Die Welt nach Corona
Wie geht unser Leben nach der Pandemie weiter? Virolog*innen antworten mit Kurven. Politiker*innen warnen. Ökonom*innen sehen schwarz. Ich habe die Fachleute für das Ende von Geschichten gefragt: Schriftsteller*innen.
Noch ist Januar. Es ist dunkel und kalt. Alles, was Spass macht, ist geschlossen und die Bürokrat*innen ziehen alle Schrauben an, von denen sie denken, sie seien noch zu locker. In Basel sind diese Woche die Museumsdirektor*innen auf die Barrikaden gestiegen. «Kultur und kulturelle Bildung wieder zugänglich machen. Museums-Lockdown beenden. Für das geistige Wohl aller!», forderten sie in einer Petition an den Bundesrat. Man möge doch, wenn es denn um Lockerungen gehe, früh auch an die Museen denken.
Doch von Lockerungen ist derzeit nicht die Rede. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, dass allenthalben die Schrauben angezogen werden. Im Hinblick auf die mutierte Virusvariante, die um einiges ansteckender ist, mag das ja verständlich sein. Ich habe aber auch den Eindruck, dass sich Beamte, Behörden, ja unsere Gesellschaft über das Schliessen hinaus keine Gedanken macht. Wir setzen derzeit alles auf die Impfung (und müssen feststellen, dass die Schweiz bei den Bestellungen zu sparsam und zu vorsichtig war).
Wir werden mit dem Virus leben müssen
Aber darüber hinaus höre ich wenig Visionen, wie denn die Zukunft aussehen soll. Als am 8. Mai 1945 in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende war, läuteten in der ganzen Schweiz die Glocken, die Menschen umarmten sich und nahmen den Frieden in Angriff. Bei der Pandemie wird es einen solchen Moment nicht geben. Dieses Virus wird nicht einfach verschwinden. Wir werden damit leben müssen – und das heisst auch: Wir werden uns überlegen müssen, wie wir damit leben wollen.
Genau das findet aber nicht statt: Unsere Politik und die Verwaltung ist auf Eindämmen und Einschränken fokussiert. Es wird aber bald darum gehen, eine neue Normalität zu gestalten. Wir müssen jetzt beginnen, darüber nachzudenken, wie unsere Welt dann aussehen soll. Der Aufschrei der Basler Museen sollte deshalb ein Weckruf sein.
Wie endet die Geschichte?
Denken wir also über die Zukunft nach. Wie könnte das Ende dieser Pandemie vor sich gehen? Ich habe mich gefragt, mit wem ich denn darüber reden könnte. Wenn wir Virolog*innen fragen, antworten sie mit Kurven. Ärzt*innen geben Diagnosen. Politiker warnen. Ökonom*innen sehen schwarz. Ich habe mich deshalb an Spezialist*innen für das Ende von Geschichten gewendet: an Schriftsteller*innen. Wer sonst wäre es sich gewohnt, auf wenige Zeilen das Ende einer Geschichte zu skizzieren?
Ich habe also Schweizer Autor*innen gefragt, die sich gewohnt sind, Plots zu entwerfen. Ein Plot, das ist das Gerüst einer Geschichte, etwa eines Krimis. Ich habe deshalb Schweizer Krimiautor*innen gebeten, mir ein kleines Exposé zu schreiben, wie diese Pandemie-Story enden soll.
Die Berner Krimiautorin Christine Brand, der Basler Romancier Claude Cueni, Wahlzürcher Michael Theurillat und der Historiker und Autor Martin Widmer haben mir mit Kürzestgeschichten geantwortet. Mit Christine Brand (über eine wackelige Leitung nach Sansibar) und mit Michael Theurillat habe ich darüber hinaus auch noch Video-Interviews geführt.
Hier kannst du die Visionen der Schriftsteller*innen Christine Brand, Claude Cueni, Michael Theurillat und Martin Widmer nachlesen.
Interessant an den Kurzgeschichten ist, dass der Autor, dem es gesundheitlich am schlechtesten geht, am zuversichtlichsten ist. Claude Cueni schreibt, er gehe davon aus, dass wir «die aktuelle Pandemie dieses oder nächstes Jahr erfolgreich beenden werden.» Allerdings wird es nicht die letzte Pandemie sein. Er schreibt, wir würden «vermehrt mit sogenannten Zoonosen konfrontiert sein, also mit Viren, die vom Tier zum Menschen überspringen. Auch im auftauenden Permafrost werden Viren und Bakterien freigelegt, die für unser Immunsystem neuartig sind.»
