Die Teuerung frisst ein Loch ins Portemonnaie
Im Lebensmittelbereich ist die Jahresteuerung um 6,5 Prozent gestiegen, so viel wie seit Jahren nicht mehr. Darunter leiden Menschen mit knappem Budget am meisten. Zudem wird das Angebot an günstiger Ware knapper.
Samstagmorgen an der Reinacherstrasse beim Dreispitz. Schon vor 11 Uhr steht eine Gruppe Menschen vor dem Eingang der Lebensmittelabgabestelle der Hilfsorganisation «Gärngschee – Basel hilft» und wartet auf Einlass. Bald ist es so weit. Auch Renate Hecht steht wartend vor der Tür, sie ist eine der regelmässigen Kund*innen.
Wenn die Preise für Lebensmittel steigen, merkt Hecht das besonders. Geld ist bei ihr knapp, sie bezieht IV und Ergänzungsleistungen und lebt am Existenzminimum. Die Lebensmittelabgabe hilft ihr, für ein paar Tage durchzukommen. Trotzdem ist sie an diesem Vormittag ganz aufgestellt. «Wir sind eine Fahrgemeinschaft von mehreren Leuten und kommen aus dem Dreirosenquartier. Sehr praktisch.» Ihre gute Laune lässt vergessen, dass sie von einigen schweren Krankheiten gebeutelt war, wegen ihrer kaputten Knie kann sie nicht mehr arbeiten.
Die rund zehn freiwilligen Gärngschee-Helferinnen – ohne sie geht es nicht – haben im kleinen, zweckmässigen Raum ein stattliches Angebot an Früchten und Gemüse aufgebaut. Renate freut’s: Es ist gratis zu haben.
Wer hier und an vielen anderen Abgabestellen etwas bekommen möchte, muss die Caritas-Karte (vgl. Kasten) vorzeigen und überdies bei «Gärngschee» angemeldet sein. Geliefert wird die Ware von der «Schweizer Tafel». Seit Kurzem gibt es hier ein grosses Aber: Wegen des Ansturms musste Gärngschee schweren Herzens einen Aufnahmestopp für Neukund*innen verfügen.
Für den Einkauf im Caritas-Markt und den Besuch von manchen Abgabestellen braucht es eine spezielle Einkaufskarte, die Caritas-Karte. Sie wird von öffentlichen Sozialämtern, kirchlichen und privaten Sozialinstitutionen sowie den regionalen Caritas-Organisationen ausgestellt. Zum Einkauf berechtigt sind finanziell benachteiligte Menschen, die am oder unter dem Existenzminimum leben, Sozialhilfe und/oder Ergänzungsleistungen beziehen oder Menschen, die sich in einer Schuldensanierung befinden. Die Karte ist persönlich und muss jährlich erneuert werden.
Alle von Bajour kontaktierten sozialen Organisationen sprechen von rasant steigender Nachfrage nach Günstigst- oder Gratisware. Und auch auf der Gärngschee-Facebookseite häufen sich zum Monatsende in letzter Zeit Posts, in denen Menschen anonym um Geld bitten. Sie möchten sich kleine Beträge leihen, um das Nötigste zu kaufen, wie Brot oder Windeln.
Woran liegt das? Ein wichtiger Faktor ist die Inflation. Sie ist im Verlauf des vergangenen Jahres stark gestiegen. In Basel lag sie im Februar bei 3,2 Prozent. «Teurer wurden genau jene Komponenten im Teuerungsindex, auf die man nicht verzichten kann, nämlich Lebensmittel und Dienstleistungen», sagt der Ökonom Alexis Körber von BAK Economics in Basel. «Nahrungsmittel beispielsweise wurden in den vergangenen 12 Monaten um 6,5 Prozent teurer.» Menschen, die ohnehin mit wenig Geld auskommen müssen, spüren die Teuerung unmittelbar im Portemonnaie. Schon vergangenen Sommer sind etwa Butter und Margarine massiv teurer geworden und auch die explodierenden Strompreise treiben die Inflation in die Höhe
Die Jahresteuerung ist im Februar in Basel mit 3,2 Prozent nochmals angestiegen, nachdem sie sich bereits in den vergangenen Monaten knapp unter drei Prozent bewegte. So hoch war sie zuletzt im Juli 2008. Es ist noch mehr in der Pipeline: 2023 werden die Heizkosten steigen, der Strom wird sogar massiv teurer. Gleichzeitig steigt das Zinsniveau, was irgendwann auf die Mieten durchschlagen wird. Nahrungsmittel dürften über das Gesamtjahr 2023 um 3,6 Prozent aufschlagen, schätzt die BAK.
