Die Katastrophe von Münchenstein

Die Eisenbahnbrücke zwischen Basel und Münchenstein wird bis 2025 erneuert. Ein Einsturz im Jahr 1891 machte die Brücke berühmt – es war das schwerste Eisenbahnunglück der Schweiz. Historiker Georg Kreis schaut zurück.

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    Vorher und nachher – aus «Gartenlaube», Heft 29, S. 498–500.

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    Vorher und nachher – aus «Gartenlaube», Heft 29, S. 498–500.

Die beiden Eisenbahnbrücken von Münchenstein, in unseren Tagen täglich von Pendlern und Pendlerinnen zu Tausenden benutzt, müssen bis 2025 erneuert werden. Das haben die SBB bekanntgegeben. Eine neue Brücke wird die alte 1892-1899 erbaute Doppelbrücke ersetzen. Diese hatte eine noch ältere, als Teil der privaten Jura-Simplon-Bahn erbaute und Basel mit Delsberg verbindende Brücke aus dem Jahr 1874 ersetzt. Denn die Brücke, obwohl noch nicht so alt, war 1891 unter tragischen Umständen zusammengebrochen.

Wie publizistische Reaktionen auf die aktuelle Mitteilung der SBB zeigen, weckt die Ankündigung der Brückenerneuerung unweigerlich Erinnerungen an den Einsturz der ersten Brücke vom 14. Juni 1891. Ein Bezirksgesangsfest, das an jenem «leuchtenden» Sonntag in Münchenstein abgehalten wurde, lockte in grosser Zahl Basler Bevölkerung an. Der Regionalzug Nr. 174, der um 14.20 Uhr den Centralbahnhof verliess, war mit weit über 500 Passagieren besetzt. Es gab auch Personen, die keinen Platz fanden und so glücklicherweise nicht Opfer des wenige Minute später eintretenden Unglück wurden.

Wegen der starken Nachfrage waren zwei zusätzliche Wagen angehängt und deswegen – was fatal war - eine zusätzliche schwere Lokomotive vorgespannt worden. Die durch eine frühere Überschwemmung bereits in Mitleidenschaft gezogene Brücke brach unter der Last des Zuges auseinander. Während in der Dorfkirche von Münchenstein um die Wette gesungen wurde, stürzten beim Dorfeingang die beiden Lokomotiven und vier Personenwagen in die Birs, die unglücklicherweise gerade wieder einmal Hochwasser führte. 73 Menschen starben, unter ihnen auch Kinder, über 170 Opfer erlitten zum Teil schwere Verletzungen.

Ein Bild der Verwüstung: Eisenbahnunglück in Münchenstein, im Juni 1891.
Die Tragödie von Münchenstein

Am 14. Juni 1891 ereignete sich das schwerste Eisenbahnunglück der Schweiz. Eine von Gustave Eiffel erbaute Eisenbahnbrücke der Jura-Simplon-Bahn stürzte kurz hinter Basel unter der Last eines voll besetzten Ausflugszugs ein.

Zum Blog des Schweizerischen Nationalmuseums

Im Extrablatt der «National-Zeitung» berichtete ein Augenzeuge: «Es war ein fürchterliches Bild, das sich den herbeigeeilten Festbesuchern darbot. Einerseits dieses Zischen und Brodeln der in der wilden Birs liegenden Lokomotiven, andererseits Hilferufe und Stöhnen zwischen der in zertrümmerten Wagen eingeklemmten Passagiere.» Die meisten Opfer starben durch Ertrinken.

Die Bergungsarbeit erwies sich als schwierig und wurde durch die vielen herbeigeströmten Schaulustigen erschwert. In der Stadt wurden Stimmen laut, die den Baselbietern vorwarfen, mit den Rettungsarbeiten überfordert zu sein. Die Presse berichtete, es habe keine schweren Krane gegeben, um die zertrümmerten Wagen hochzuheben, und auch keine flexiblen Schneidbrenner, so dass die eingeklemmten Opfer oft mit Hammer und Meissel befreit werden mussten.

Das Eisenbahnunglück von Münchenstein lockte viele Gaffer*innen an.
Das Eisenbahnunglück von Münchenstein lockte viele Gaffer*innen an. (Bild: Schweizerisches Nationalmuseum)

In einigen Fällen sei den Ärzten nichts anderes übriggeblieben, als mitten in den Trümmern Gliedmassen zu amputieren, um die Leute überhaupt freizubekommen. Am 22. Juni 1891 kam das Unglück im Grossen Rat eingehend zur Sprache. Die Katastrophe von Münchenstein ging als bisher grösstes Eisenbahnunglück in die Schweizer Geschichte ein und wurde auch international beachtet. 

Technische Abklärungen

Professorale Gutachten der ETH kamen zum Schluss, dass das verwendete Material der Brücke nicht die erforderliche Qualität hatte und mindestens ein Wiederlager der Brücke unterspült war und die vorgenommenen Verstärkungsmassnahmen von 1890 ungenügend waren. In der Folge erliess der Bundesrat eine Brückenverordnung, welche die allgemeine Revision und Erprobung sämtlicher Brücken und ihrer Stützwerke anordnete. Viele Eisenbahnbrücken mussten aufgerüstet werden.