Weniger positiv sieht Historiker Martin Widmer die Zukunft: Er stellt die Beamten ins Zentrum seiner Kürzestgeschichte. Bei ihm haben die Beamten Angst – und zwar Angst vor der Angst der Menschen.
Optimismus im Gefängnis
Christine Brand hat mit einer kleinen Dystopie geantwortet: In ihrer Geschichte zerfällt die Welt in zwei Teile. Die Geimpften, die wieder glücklich leben, sich aber bei jedem Kratzen im Hals eine Maske überziehen, und die Ungeimpften, die Coronaleugner*innen und Maskenverweigerer*innen, die sich in überwachte Ghettos zurückgezogen haben.
Sie selbst lebt auf Sansibar fast wie vor der Corona-Zeit. Bloss die Kreativität, die habe gelitten, sagte sie mir im Videointerview. Als sie im Herbst aus der Schweiz zurück nach Sansibar gereist sei, hatte sie Schwierigkeiten: «Als ich angekommen war, hatte ich zuerst Mühe, mich in dieser maskenfreien Welt zu bewegen. Ich habe mich fast nicht rausgetraut im ersten Moment.» Und dann habe sie gemerkt, wie sich eine grosse Anspannung löste. «Ich habe das richtig körperlich gespürt.»
In der Schweiz müsse man immer vorsichtig sein, immer aufpassen. «Man ist immer in einer Alarmstimmung». «Ich stehe hinter allen Massnahmen und doch kommt es mir vor, als würden die Menschen in der Schweiz sehr eingeschränkt leben, wie in einem Gefängnis.» Das ganze Gespräch mit Christine Brand (über eine ziemlich wackelige Leitung zwischen Sansibar und Basel) gibts hier auf Youtube:
Die Geschichte von Michael Theurillats dreht sich um einen kleinen Beamten, der plötzlich wichtig wird. Das spricht er auch im Interview an: «Es wurde sehr vielen Menschen durch Corona plötzlich Bedeutung verliehen», sagt er. Man hört ihnen zu, sie haben etwas zu sagen. «Lokalpolitiker von absoluter Unbedeutung sind plötzlich täglich in den Medien – was macht das mit diesen Menschen?»
Theurillat sagt, es gebe keinen Weg zurück zur Normalität: «Wir werden den Weg zu einer neuen Normalität finden müssen.» Die Macht der unbedeutenden Beamten, die Diskrepanz der apokalyptischen Voraussagen der Taskforce und die banale alltägliche Gefährlichkeit des Virus – das ganze Interview mit Michael Theurillat gibts hier auf Youtube:
Was lernen wir daraus? Nun: Das Schöne an Kultur ist, dass sie nicht immer nützen muss. Deshalb müssen wir auch nicht unbedingt etwas Konkretes aus den Geschichten lernen. Das Erleben im Lesen kann schon genug sein. Als Essayist kann ich es aber nicht lassen, drei Schlussfolgerungen zu ziehen:
Wir können im Sommer nicht einfach die Glocken läuten und unser altes Leben ist wieder da. Es wird eine neue Normalität geben. Eine, die wir neu aushandeln und ausgestalten müssen. Und zwar, bevor sie beginnt. Deshalb wäre es wichtig, sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen.
Verbieten ist einfacher als loszulassen. Wer eine Notbremsung einleitet und voll auf die Bremse steht, muss sich nur um das Anhalten kümmern. Danach wieder langsam loszufahren, ist schwieriger. Man muss nämlich wissen, wohin. Das braucht Gestaltungswille. Den sehe ich derzeit nicht.
Im Kontakt mit «meinen» Autor*innen wurde mir bewusst, wie sehr mir die Kultur und die kulturelle Auseinandersetzung fehlt. Nein, Kultur ist nicht bloss die Glasur auf dem Kuchen. Die Kultur ist die Hefe in der Gesellschaft, die das Mehl erst in Brot verwandelt. Sie lässt sich nicht in Excel-Sheets einsperren und in Franken messen – aber ohne Kultur bleibt die Gesellschaft fades Mehl.
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Matthias Zehnder ist Bajour-Mitgründer und -präsident. Seinen Wochenkommentar veröffentlicht er auch auf seiner Website matthiaszehnder.ch. Hier kannst du ihn abonnieren und hier unterstützen.