Der Industriepfarrer geht in Rente

Martin Dürr war 15 Jahre lang Industriepfarrer beider Basel. Mit seiner Pensionierung ist auch Schluss mit dem Industriepfarramt. Doch Dürr hat sich schon die nächste Vermittlerrolle gesucht.

Martin Dürr_Oekolampad
Martin Dürr an seinem neuen Wirkungsort: Dem umgebauten Gemeindehaus Oekolampad. (Bild: Michelle Isler)

Pfarrer Dürr predigt wenig. Und schon gar nicht Wasser von der Kanzel. Dafür trinkt er Wein beim Netzwerkapéro der Novartis. Oder bei der Roche, beim Gewerbeverband und bei der Handelskammer. Martin Dürr ist seit 15 Jahren reformierter Industriepfarrer, Ende September ist Schluss. Sowohl für Dürr – er geht in Pension – als auch fürs Industriepfarramt beider Basel.

Violette Couverts stapeln sich auf einem Tisch in Dürrs Büro am Petersplatz. Darin stecken Einladungen für einen Anlass mit Wegbegleiter*innen der vergangenen Jahre. Es wird der letzte sein. Nachdem sein katholisches Gegenüber den Posten bereits geräumt hat und seine Sekretärin in Pension gegangen ist, wird auch Dürr hinter sich endgültig das Licht löschen. Schwer fallen wird ihm das «überhaupt nicht», sagt er, als wir uns zu Fuss vom Petersplatz aufmachen in Richtung Gotthelfquartier. Denn dort, im Gemeindehaus Oekolampad, hat er eine neue Aufgabe angenommen, die ihn über seine Pensionierung hinaus beschäftigen wird.

Oft wurde er in den letzten 15 Jahren gefragt: Industriepfarrer? Was soll das sein? Tatsächlich ist das Spezialpfarramt eine schweizweit einzigartige Institution. Darauf angesprochen betonte Dürr stets die Aufgabe des Brückenbauens: Eine Brücke von der Kirche in die Wirtschaft und umgekehrt. In erster Linie gehe es um Seelsorge, um Gesprächsangebote, um Dialog. «Das Besondere an dieser Pfarrstelle ist, dass nicht wie bei einem Gemeindepfarrer der Gottesdienst im Zentrum steht, sondern der Mensch», findet Dürr.

Peterskirchplatz
Hier am Peterskirchplatz hatte Martin Dürr sein Büro. (Bild: Michelle Isler)

Er ist ein unaufdringlicher Gesprächspartner, fällt einem nicht ins Wort. Beim Zuhören macht er manchmal «mhm», leise, aber bestätigend. Beim Erzählen blickt er durch seine runde Brille in die Weite. Geschätzt wird er auch für seinen gewitzten Umgang mit Sprache. Das zeigt sich nicht zuletzt auf Social Media, wo Dürr alle paar Tage seine Gedanken teilt. Mal etwas zum Nachdenken, mal tröstend, mal ein Schmunzler. «Ich mache eine radikale Social Media-Pause und melde mich erst in einer halben Stunde wieder», schrieb er zum Beispiel vor Kurzem. Der Beitrag hat über 100 Likes und zwei Dutzend Kommentare.

Wenn ihn jemand dafür anfragte, schlüpfte Dürr in den letzten 15 Jahren auch mal in die klassische Pfarrerrolle – mit Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Aber seine Hauptaufgaben waren andere. Zu ihm kamen Lernende, die in ihrer Ausbildung Schwierigkeiten hatten. Oder Pensionierte, die sich nach dem Austritt aus der Arbeitswelt wieder selbst neu finden mussten. Dürr traf sich mit jungen Müttern ohne Berufsausbildung, HR-Verantwortlichen, Armutsbetroffenen. Er organisierte mit dem ehemaligen Kommunikationschef der Roche Gesprächsabende für Business-Leute ohne grosse Verbindung zum Christentum. Bei diesen Anlässen stand jeweils ein biblischer Text zur Diskussion. 

«Kleinere Formate mit höchstens 30 Personen haben mich im Laufe der Jahre immer mehr angesprochen.»
Martin Dürr, (noch) Industriepfarrer beider Basel

Meistens aber war die Verbindung zur Kirche und zum Glauben thematisch nicht so explizit. Er lud zu Veranstaltungen mit dem ehemaligen FCB-Präsidenten Bernhard Heusler oder mit Satirikerin Patti Basler, moderierte in einem Weinkeller eine Gesprächsreihe, bei der Frauen von ihrem Leben und ihrer Arbeit erzählen. Immer im Zentrum: Dialog. Die Frauen-Gesprächsreihe (im Publikum sind auch Männer willkommen) ist eine der wenigen Veranstaltungen, die Dürr über seine Pensionierung hinaus weiterführen will. 

