«Ich würde heute keine Rastalocken mehr tragen»
Jetzt dürfen weisse Schweizer*innen nicht mal mehr Rastalocken tragen, heisst es von allen Seiten. Dabei wird vergessen: Für viele Schwarze Menschen sind Rastas ein Symbol des Protests gegen die Unterdrückung durch die Mehrheitsgesellschaft, kritisieren Tänzerin Anna Chiedza Spörri und Reggae-Kenner Lukie Wyniger. Ein Interview mit viel Einordnung und Medienkritik.
Es geht nicht nur um Reggae-Musik, nicht nur um Kultur und nicht um bunte Kleider. Es geht in der Diskussion, ausgehend von der Berner Brasserie Lorraine und dem abgebrochenen Konzert vor allem um die Haare. Genauer geht es um Haare, die man zu langen Rastalocken, auch Dreadlocks, Locks genannt, wachsen lässt, und um die Frage, ob man diese Haartracht als ein gesellschaftliches und religiöses Symbol anerkennt.
Nichts anderes sind Rastalocken im Reggae-Umfeld: Das Symbol religiöser Zugehörigkeit für Rastafaris und der zopfgewordene Ausdruck des Protests gegen die Unterdrückung der Schwarzen Menschen durch die Mehrheitsgesellschaft. Es geht also darum, wie unsere Gesellschaft mit einem solchen Symbol umgeht und vor allem, ob sie einer Kultur zugesteht, so ein Symbol überhaupt haben zu dürfen.
Um das von Konzertbesuchern der Brasserie Lorraine geäusserte «Unwohlsein», über das sich alle im Nachhinein so lustig gemacht haben, in einen objektiveren Zusammenhang zu stellen, sei ein Vergleich erlaubt, wie wir inzwischen mit breit anerkannten religiösen Symbolen umgehen.
Wenn in Bern, statt blonder Rastazopfträger fünf sympathische deutsche Jungs auf der Bühne gestanden wären, die voller Begeisterung und Wohlwollen jüdische Klezmer-Musik gemacht hätten, hätten einige Menschen vielleicht auch keine Freude*. Und wenn sich die Jungs, als weiteres Zeichen der Verständigung und mit besten Absichten, noch eine Kippa auf den Hinterkopf gesetzt hätten, würde niemand sich wundern, wenn aus dem Publikum jemand käme und «Unwohlsein» äussern würde. Wir erkennen also – hoffentlich – die Kippa als religiöses Symbol an und gehen entsprechend sorgfältig und respektvoll damit um. Bei Rastalocken ist das offenbar anders. Sei es aus Unwissen, sei es deshalb, dass man sich enorm schwer tut, Minderheiten religiöse Symbole zuzugestehen, sei es aus latentem Rassismus.
Statt der durchaus interessanten Frage, wie wir mit solchen Symbolen umgehen und wem wir sie zugestehen, wird jetzt verallgemeinert und pauschalisiert und selbst die linksliberalsten Geister überbieten sich in Ignoranz, können mal endlich den inneren SVPler rauslassen, über die woke Jugend polemisieren und über angebliche Kultur- und Denkverbote sinnieren. Darf man jetzt noch The Clash hören oder Sushi essen?
Wir von Bajour fragten uns: Wie sind wir in der Diskussion von einem religiösen Symbol, wie den Dreadlocks, plötzlich beim Sushi gelandet?
Also haben wir nach Personen gesucht, die sich mit alten und neuen Zöpfen und mit erlebtem Rassismus auskennen. Gefunden haben wir Anna Chiedza Spörri, Tänzerin, Choreographin und Aktivistin in Bern (sie hat auch schon im Theater Basel getanzt). Und Lukie Wyniger, langjähriger Moderator des Reggae Specials und einst selbst weisser Rastaträger – und FCB-Briefing-Schreiber bei Bajour.
Lukie Wyniger, Sie sind weiss, grosser Reggae-Freund und haben selbst mal Rastas gehabt.
