Thomas Kessler: «Der Krieg ist ein Crashkurs in Realitätsnähe»
Die ukrainischen Geflüchteten führen der «wohlstandsverwahrlosten» Schweiz vor Augen, was reale Probleme seien, sagt der ehemalige Stadtentwickler Thomas Kessler. Er wünscht sich weniger Naturromantik und mehr Leidenschaft für Technologie.
Thomas Kessler, Sie sagten dem «Blick», dass wir «hierzulande zu Trägheit und zum Nörgeln» neigen. Die Ukrainer*innen beschreiben sie dagegen als «hungrig auf Bildung und sozialen Aufstieg». Sind Migrant*innen härter im Nehmen als Schweizer*innen?
Das ist eine historische Konstante. Migrieren und Zügeln ist anstrengend, das macht man nur mit gutem Grund. Und im Moment ist das Hauptmotiv der soziale Aufstieg. Nebst der Liebe, der Ausbildung, der Flucht aus Kriegsgebieten und der Lust auf Abenteuer.
Aber die Politik spricht ständig davon, dass Migrant*innenkinder weniger Chancen auf gute Bildung und Jobs haben.
Die Schweiz ist das Land, in dem Migranten wahrscheinlich den steilsten Aufstieg haben. Das ist in der Öffentlichkeit nicht bekannt, aber ich befasse mich damit seit 40 Jahren.
Warum steigen sie hier am Schnellsten auf?
Unsere Schulen sind erstens durchlässig, zweitens ermöglicht das duale Berufssystem auch technikaffinen Kindern einen Aufstieg, und drittens haben wir praktisch Vollbeschäftigung.
Man kann zuerst eine Lehre machen und nachher zum Beispiel noch an eine Fachhochschule, man muss dafür nicht ans Gymnasium.
Und auch die zweijährigen Anlehren geben Gelegenheit für den Aufstieg. Das führt dazu, dass etwa 90 Prozent der Migranten aus europäischen Ländern in der Schweiz im ersten Jahr Arbeit haben. Aber auch bildungsferne Einwanderer aus Kriegsgebieten arbeiten nach zehn Jahren zu über 80 Prozent.
Ist das in unseren Nachbarländern anders?
Ja, in Frankreich gibt es beispielsweise keine vergleichbare Berufslehre, da ist die Arbeitslosigkeit auch bei der dritten Generation noch überdurchschnittlich hoch. Bei uns ist der Beschäftigungsgrad der dritten Generation etwa gleich hoch wie bei der Schweizer Bevölkerung.
Sind Sie sicher? Ich dachte, die Arbeitslosigkeit bei Migrant*innen sei höher. Können Sie alle Zahlen, die Sie zitieren, belegen?
Natürlich. Die Arbeitslosenstatistik enthält auch die Kriegsversehrten, Traumatisierten und ihre Kinder sowie den Familiennachzug, die weniger arbeitsmarkttauglich sind. Wir nehmen im Schnitt mehr Flüchtlinge auf als die meisten europäischen Länder.
Das heisst?
Die Arbeitslosenstatistik sagt wenig über die effektive Bilanz aus, weil die ausländischen Leistungsträger in Forschung, Entwicklung, Bau, Logistik und Dienstleistungen überdurchschnittlich viel beitragen und die Benachteiligten mitfinanzieren. Die Migrantinnen sind also an beiden Enden der gausschen Leistungskurve überdurchschnittlich vertreten. Und umgekehrt sind die Schweizer stark eingemittet.
«Unser Wohlstand wurde stark durch Migranten erarbeitet.»Thomas Kessler
Ukrainische Geflüchtete kommen nicht, weil sie hier auf bessere Jobs hoffen, sondern sie flüchten vor dem Krieg.
Ja, das sind klassische Kriegsflüchtlinge, aber mit einem guten Bildungsrucksack. Sie sind der Schweiz in vielem voraus, vor allem bei IT und in den Naturwissenschaften.
Warum?