Das Unglück setzte zwei Arten von Kritiken frei. Die eine Kritik richtet sich gegen die unkontrollierte Expansion der Eisenbahnen. In der NZZ war zu lesen: «Es ist ja bekannt, dass diese Bahn in geldarmer Zeit mit allzu sparsamen Mitteln als Lokalbahn gebaut wurde und niemand damals ahnen konnte, dass sie je eine grosse internationale Linie werden würde.» Die Forderung nach Verstaatlichung der Privatbahnen erhielt nach dieser Katastrophe Auftrieb.

Das Unglück von Münchenstein bildete einen günstigen Ausgangspunkt für den 1898 in einer Volksabstimmung mit 68 Prozent angenommenen Rückkauf der Privatbahnen durch den Bund und damit der Gründung der SBB im Jahr 1902. Von Bundesbahnen erwartete man, dass sie grössere Sicherheit gewährleisten würden.

Der Einsturz der Brücke war Anlass für eine umfassende Revision aller Metallviadukte in der Schweiz.
Der Einsturz der Brücke war Anlass für eine umfassende Revision aller Metallviadukte in der Schweiz. (Bild: Schweizerisches Nationalmuseum)

Die andere Kritik war grundsätzlicher Art und sah in der Katastrophe vom 14. Juni 1891 eine Bestätigung derjenigen Stimmen, die stets vor den Gefahren des technischen Fortschritts gewarnt hatten. Sie deutete die Katastrophe als Menetekel, als fälliges Mahnmal gegen die Hybris der Technologiegläubigkeit. Dem wurde in zeitgenössischen Kommentaren wurde entgegengehalten, dass es eben keine vollständige Sicherheit gebe: «Menschenwerk ist eben Stückwerk und wird es auch bleiben.»

Die unvermeidliche Schuldfrage

Wie zu erwarten war, setzte gleich nach dem Unglück die Erörterung der Schuldfrage ein. War es zu einer fahrlässigen Überquerung der Brücke gekommen? Oder war die Brücke schlecht gebaut und nachlässig unterhalten worden? Die Berichterstattung betonte, dass der Zug seine Geschwindigkeit vor der Brücke auf 40km/h reduziert habe, wobei der Bremsvorgang allerdings den Druck auf die Schiene verstärkt haben könnte. Den Verantwortlichen der Jura-Simplon-Bahn wurde vorgeworfen, mit vernachlässigtem Unterhalt und mit der Ausweitung der Zugskomposition Profitstreben über die Sicherheit der Fahrgäste gestellt zu haben.

Die Schuldzuweisungen waren durch den deutsch-französischen Gegensatz geprägt. Mit der Betonung, dass die Brücke vom damals noch jungen Unternehmen des berühmten Ingenieurs Gustave Eiffel (1832–1923) entworfen sei, kam ein Teil der Verantwortung auf die französische Seite zu liegen; und mit der Betonung, dass das Metall mit fragwürdiger Qualität aus Deutschland stamme, auf die Gegenseite.

Für die Realisierung des Bauwerks war aber nicht Eiffel verantwortlich. Demnach erscheint der zu Eiffels 100. Todestag vom Thuner Schriftsteller Stefan Haenni in diesen Tagen vorgelegte und das Münchensteiner Drama thematisierende Kriminalroman «Eiffels Schuld» mit einem irreführenden Titel.

Georg Kreis
Zum Autor

Georg Kreis ist Historiker und emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Universität Basel. Bis Mitte 2011 leitete er das Europainstitut Basel und bis Ende 2011 präsidierte er die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR).

Das Basler Zivilgericht stellte grobe Fahrlässigkeit der Betriebsgesellschaft fest. Das Appellationsgericht sah die Verantwortung bei der mangelhaft durchgeführten Brückenreparatur nach dem früheren Hochwasserschaden. Das Bundesgericht entlastete schliesslich die Bahn. Direkt betroffene Opfer und Hinterbliebene erhielten bloss bescheidene Entschädigungen.

Der ansonsten zurückhaltende Basler Historiker Jakob Burckhardt, bereits zuvor alles andere als ein Freund der Eisenbahnen, war über den Rechtsstreit derart empört, dass er dem Anwalt, der gegen die Klage der Basler Opfer die Interessen der Eisenbahngesellschaft vertrat, vor die Füsse spuckte, als er ihm in der Freien Strasse begegnet. Dabei soll er seinem Begleiter gesagt haben: «Das hätte meinetwegen ein Aargauer tun können, oder ein Solothurner, aber nicht ein Basler!»

Zwei heute weitgehend unbeachtet bleibende Gedenkobelisken erinnern noch immer auf den Friedhöfen von Münchenstein und Reinach (der eine von der Jura-Simplon-Bahn gestiftet) an die Toten von 1891.

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