Lukie Wyniger: Ich habe was ähnliches gemacht wie die Lauwarm-Jungs. Ich habe gerappt und gekifft und Dreadlocks getragen in einer nicht wirklich guten Band in Pfeffingen im Baselbiet vor 30 Jahren. Ich habe wohl dieselben Fehler gemacht wie die Berner Band. Heute würde ich als weisser keine Rastalocken mehr tragen. Aber diese Fehler soll man machen dürfen, solange man bereit ist, daran zu wachsen
Anna Chiedza Spörri: Absolut. Ich begrüsse eine offene Fehlerkultur, solange eine kritische Selbstreflektion folgt.
Und warum würden Sie heute keine Dreadlocks mehr tragen?
Lukie Wyniger: Rastafari ist eine Glaubensrichtung, die viel mit dem Christentum zu tun, sich aber losgelöst hat vom Kolonialistenprotestantismus**, den England nach Jamaika gebracht hat. Das war eine Gegenbewegung von Schwarzen Menschen. Sie haben nicht Jesus, sondern Haile Selassie, ein ehemaliges (auch umstrittenes) Staatsoberhaupt aus Äthiopien. Und ein Symbol dieser Religion sind Dreadlocks. Gerade wer im Reggae-Umfeld tätig ist, muss wissen, dass Dreadlocks mehr sind als eine mal mehr, mal weniger trendige Frisur. Ich würde aber auch sonst keine Symbole irgendeiner Glaubensrichtung tragen.
Anna Chiedza Spörri: Sorry, gewisse Menschen sagen Locks, nicht mehr Dreadlocks, weil Dread vom Wort «Furcht» kommt. Und grundsätzlich ist es so, dass die Haare von Schwarzen Menschen politisch sind. Solange sie aufgrund ihrer Haare diskriminiert werden, sollten weisse Menschen es sich nicht herausnehmen dürfen.
Lukie Wyniger: Ja, jetzt gehen wir schon sehr tief in die Diskussion hinein. 90 Prozent der jamaikanischen Bevölkerung sind Christen, nur etwa 5 Prozent bezeichnen sich als Rastafari. Und sie leben extrem unterschiedlich. Die ganz Strikten leben beispielsweise ohne Fleisch in den Hügeln, dürfen keine Musik machen ausser Trommeln. Andere tragen auch Locks, weil sie es cool finden, als Fashion Element. Und weil sie merken, das kommt in Europa oder den USA gut an und lässt sich verkaufen. Das wird übrigens in Jamaica auch diskutiert: Ist das jetzt ein richtiger Rasta oder ein fake Dread?
... ist Tänzerin, Choreographin und Aktivistin in Bern und hat auch schon im Theater Basel getanzt.
Also ist die Frisur nicht mehr nur ein Symbol gegen weisse Unterdrückung?
Lukie Wyniger: Das ist ein Ausdruck. Aber sie ist auch ein Symbol der Rastafari. Diese tragen sie unter einem Turban – sie sind gar nicht zu sehen.
Anna Chiedza Spörri: Für viele Schwarze Menschen sind die Locks ein Zeichen von Empowerment und der Rebellion gegen die Schönheitsideale der weissen Mehrheitsgesellschaft. Deshalb müssen wir über Unterdrückung in unserem System und unseren Strukturen reden.
Lukie Wyniger: Und da bin ich wieder bei mir vor 30 Jahren, als ich kiffte und das Schulsystem scheisse fand – ich empfand meine Locks auch als Ausdruck von Rebellion. Aber halt eher in einer punkigen Hippie-Haltung.
Anna Chiedza Spörri: Der Unterschied ist, dass es bei dir als cool gilt. Bei mir interpretieren weisse Menschen die Locks als Zeichen von, «die pflegt sich nicht gut, die ist unprofessionell, das ist nicht ästhetisch». Eine Freundin von mir ist kürzlich mit Zöpfli arbeiten gegangen, und die Chefin sagte, sie werde sie beim Temporärbüro melden, weil sie ungepflegt wirke.