Das kommt aus der Sowjetzeit. Damals haben Mädchen und Buben das Gleiche studiert, die gleichen Kitas besucht und der Stellenwert der Naturwissenschaften war sehr hoch. Die Ukraine hat nicht aus Zufall das grösste Flugzeug der Welt gebaut, das jetzt die Russen bombardiert haben…
Warum hat die damalige Sowjetunion die Naturwissenschaften so hoch gewichtet?
Es gehörte zur Tradition, dass man das Industrielle gut betont, aber auch die Hochkultur, wie die klassische Musik, das Ballett etc. Deshalb sieht man Bilder von Frauen, die in Kriegstrümmern Chopin spielen.
Die Sowjetunion hatte eine gute Industrie, trotz Sozialismus und Kommunismus?
Man stand im Wettbewerb mit dem Westen. Und mit dem Sputnik hat man den Westen 1957 sogar überholt. Der Anteil an weiblichen Ingenieurinnen und Atomphysikerinnen war sehr sehr hoch. Im Bildungssystem haben sie seit über 20 Jahren die vollständige Digitalisierung. Die ukrainischen Kinder, die jetzt kommen, wurden schon im Kindsgi per Compi ausgebildet und sind unseren Schülern und Lehrern weit voraus.
Aber die Schweiz hatte auch eine starke Industrie – in Basel erst recht mit der früheren Chemie und der heutigen Pharma. Was unterscheidet uns also von den Ukrainer*innen?
Der Deutschsprachige Raum hat eine starke Romantik hinter sich, mit einem idealisierten Naturbezug und einer Technologieskepsis. Das sieht man auch bei der Berufswahl, die ist heute noch wie im 19. Jahrhundert. Frauen gehen in die Geisteswissenschaften und sozialen Berufe, Männer in die Verwaltung. Die Schweiz ist wie Deutschland und Österreich ein globales Kuriosum an Technikfeindlichkeit, das sehen sie am Gentechmoratorium, dem Verbot des Ausbaus der Atomenergie. Unsere Verfassung hat sogar einen Artikel für die Alternativmedizin, aber keinen für die Schulmedizin.
Gerade in Basel herrscht doch aber ein hoher protestantischer Leistungsethos.
Ja, bei uns in der Schweiz schaffen alle viel. Deshalb haben wir auch die höchsten Wochenarbeitszeiten. Aber wir haben eine beschränkte Leidenschaft für technologische Entwicklung.
«Wir verschlafen die Entwicklung. Für die Lösung der Weltprobleme brauchen wir mehr Physikerinnen und Bauingenieurinnen.»Thomas Kessler
Also sind die Schweizer*innen nicht faul geworden?
Nein, sie sind fleissig und stolz auf ihre Arbeit. Aber unser Wohlstand wurde stark durch Migranten erarbeitet. Der Basler Wohlstand finanziert sich unter anderem über die Life Sciences und ungefähr zwei Drittel der dortigen Angestellten sind Migranten.
Sprechen Sie von Expats?
Der Begriff passt nicht. Der ist negativ konnotiert mit irgendwelchen reichen Amis. Aber in der Pharma arbeiten mehr als hundert Nationen. Und die schaffen hart und haben nicht alle nur Spitzen-Löhne. Grad in den Labors haben wir viele Leute aus Spanien, Italien, aus dem Balkan. Während viele Basler beim Staat als Lehrer und Sozialarbeiter arbeiten. Viel Geld wird von Migranten erwirtschaftet.
Warum bezeichnen Sie die fleissigen Schweizer*innen dann als Nörgler?
Wir beschäftigen uns mit Nebenthemen. Ich spreche von Luxusthemen wie neue Fachstellen und Parkplätze…
Parkplätze sind ein Thema Ihrer Partei sowie der LDP… Sind Sie überhaupt noch Mitglied der FDP? Seit den Nationalratswahlen hat man wenig gehört von Ihnen.
Ja, ich bin schon noch Mitglied. Aber schauen Sie mal, wer von den Freisinnigen bei den Nationalratswahlen am meisten Stimmen gemacht haben: Christian Egeler und ich, das sind die Ökos. Die Parkplätze gehören ins Geschichtsbuch.
Das gehört auch zur Demokratie, dass man über Parkplätze streiten darf.
Ja, aber schauen Sie sich einmal die Schweizer Beziehung zu Europa an.
