«Warum nicht 30 Stunden für alle?»
Staatsangestellte sollen nur noch 38 Stunden pro Woche arbeiten. Ökonom Michael Graff findet, man könnte auch noch weiter gehen. Und: Wenn jemand den Anfang macht, ziehe der Rest nach.
Michael Graff, was halten Sie von der Forderung einer 38-Stunden-Woche für Staatsangestellte?
Gute Idee, aber warum nicht 35 oder 30 Stunden, und das für alle? Für eine nachhaltige Wirtschaft muss der Produktivitätsfortschritt stärker als bislang zu mehr Freizeit führen statt zu mehr Einkommen und Konsum.
Lässt die aktuelle wirtschaftliche Lage das zu?
Warum denn nicht?
Fachkräftemangel und Inflation scheinen mir jetzt nicht die besten Voraussetzungen dafür.
Fachkräftemangel begegnet man mit attraktiven Arbeitsbedingungen, und die Inflation ist am Arbeitsmarkt der Schweiz kaum angekommen. Die Lebenshaltungskosten steigen stärker als die Löhne. Die Voraussetzungen für Arbeitszeitverkürzung sind so gut wie sonst auch, bzw. so schlecht wie sonst auch, weil kaum private oder öffentliche Arbeitgeber sich hier in der Schweiz bewegen wollen. Andernorts ist man da schon viel weiter.
Basler Kantonsangestellte sollen in Zukunft nur noch 38 Stunden in der Woche arbeiten müssen – dies bei gleichem Lohn. Der Grosse Rat hat eine entsprechende Motion der SP mit 48 zu 46 Stimmen knapp an die Regierung überwiesen. Das Anliegen ist umstritten. Die eine Seite kritisiert, dass sich der Staat so mit Steuergeldern Vorteile im Wettbewerb um Fachkräfte verschaffe. Die andere argumentiert, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben immer wichtiger werde. Was denkst du dazu?
Kann eine Branche losgelöst eine Reduktion bestimmen?
Warum denn nicht? Es ist üblich, dass jemand den Anfang macht und die anderen nachziehen.
Ist es wirklich so einfach?
Ja. Gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Wandel geht immer von Pionier*innen aus, und wenn diese Erfolg haben, zieht der Rest notgedrungen nach.
Bürgerliche sprechen davon, dass so KMU gegenüber Staatsdienst benachteiligt würden. Stimmt das?
Niemand hindert die KMU daran, auch Arbeitszeitverkürzungen zu veranlassen.
Womit wir aber schnell wieder beim Fachkräftemangel sind. Führt das nicht einfach dazu, dass die Mitarbeitenden dann mehr Überstunden machen müssen, weil zu wenig Personal da ist, um die Arbeit zu erledigen. Denn diese nimmt durch eine Reduktion der Arbeitszeit ja nicht automatisch mit ab.
Überstunden haben für die Beschäftigten zumindest den Vorteil, dass sie besser bezahlt werden. Aber das möchte man mit Arbeitszeitverkürzung nicht in erster Linie bewirken wollen. Es müssen stattdessen mehr Leute eingestellt werden, um das, was erledigt werden muss, auf mehr Schultern zu verteilen. Arbeitskräftemangel ausserdem ist ein Schlagwort, das die wahren Verhältnisse verdunkelt. In der aktuellen Situation ist damit gemeint, dass man zu den jetzigen Bedingungen nicht genug Leute findet, welche die Jobs übernehmen wollen. Da muss man einfach Besseres bieten, und dann gibt es keinen Fachkräftemangel mehr. Das ist auch Marktwirtschaft.
«Zu den jetzigen Bedingungen findet man nicht genug Leute, welche die Jobs übernehmen wollen. Da muss man einfach Besseres bieten, und dann gibt es keinen Fachkräftemangel mehr.»Michael Graff
Der Basler Gewerbeverband rechnet vor, dass eine Arbeitszeitreduktion bei gleichem Lohn zu Mehrkosten führen würde. Stimmt das?
Wenn die zu bewältigende Arbeit mehr Leute erfordert, ja. Wenn die Leute das Gleiche wie zuvor mit mehr Elan erledigen und weniger Zeit mit sinnlosen Tätigkeiten totschlagen, nein. Das Ergebnis dürfte für die Gesamtwirtschaft dazwischen liegen, branchenweise aber mehr oder weniger in die eine oder andere Richtung ausschlagen.
Sie sagen, dass eine Kopplung der Arbeitszeitreduktion an die Produktivitätssteigerung keine Mehrkosten mit sich bringt. Beim Kanton sind zum Beispiel die Polizei oder die Lehrpersonen betroffen – Berufe ohne grosses Potenzial zur Effizienzsteigerung. Gilt das auch für diese Berufe?
Diese Berufe haben gar keine wirklich messbare Produktivität. Die Löhne sind politisch festgelegt. Ob Polizist*innen anständig bezahlt werden und zumutbare Arbeitsbedingungen haben oder nicht, ist eine politische Frage.
In Bezug auf die Kantonsangestellten heisst das also, der Kanton muss tiefer in die Tasche greifen?
Ja, wenn der Arbeitsaufwand nicht mit dem Personalbestand geleistet werden kann, müssen zusätzliche Leute eingestellt werden. Es ist eine politische Frage, ob man das will.
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