Lukie Wyniger: Genauso habe ich das später auch erlebt; Ich machte als junger Mann mit Locks ein Praktikum in einer Werbeagentur. Die grossen Brands fanden mich super, weil sie dachten, der weiss, was die Jungen cool finden. Zum Glück fielen mir dann die Haare aus. Und je mehr ich mich auseinandersetzte, desto mehr merkte ich: Das geht nicht. Wenn man diese Auseinandersetzung aber führt, darf man auch als weisser, privilegierter 45-Jähriger Reggae machen. Das darf David Rodigan in England machen, der viel verdient als bekannter Reggae-DJ und Radiomacher.
Warum darf der das?
Lukie Wyniger: Rodigan ist akzeptiert in Jamaika, weil er nicht nur von der Reggae-Kultur profitiert, sondern seine Position auch nutzt, um jamaikanischen Künstlern eine Plattform zu bieten. Und weil er ein enormes Wissen hat, die Kultur immer respektvoll behandelt und sich selbst immer wieder auch hinterfragt. Dann ist es ein Zusammen und nicht ein Gegeneinander.
Wie bietet man so eine Plattform?
Lukie Wyniger: Ich habe Jahre lang das Reggae Special auf SRF 3 moderiert – das war die grösste Plattform für Reggae in der Schweiz. Ich habe immer wieder Künstler*innen aus Jamaika besucht, habe eigenes Geld für Studioaufnahmen dieser Künstler*innen ausgegeben, damit sie Platten aufnehmen und in der Schweiz spielen können. Darum geht es. Aber du findest auch immer einen Schwarzen Künstler, der es easy findet, wenn weisse mit Dreadlocks rumrennen. Oder extreme Rastafari, die es überhaupt nicht okay finden.
... ist langjähriger Moderator des Reggae Specials und einst selbst weisser Rastaträger – und FCB-Briefing-Schreiber bei Bajour.
Mir scheint, die Brasserie Lorraine und die Band Lauwarm werden jetzt in einer rasend schnellen Empörungswelle über kulturelle Aneignung und Cancel Culture aufgerieben. Oder teilen Sie die Empörung?
Lukie Wyniger: Ich finde, junge Musiker dürfen diese Fehler machen. Ich wünschte mir, ein Schwarzer Künstler wie Cali P hätte der Band mal gesagt, sie sollen sich mal hinterfragen. Eine interne Diskussion wäre zielführender gewesen als diese öffentliche Empörungswelle jetzt.
Anna Chiedza Spörri: Ich stimme gar nicht zu, dass Cali P als Schwarzer Musiker die Band hätte aufklären müssen. Ich habe genug davon, als Schwarze Person weisse Menschen zu informieren. Als Verbündete in der antirassistischen Arbeit ist es auch die Verantwortung des Konzertveranstalters und der Künstler*innen, sich mit den Locks der weissen Band und deren Umgang mit Symbolik auseinanderzusetzen. Sonst tust du zwar woke, bist es aber nicht.
Lukie Wyniger: Stimmt. Lauwarm haben mir als Reggae Special-Verantwortlicher beim SRF auch Songs zugeschickt. Ich hätte ihnen dann auch etwas sagen können, sensibler sein sollen. So, wie es gelaufen ist, ist es eine Katastrophe.
Inwiefern?
Lukie Wyniger: Die Medienwelt hat völlig versagt und befeuert eine Empörungskultur über das wichtige Thema Rassismus. Soweit ich weiss, war keine einzige Journalistin, kein einziger Journalist am Konzert. Aber alle haben eine Meinung und das nur aufgrund der Statements der Brasserie auf Facebook und der Band, dem Hörensagen und der folgenden Verallgemeinerungen. Ich wundere mich, wenn Mike Müller, ein gestandener Komiker, ein intelligenter Mensch, mit so wenig Informationen so krass auf den Putz haut.
Anna Chiedza Spörri: Mich schockiert es nicht, dass auch scheinbar aufgeklärte, offene Menschen jetzt kritisieren, der Konzertabbruch gehe zu weit. Menschen sind nur antirassistisch bei Sachen, welche die eigenen Privilegien nicht hinterfragen. Die Schweiz diskutiert immer noch darüber, ob es strukturellen Rassismus gibt, wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem die Bevölkerung erkennt, dass kulturelle Aneignung ein gewaltvolles Symptom von Rassismus ist. Für mich ist die Frage: Wer führt diese Diskussionen?