Ursache und Hauptgrund für die derzeitige Teuerungswelle sind vorab der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dadurch verschärfte Energiekrise sowie, im Nahrungsmittelbereich, der Lieferausfall des ukrainischen Getreides auf den internationalen Märkten.
In der Sozialhilfe Basel-Stadt wurde zum Jahresbeginn der sogenannte Grundbedarf für eine Einzelperson von monatlich 1006 auf 1031 Franken erhöht. Mit einem Anstieg von 25 Franken oder knapp 2,5 Prozent ist freilich weniger als die Hälfte der Lebensmittelteuerung abgedeckt.
Auch die Caritas-Märkte, wo Armutsbetroffene Produkte des täglichen Bedarfs zu stark ermässigten Preisen kaufen können, verzeichnen einen starken Zustrom. Im vergangenen Jahr stiegen in den schweizweit 24 Läden die Verkäufe um 33 Prozent auf 1,06 Millionen, während der Umsatz um 22 Prozent auf 16,1 Millionen Franken stieg. Ein paar Beispiele: Die Caritas-Märkte haben im vergangenen Jahr schweizweit unter anderem rund 1500 Tonnen Früchte und Gemüse verkauft (+30%), eine Million Eier (+47%) und 150 Tonnen Teigwaren (+110%).
Die Kundschaft sei sehr preisempfindlich, bestätigt die Caritas. «Sorgen bereiten den Menschen mit knappem Budget aktuell insbesondere die Teuerung sowie die erhöhten Krankenkassenprämien und die kommende Nebenkostenabrechnung», sagt Sprecher Niels Jost.
Deutschland im Vergleich nicht mehr so billig
Urs Möschli, Caritas-Marktleiter in der Ochsengasse in Basel, ergänzt: «Wir versuchen im Schnitt 50 Prozent günstiger zu sein als der ‹normale› Detailhandel. Aber wir schaffen das nicht immer», sagt er. Die Nähe Basels zur deutschen Grenze macht diese Caritas-Verkaufsstelle zu einem Spezialfall.
Viele Armutsbetroffene seien früher nicht unbedingt in die Ochsengasse gekommen, sondern nach Weil am Rhein zum Einkaufen gegangen, weil die Lebensmittel dort noch günstiger waren. In Deutschland ist die Lebensmittelteuerung aber auf 20 Prozent hochgeschnellt, sodass die Preisunterschiede zur Schweiz geschrumpft sind. Der Caritas-Markt wurde dadurch attraktiver. Gleichwohl muss die Caritas längerfristig die steigenden Beschaffungspreise weitergeben.
Auch bei den Anfragen für Sozial- und Schuldenberatungen verzeichnete die Caritas einen Anstieg. Besonders betroffen von Verschuldung seien sogenannte Working Poor, die trotz Arbeit arm sind. Sie haben häufig weder Anspruch auf Sozialhilfe noch auf Ergänzungsleistungen. Leider kämen sie oftmals zu spät zu einer Beratung, heisst es bei Caritas.
Nachfrage überflügelt das Angebot
Noch bis vor rund einem Jahr seien Angebot und Nachfrage bei den Lebensmittelabgabgestellen noch mehr oder weniger im Gleichgewicht gewesen. Doch durch den Ukrainekrieg und die Konflikte in Syrien und Afghanistan hat die Zahl der Geflüchteten und Bedürftigen in der Region zugenommen, während das Angebot tendenziell eher abnahm.
«Bei unseren rund 24 Abgabestellen in der Region Nordwestschweiz warten heute etwa doppelt so viele Menschen auf Ware. Aber das Angebot konnten wir nicht einfach erhöhen», sagt Michele Hostettler, Regionalleiter der Schweizer Tafel in Pratteln. «Wir sind daran, weitere regionale Filialen von Grossverteilern in unser Bezugsnetz einzubeziehen. Aber so schnell geht das nicht. Da kommen vielleicht zwei bis drei zusätzliche Kisten pro Filiale dazu.» Das Ziel sei, im dritten Quartal dieses Jahres die entstandenen Lücken zu drei Viertel zu schliessen.
Was das Angebot zusätzlich knapp macht: Den Grossverteilern gelingt es allmählich, Food Waste zu vermeiden. Eigentlich gut so, aber die Beschaffung wird dadurch noch schwieriger. Ausserdem: Milch, Fleisch und Brot kommen heute nicht oder kaum mehr in die Tüten der Wohltätigkeitsorganisationen. Bei Fleisch müssen die Ablaufdaten strikte eingehalten werden und darf nicht einmal mehr verschenkt werden.
Menschen wie Renate Hecht haben es deshalb immer schwerer, an Lebensmittelspenden zu kommen, obwohl der Bedarf steigt. Die aktuelle Entwicklung zeigt die systemischen Grenzen der Nahrungsmittelhilfe bei der Armutsbekämpfung auf.
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