Der Weinkeller bietet nur begrenzten Platz, das reizt Dürr: «Kleinere Formate mit höchstens 30 Personen haben mich im Laufe der Jahre immer mehr angesprochen», erzählt er. «Da kommt man weg vom Elevator Pitch, bei dem man sich selber möglichst gut verkaufen will, hin zum Persönlichen.» Es sind Gespräche über das, was uns prägt, über Ressourcen und Werte, gefolgt – wie es sich für einen anständigen Business-Anlass gehört – von einem Networking-Apéro.

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Ende September löscht Martin Dürr in seinem Büro das Licht. (Bild: Michelle Isler)

Was hat das alles mit dem Christentum zu tun, Pfarrer Dürr? Er kennt diese Frage. «In meinem Verständnis bedeuten christliche Werte, auf ein Gegenüber einzugehen und einander zuzuhören, ohne immer gleich die eigene Position durchdrücken zu wollen», erklärt Dürr. 

War seine leise Hoffnung doch, dass seine Anlässe wieder mehr Leute als Mitglieder in die Kirche holen? «Nein», sagt er, überlegt einen kurzen Moment, dann schüttelt er den Kopf. «Nein. Ich hoffte schon, dass es Leute gibt, die sich für die Angebote der Kirche interessieren. Aber ich habe mich immer eher als Aussenstation der Kirche in der Arbeitswelt verstanden. Wie eine diplomatische Vertretung, die beiden Seiten von der jeweils anderen berichtet.» Entwicklungen wie den Mitgliederschwund bei den Kantonalkirchen aufzuhalten, sei nicht Ziel des Industriepfarramts gewesen. Missionieren auch nicht.

Wir nähern uns dem Allschwilerplatz. Von weitem sieht man den hohen Turm der ehemaligen Kirche. 2011 fand im Oekolampad der letzte Gottesdienst statt, 2020 kaufte es die Wibrandis Stiftung der evangelisch-reformierten Kirche ab und baute es zu einem Begegnungszentrum um. Ein Bistro, der Quartiertreffpunkt, das Demenzzentrum «Wirrgarten», verschiedene kleinere NGOs und Projekte sind heute da untergebracht.

«In meinem Verständnis bedeuten christliche Werte, auf ein Gegenüber einzugehen und einander zuzuhören.»
Martin Dürr

Ans Gemeindezentrum angebaut ist die ehemalige Pfarrwohnung. Dürr und seine Frau – früher auch noch seine Kinder – wohnen seit Jahren hier. Deshalb haben sie den Wandel im Oekolampad nahe miterlebt, vom kirchlichen Gemeindezentrum zum stiftungsgeführten Begegnungsort.

Für Dürr war eigentlich klar: Wenn die Stiftung hier etwas Neues machen will, werden er und seine Frau Platz machen. Er unterstütze das Konzept der Stiftung für das neue Begegnungszentrum, gab aber eines «zu bedenken», erzählt er, während wir uns im Bistro Kaffee und Wasser bestellen. «Wenn so viele Institutionen neu an einem Ort zusammenkommen, könnte es Spannungen geben.» Zwischen den Institutionen, der Stiftung und der Quartierbevölkerung. Dürr ist überzeugt, dass es hilft, wenn jemand vor Ort lebt und ein Ohr für die Menschen da hat. Also schlug er vor, dass er und seine Frau in ihrer jetzigen Wohnung im angrenzenden Pfarrhaus wohnen bleiben, dafür übernehmen sie Aufgaben fürs Gemeindezentrum. Win-win.

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Im Bistro Rosa im Oekolampad wird Dürr auch in Zukunft häufiger sitzen. (Bild: Michelle Isler)

Dürr wünscht sich, dass die «Kirche der Zukunft», zu den Menschen geht, statt sie zu sich in die Gottesdienste zu holen. So wie es das Industriepfarramt getan hat. Deshalb bedauert er seine Schliessung auch – bei allem Verständnis für die finanzielle Situation. Positiv stimmen ihn aber die Pläne der Wibrandis Stiftung und das «Labor der Begegnung», wie er das Oekolampad einmal umschreibt. «Wenn ich es theologisch ausdrücken müsste», überlegt er und schmunzelt, «würde ich sagen: Der Geist Gottes weht, wo er will, wann er will und so lange er will.» Nach der Schliessung des Pfarramts werde es «andere Wege geben, wie Menschen jemanden finden, der ihnen beistehen und sie begleiten kann». 

Am hohen Turm des Oekolampad läuten die Kirchenglocken. Nicht zum Gottesdienst, sondern eher zum Zmittag. Dürr scheint das recht zu sein.

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Nach einem Masterstudium in Geisteswissenschaften und verschiedenen Wissenschafts- und Kommunikations-Jobs ist Michelle bei Bajour im Journalismus angekommen: Zuerst als Praktikantin, dann als erste Bajour-Trainee (whoop whoop!) und heute als Junior-Redaktorin schreibt sie Porträts mit viel Gespür für ihr Gegenüber und Reportagen – vorzugsweise von Demos und aus den Quartieren. Michelle hat das Basler Gewerbe im Blick und vergräbt sich auch gern mal in grössere Recherchen. 


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