?
«Das Tragen einer Maske ist unangenehm. Man atmet schlecht, es ist heiss, die Nase juckt, die Brille beschlägt sich. Freiheit fühlt sich anders an. Aber reicht das, um sich dem Zusatzschutz zu verweigern?»
Jetzt kann ich die Argumente dagegen zumindest nachvollziehen: Das Tragen einer Maske ist unangenehm. Man atmet schlecht, es ist heiss, die Nase juckt, die Brille beschlägt sich. Freiheit fühlt sich anders an. Aber reicht das, um sich dem Zusatzschutz zu verweigern?
Auf dem Marktplatz ist Stadtmarkt. Ich frage ein paar Passant*innen, wieso sie keine Maske tragen. Die Antworten fallen einstimmig aus: Man weiss, aber man fühlt nicht. Man weiss, dass es besser ist, eine Maske zu tragen, aber es fühlt sich einfach doof an. Komisch. Das seltsame Gefühl versucht man mithilfe von offiziellen Aussagen zu rationalisieren: Herr Koch sagte, es sei nicht erwiesen, wie viel Masken tatsächlich bringen. Und die meisten trügen sie sowieso falsch!
Ok, aber was spricht dagegen, dass man sich diese hervorragende visuelle Übersicht des Tagesanzeigers anschaut und sie danach trotzdem richtig trägt?
Schulterzucken. Eine Frau sagt sie hätte die Maske zuhause schon angehabt, aber es dann einfach nicht hinaus geschafft damit. Eine andere Passantin berichtet von der Erleichterung, mit der sie die Maske vom Gesicht nahm, als ihr Arzttermin vorbei war. Endlich weg mit dem scheusslichen Ding!
«Wenn er eine Person mit Mundschutz sehe, sagt ein Passant, werde er automatisch argwöhnisch. Er könne das gar nicht steuern. Da sei sofort ein Gefühl der Skepsis.»
Keine Körperstelle ist öffentlicher als unser Gesicht. Wir tragen damit unsere Persönlichkeit in den Raum, lassen uns lesen und lesen Andere. Das Gesicht ist unser erstes und wichtigstes Hilfsmittel, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Bedecken wir es, tritt ein Gefühl der Isolation ein. Gleichzeitig werden wir für unser Umfeld schwer einschätzbar. Wenn er eine Person mit Mundschutz sehe, sagt ein Passant, werde er automatisch argwöhnisch. Er könne das gar nicht steuern. Da sei sofort ein Gefühl der Skepsis.
Ich muss an seine Antwort denken, als ich den Supermarkt betrete und rollende Augen auf mir spüre. Die körperlichen Unannehmlichkeiten des Maskentragens sind das Eine. Ist man sich in seinem maskierten Auftritt aber ohnehin unsicher, wird jeder herunterhängende Mundwinkel sofort zum Affront. Täusche ich mich, oder hat die Frau, die mich so anglotzt hinten bei der Waage, gerade missbilligende Worte in ihr Handy geraunt? Hat der Mann mich nicht gehört oder geht er absichtlich nicht aus dem Weg, als ich ihn darum bitte? Und wieso schreit da ein Kind?
Mit Maske passt man nicht ins Bild. Weder ins Eigene, noch in das aller Anderen. Ständig muss man seine Position in der Welt neu verhandeln, dabei die eigenen Selbstzweifel aushalten und sich immer wieder vor Augen führen, wofür man damit einsteht. Dabei kriegt man schlecht Luft, man sieht unheimlich aus und kann nicht lächeln, um schwierige Situationen zu entschärfen. An Komplizenschaft mit anderen Maskenträger*innen ist auch nicht zu denken: die schauen alle weg. Schämen sie sich auch so grundlos wie ich?
«Wir Maskenträger*innen machen Corona wieder sichtbar, jetzt, wo es niemand mehr sehen mag.»
Dabei sind doch gerade wir die Botschafter*innen dieser Zeit: Wir halten der Lockerungseuphorie entgegen, verweisen auf den Ernst der Lage, sind Realist*innen statt vorschnelle Idealist*innen!
Vielleicht ist genau das das Problem. Die Maske ist das Monster, vor dem alle Angst haben. Wir machen Corona wieder sichtbar, jetzt, wo es niemand mehr sehen mag.
Als ich nach Hause komme, ziehe ich noch vor den Schuhen die Maske aus. Auf meinem Gesicht macht sich eine angenehme Kühle breit. Ich nehme einen tiefen Atemzug. So erleichtert war ich schon lange nicht mehr. Die Maske kommt in die Waschmaschine, zusammen mit der Dreckwäsche. Werde ich sie beim nächsten Rausgehen wieder tragen?
Ich weiss es nicht.