Wer führt sie denn?
Anna Chiedza Spörri: Auf Bluewin kommt ein weisser Soziologe aus Basel zu Wort. Könnt ihr Journalist*innen euch nicht Zeit nehmen, Schwarze Expert*innen zu finden, die wissen, wovon sie reden? An der Universität Basel gibt es African Studies. Das gilt auch für dieses Interview hier: Ich bin keine Reggaekünstlerin und habe keine Rastas und werde jetzt hier als Person geführt, die alle Schwarzen Menschen repräsentiert. Ich habe mit drei Leuten telefoniert und mich beraten, ob ich das machen soll. Und dann dachte ich: Gut, wenn sonst wieder über uns statt mit uns geredet wird, mache ich es halt.
Dafür übernehme ich die Verantwortung.
Anna Chiedza Spörri: Es ist jetzt ein Riesenthema, dass weisse Künstler von der Bühne gewiesen wurde. Alles andere, was täglich passiert an Rassismus und Diskriminierung, ist kein Thema
Lukie Wyniger: Das beobachte ich auch. Zwei Tage, nachdem amerikanische Polizisten den Schwarzen George Floyd ermordet hatten, fragten Schweizer Medien erstmals den Schwarzen Musiker Pronto für ein Interview zum Thema an. Seine Kunst vorher interessierte die Medien nicht, obwohl er schon vor der Ermordung in seinem Metier sitlprägend und auch der erfolgreichste Mundartkünstler der Schweiz war. Das ist ein Armutszeugnis der Schweizer Medien.
Anna Chiedza Spörri: Ich habe Lauwarm heute Morgen – bevor die Bajour-Anfrage kam – Infos zu Antirassismus geschickt und bisher noch keine Reaktion erhalten. Denn die Musiker*innen werden jetzt von verschiedenen Journalist*innen befragt und haben es jetzt in der Hand, wie die Debatte weitergeht, ob sie in Richtung Antirassismus und Selbstreflektion geht oder den Rechten und rassistischen Denkmustern hilft. Sie können hinstehen und sagen: Es tut uns leid. Wir werden uns damit auseinandersetzen und unsere Kunst reflektieren Oder sie leben ignorant weiter und nutzen den Moment, um bekannter zu werden. Sie müssen sich einfach auch bewusst sein, bei wem sie jetzt beliebt werden.
Lukie Wyniger: Heute tut es mir weh, wenn ich Fotos von mir mit Rastas sehe.
Anna Chiedza Spörri: Dieses Wehtun. Das braucht es, da muss man richtig reinhocken, dann bewegt sich etwas in einem und somit kann man um sich herum etwas bewegen.
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Wir stehen für eine offene Gesprächskultur ein. Die Kommentarspalte ist offen für eine Diskussion. Unangebrachte oder rassistische Bemerkungen werden nicht toleriert und ausnahmslos gelöscht.
* In der Originalversion des Textes stand: «Wenn in Bern, statt blonder Rastazopfträger fünf sympathische deutsche Jungs auf der Bühne gestanden wären, die voller Begeisterung und Wohlwollen jüdische Klezmer-Musik gemacht hätten, wäre das alles vielleicht kein Problem.» Das sorgte für Kritik. Leser Andreas schrieb unten in den Kommentaren: «Natürlich wäre (und ist!) auch das ein Problem. Gestern noch hatte Andrea Fopp persönlich auf Twitter einen Artikel von Caspar Battegay verlinkt, in dem das Phänomen Klezmer ausdrücklich erwähnt wird.»
Battegay schreibt: «Aus einer jüdischen Perspektive kann man das Unbehagen am Reggae-Konzert nachvollziehen. So dürften die Gründe für die zeitweilige Popularität von «Klezmer» in Westeuropa ambivalent sein. Wie soll man eine «Klezmer»-Band aus lauter nicht-jüdischen Musikerinnen und Musikern 80 Jahre nach der Shoah bewerten?»
Wir haben die Passage im Text deshalb angepasst. Herzlichen Dank für die Diskussion!
** Ursprünglich schrieben wir «Kolonialistenkatholizismus», es waren aber Protestant*innen.