Die Politik hat das Rahmenabkommen scheitern lassen.
Dann nörgelt die Rechte am Schiedsgerichtsverfahren rum und erzählt irgendwas von fremden Vögten – reine Mythologie. Und die Linke nörgelt an der Meldefrist von vier statt acht Tagen.
Die Meldefrist hätte für Handwerker*innen aus der EU gegolten, die hier arbeiten. Damit möchte man Lohndumping verhindern, damit haben wir in der Region ja einige Erfahrung.
Diese Diskussion ist ein Zeichen von Wohlstandsverlosung. Vier Tage sind im IT-Zeitalter eine Ewigkeit. Den Leuten geht es im Vergleich sehr gut. Eine existenzielle Herausforderung wie der Krieg vor der Haustüre hilft, die Prioritäten wieder richtig zu setzen.
Das klingt zynisch, ein Krieg ist doch nichts Gutes.
Das ist klar, der Krieg ist eine Katastrophe. Doch er gibt einen Crashkurs in Realitätsnähe, weil er sich nicht am Verhandlungstisch entscheiden wird, sondern durch die Schlagkraft der Waffen.
Das sehen wir dann noch. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus wirtschaftlichen Sanktionen und Diplomatie.
Wirtschaft ja, Diplomatie eher nein.
Thomas Kessler, 63, ist ein Mann mit vielen Ideen und wenig Hemmungen, sie kundzutun. Von 1991 bis 1998 prägte Kessler als Basler Drogendelegierter die Drogenpolitik in der ganzen Schweiz. Danach wurde er Integrationsbeauftragter des Kantons und von 2009 bis 2017 leitete er die Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung im Präsidialdepartement. Letzteres endete im Konflikt mit dem damaligen Regierungspräsident Guy Morin, der ihm zwei Jahreslöhne zum Abschied mitgegeben haben soll. Jetzt arbeitet Kessler als Berater und ist unter anderem im publizistischen Ausschuss der CH Media.
Sie kritisieren, dass die Schweizer*innen aus der Atomkraft aussteigen wollen und soziale Berufe oder Geisteswissenschaften wählen. Aber das ist doch auch eine Chance: Wo, wenn nicht in einem reichen Land, kann man es sich leisten, über andere Visionen einer Welt nachzudenken, in der man die Erde nicht mit radioaktivem Material gefährdet?
So herzig. Diese Weltfremdheit gibt es nur in den Zonen der deutschen Romantik. Bei uns ist das der Heidireflex.
Es ist zehn Jahre her, seit mich der letzte Mann in einem Interview als herzig bezeichnet hat.
Ich meine nicht Sie persönlich, ich meine diese Schweizer Haltung, zu meinen, man sei ein Sonderfall und müsse irgendwo nicht mitmachen und könne die unangenehmen Herausforderungen verlagern. In der Ukraine gibt es das nicht, da sind alle realistisch und hart am Schaffen.
Es ist ja nicht so, als ob die Atomenergie so weit in der Entwicklung wäre, dass man eine saubere Lösung für die Abfälle gefunden hätte.
Aber wir suchen in der Schweiz ja gar nicht energisch genug nach Alternativen. Zwar haben wir mit der ETH Zürich und Lausanne zwei Hochschulen, welche die weltführendsten Technologien der Solarenergie und Power To Fuel entwickeln. Aber die grösste Anlage steht nicht hier, sondern in Amsterdam. Wir verschlafen die Entwicklung, obwohl seit 1974 klar ist, dass wir Alternativen zum Öl brauchen. Dabei hätten wir das Geld. Das Problem ist: Wir haben einen Hänger in den Investitionen. Und jetzt müssen wir über Nacht aus dem Gas aussteigen, das Putin uns extra billig verkauft hat, damit wir abhängig werden.
Was schlagen Sie vor?
Unsere Jungen sind leistungsbereit. Aber unsere Pädagogik ist es nicht. Für die Lösung der Weltprobleme brauchen wir mehr Physikerinnen und Bauingenieurinnen. Und die Ukrainerinnen bringen den Standard mit, den wir haben sollten.
Du auch?