AHV: Alles Gute kam von links

Bajour schrieb, die Linke habe wenig konkrete Vorschläge zur Stärkung der AHV. Das ist absurd, protestiert SP-Nationalrätin Samira Marti.

Samira Marti
Zur Person

Samira Marti vertritt das Baselbiet im Nationalrat. Sie ist Vize-Präsidentin der Sozialdemokratischen Fraktion der Bundesversammlung und Mitglied der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats. 

Bajour-Chefredaktorin Andrea Fopp wirft in ihrem Kommentar zum Abstimmungssonntag den Linken vor, Reformen zu blockieren, aber keine Lösungen für die Altersvorsorge präsentiert zu haben. Mit Verlaub, aber das ist schlicht falsch. Es lohnt sich, einen Blick zurückzuwerfen.

1997 war es die SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss, die die 10. AHV-Revision erfolgreich durchs Parlament und durchs Volk brachte. Damit wurde das Frauenrentenalter direkt um zwei Jahre von 62 auf 64 erhöht.

Die SP Schweiz war damals massgeblich an der damaligen Vorlage beteiligt und unterstützte sie trotz der Rentenaltererhöhung für die Frauen. 

Warum? 

Weil sie umfangreiche Ausgleichsmassnahmen umfasste. Dazu gehörten grosszügige Kompensationen für die ältesten Jahrgänge und die Einführung der Erziehungsgutschriften. Die Erziehungsgutschriften haben substanziell dazu beigetragen, die Frauen-AHV-Renten zu erhöhen. Dass heute die AHV-Renten der Frauen gleich hoch sind wie jene der Männer, ist massgeblich dieser Reform geschuldet.

Sozialdemokratisches Verhandlungsgeschick

Mit der AV 2020 präsentierte SP-Bundesrat Berset die letzte umfangreiche Revision der ersten und zweiten Säule. Sie sah die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 vor, aber beinhaltete auch umfangreiche Kompensationsmassnahmen für die ältesten Jahrgänge, eine Erhöhung der Lohnprozente, der Mehrwertsteuer und der AHV-Rente um 75 Franken.

Diese ausgewogene Reform fiel nicht einfach vom Himmel, sondern war das Resultat geschickter Verhandlungen der SP-ParlamentarierInnen und wurde von der SP Schweiz in der Volksabstimmung nicht einfach nur mitgetragen, sondern an vorderster Front mit vollem Einsatz verteidigt.

Zur Verdeutlichung der Unterstützung wurde sogar eine Urabstimmung bei der SP-Basis durchgeführt. Knapp 13'000 Mitglieder haben sich beteiligt, und mit einem Ja-Anteil von 90.6% wurde die Kompromiss-Vorlage AV2020 deutlich gestützt. Umso engagierter war die Parteibasis in den Wochen vor dem Volksentscheid.  

Die knappe Ablehnung im September 2017 entstand aus einer diffusen Mischung: Einerseits waren Menschen dagegen, die im (falschen) Glauben waren, es gäbe bei einem Nein eine bessere Vorlage, und wenig Interesse an Reformpolitik haben, andererseits kämpften libertäre und rechte Kreise dagegen, für die die AHV als Umverteilungsmaschinerie ein Dorn im Auge ist.

Martine Docourt, Co-Praesidentin SP Frauen, Cedric Wermuth, Co-Praesident SP, Tamara Funiciello, Nationalraetin SP-BE, Co-Praesidentin SP Frauen, Tom Cassee, Co-Generalsekretaer SP, Prisca Birrer-Heimo, Nationalraetin SP-LU, Samira Marti, Nationalraetin SP-BL, Mattea Meyer, Co-Praesidentin SP, und Emmanuel Amoos, Nationalrat SP-VS, von links, reagieren auf die erste Hochrechnung, beim Versammlungsort der Linken, am Sonntag, 25. September 2022 im Progr in Bern. Die Linke lehnt mehrheitlich die AHV-Vorlage und die Verrechnungssteuer-Vorlage ab, und unterstuetzt die Massentierhaltungsinitiatve. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Der Abstimmungssonntag hat bei der SP für lange Gesichter gesorgt. (Bild: KEYSTONE/Peter Klaunzer)

Als Reaktion auf die Ablehnung der AV 2020 hat sich die damalige CVP von uns abgewandt und ist sozialpolitisch weiter nach rechts gerückt. Von diesem Moment an hat der bürgerliche Block für die Neuauflage der Reform nicht mehr mit uns verhandelt. Trotzdem haben wir etliche Alternativen vorgeschlagen im Rahmen der parlamentarischen Beratungen:

  • Erhöhung der Lohnprozente: Das ist eine der solidarischsten Finanzierungsformen für die AHV. Millionäre zahlen die AHV-Beiträge auf ihren gesamten Lohn, erhalten aber aufgrund der gedeckelten Renten nicht viel mehr AHV als Normalverdiener. Durch diesen Mechanismus erhalten 92% der Menschen mehr AHV-Rente als sie je mittels Lohnbeiträge einbezahlt haben.

Kleine Nebenbemerkung: Im Rahmen der Reform der zweiten Säule (BVG-Reform) haben wir beantragt, den Rentenzuschlag nicht über die zweite Säule, sondern über die erste Säule einzuführen, finanziert über eine Lohnprozenterhöhung. Der Antrag wurde von den bürgerlichen Parteien verworfen.

  • AHV-Beiträge auf Dividenden: Die SP hat während der Beratung vorgeschlagen, auch auf Dividendenauszahlungen AHV-Abzüge vorzunehmen. Das wäre eine neue, sozialverträgliche Finanzierungsquelle gewesen. Diesen Vorschlag wollte die bürgerliche Mehrheit nicht einmal vertieft abklären lassen. 
  • Negativzinsen der SNB in die AHV: Auch dieser Antrag wurde von der SP gestellt und fand im Nationalrat sogar eine Mehrheit. Der Ständerat hingegen lehnte diesen Vorschlag ab.

Die Anträge, wenn auch teilweise chancenlos, wurden von uns alle gestellt. An Ideen und Alternativen fehlte es nicht. Doch der politische Wille der bürgerlichen Mitte war schlicht nicht vorhanden, mit der SP zu verhandeln. Dafür uns die Schuld geben zu wollen, ist gelinde gesagt absurd.

Für den letzten Vorschlag, die Abschöpfung der Negativzinsen der SNB für die AHV, haben wir gemeinsam mit den Gewerkschaften eine Volksinitiative lanciert, weil klar wurde: Im Ständerat haben wir für dieses berechtigte Anliegen keine Chance.

Andrea Fopp
Linke, hört die Signale

Dieser Ohrfeige bei der AHV ist auch selbstverschuldet. Zeit, dass die Linke Lösungen fürs Rentenproblem sucht, schreibt Andrea Fopp im Kommentar.


Lesen.

Wenn Andrea Fopp nach Finanzierungsvorschlägen der Linken fragt: Hier sind sie. Der Linken den Vorwurf zu machen, sie biete nicht Hand für ausgewogene Reformen und habe keine eigenen Vorschläge zur Finanzierung: haltlos. 

Schliesslich haben wir das Referendum gegen die AHV 21 gesammelt, weil die Vorlage sozialpolitisch unausgewogen war. Ohne Kompensation und Verbesserung der Rentensituation der Niedriglohnbranche und der tiefen Pensen führen Rentenaltererhöhungen unweigerlich zu einer Privatisierung der Altersvorsorge. Wer es sich leistet, geht heute schon früher in Rente (im Finanzsektor jede zweite Person!). Alle anderen werden finanziell vermehrt dazu gezwungen, länger zu arbeiten. Es ist also nicht nur eine Gender-, sondern vor allem auch eine Klassenfrage. Das zeigt sich auch bei der Nachwahlbefragung von LeeWas:

Keine Mehrheit fand die Vorlage bei:  

  • Personen mit Einkommen unter 9'000 Franken,
  • Personen mit obligatorischem Schulabschluss, Berufslehre oder Handelsdiplom,
  • Personen unter 65 Jahren,
  • Den Frauen.

 Angenommen haben die Vorlage lediglich:

  • Personen mit Einkommen über 9'000 Franken,
  • Personen mit einer höheren Fachausbildung oder akademischem Abschluss,
  • Personen im Rentenalter,
  • Den Männern.

Und zu guter Letzt noch das: Das gestrige Zufallsmehr für die Vorlage bedeutet längst nicht, dass man in Zukunft ohne die SP Sozialpolitik machen kann. Selbst der Politologe Lukas Golder musste gestern eingestehen, die Veto-Macht der Linken sei nicht gebrochen. Das ist eine frohe Botschaft für alle Menschen, die von Lohn und Rente leben und keine private Altersvorsorge aufbauen können. Sie haben die AHV 21 gestern abgelehnt und werden auch in Zukunft gemeinsam mit den Linken für eine solidarische Altersvorsorge kämpfen, weil sie davon profitieren.

Anstatt den Linken den virtuellen «Gläpper» zu erteilen, sollten die Medienschaffenden jetzt die Bürgerlichen in die Pflicht nehmen. Die Versprechen des Abstimmungskampfes müssen gehalten werden. Die Renten müssen steigen, und zwar unmittelbar, nicht erst in 30 Jahren. Um das umzusetzen, wird man unweigerlich auf die SP-Rezepte zurückgreifen müssen. Alles andere ist nicht finanzierbar und unsozial. 

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