Dividendenfrage: «Aktionär*innen haben auch moralische Pflichten»
Wirtschaftsethiker Markus Huppenbauer ist Professor an der Universität Zürich. Er sieht die Ausschüttung von Dividenden während Kurzarbeits-Bezug als ein moralisch kompliziertes Problem.
Grundsätzlich gefragt: Ist es aus ethischer Sicht in Ordnung, wenn ein Unternehmen Kurzarbeit beantragt und gleichzeitig Dividenden an die Aktionär*innen ausschüttet?
Ich habe da wirklich überlegen müssen. Vom Bauchgefühl her hätte ich gesagt, das geht nicht. Eine Dividende ist ja eine Art Risikoprämie. Sie ist Ausdruck des Partizipierens am Unternehmenserfolg. Hat das Unternehmen keinen Erfolg, kann es keine Dividende geben. Moralisch gesehen haben wir es hier mit einem komplizierten Problem zu tun – selbst wenn rechtlich alles in Ordnung ist.
Hier spielt der grundsätzliche Unterschied zwischen Recht und Moral eine Rolle. Nur, weil etwas rechtlich in Ordnung ist, heisst das nicht, dass es moralisch legitim ist. Ein krasses Beispiel dafür ist das bis 1971 in der Schweiz fehlende Frauenstimmrecht.
Wie würden Sie denn die Frage angehen?
Spannend finde ich den Ansatz des kanadischen Wirtschaftsphilosophen Joseph Heath. Es gibt viele wirtschaftliche Herausforderungen, bei denen man mit den bekannten moralischen Prinzipien nicht weiter kommt. Er argumentiert, dass in solchen Fällen die Rollen wirtschaftlicher Akteure und damit gegebene Verantwortlichkeiten relevant sind. Dabei spielt auch die Idee des freien Marktes eine wichtige Rolle.
Können Sie das ausführen?
Es gibt, so Joseph Heath, eine implizite Moral des Marktes – festgeschriebene, aber auch informelle Regeln – ohne die der kapitalistische Markt nicht funktionieren würde. Eine dieser Regeln lautet: «Führe den Wettbewerb auf dem Markt aufgrund des Preises und der Qualität deiner Produkte und Dienstleistungen». Erfolg, der primär aufgrund der Werbung zustande kommt, ist so gesehen kein verdienter Erfolg. Eine andere Regel lautet: «Wälze deine Kosten nicht auf Externe ab». Klar, das sind Ideale. Aber auf solchen Idealen eines fairen Wettbewerbs basiert die freie Marktwirtschaft.
«Mit dem Ausnutzen des staatlichen Eingriffes federn Aktionär*innen ihr Risiko ab.»
So gesehen ist auch Kurzarbeit, wie sie nun in der Schweiz wegen Corona gilt, ein Eingriff in den freien Markt. Hier werden Kosten von Unternehmen von einem externen Akteur, vom Staat, übernommen. Das ist natürlich ein gewünschtes gesellschaftliches Arrangement – aber es verzerrt den Markt.
Wer als Aktionär aufgrund einer Marktverzerrung eine Dividende erhält, profitiert von einer Veränderung der Spielregeln des freien Marktes. Ich sehe darin einen Verstoss gegen die ursprünglichen Regeln des Spiels, wenn sie so wollen – eine Verletzung der Fairness. Mit dem Ausnutzen des staatlichen Eingriffes federn Aktionär*innen ihr Risiko ab. Sie sind also nicht bereit, das Risiko, das zum Investieren gehört, zu tragen.
Das ist eine sehr ökonomische Argumentation.
Ich gelte ja als Wirtschaftsfreund (lacht). Ja, das ist so. Moralisch wird sie dadurch, dass man sagt: Märkte und ihre Regeln sind etwas, das sozial erwünschte Folgen hat. Auch die wirtschafts- und kapitalismusfreundlichen Politiker*innen und Ökonom*innen betonen ja immer wieder: Diese Spielregeln sind erwünscht, weil die Annahme gilt, dass die meisten von uns davon profitieren.
Was heisst das nun bezüglich der Firmen, die Dividenden ausschütten?
Wer ständig betont, dass ihm der Wettbewerb auf freien Märkten wichtig ist, wer ständig den Verzicht auf staatliche Regulierungen fordert, darf nicht zugleich von Markteingriffen des Staates profitieren, wenn das Marktumfeld schwierig wird. Das ist schlicht nicht kohärent. Man macht sich damit unglaubwürdig. Wer unglaubwürdig ist, ist kein verlässlicher Partner, auch nicht im Bereich der Wirtschaft.
Prof. Dr. Markus Huppenbauer hat ursprünglich Philosophie und Theologie studiert. Im Zentrum seiner Forschung stehen Wirtschafts- und Unternehmensethik, ethische Fragen der Lebensführung, sowie die Umsetzung von ethischen Normen und Werte. Seit 2017 leitet er das universitäre Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP).
Was bedeutet das jetzt konkret für die Rolle von Aktionär*innen im Zuge dieser Corona-Krise?
Ein Interesse von Shareholdern, also Aktionär*innen, sind die Dividenden. Das ist ihre Entschädigung für das Kapital, das sie der Firma zur Verfügung gestellt haben. Dieses Interesse ist auch in der jetzigen Situation legitim. Sie haben grundsätzlich Anspruch auf einen Teil des Gewinns.
Aber daneben gibt es andere Stakeholder, also Gruppen, die Interesse am wirtschaftlichen Erfolg einer Firma haben und auch legitime Ansprüche geltend machen können. Das sind zum Beispiel die Mitarbeiter*innen, aber auch Kunden und Lieferanten.
Die Mitarbeiter*innen in Kurzarbeit verzichten aktuell ja gerade auf einen Teil des Lohnes.
Ja, das scheint mir auch richtig so. Sie haben ein Recht auf Lohn, aber es ist in ihrem Interesse, in einer solchen Krisenzeit für das Weiterbestehen der Firma und ihres Jobs auf einen Teil des Lohnes zu verzichten.
Auch Aktionär*innen haben nicht nur Rechte, sondern auch moralische Pflichten. Ich frage mich: Könnte dazu nicht gehören, dass auch sie durch einen Verzicht auf Dividenden zum Erfolg des Unternehmens in der jetzigen Situation beitragen?
Nun kann man aber sagen: Die jetzige Dividendenausschüttung bezieht sich auf das Geschäftsjahr 2019. Corona-Kurzarbeit findet im 2020 statt. Das ist ein komplett anderes Geschäftsjahr.
Sobald man Gewinn ausweisen muss, kann man gar nicht anders rechnen als mit einer definierten Zeiteinheit. Ob das ein Jahr ist oder nicht, spielt eigentlich keine Rolle – wichtig ist, dass es regelmässig die gleiche Zeiteinheit ist.
Ihr genanntes Argument ist formal völlig in Ordnung. Für mich stellt sich aber die Frage: Macht es Sinn, den nachhaltigen Erfolg eines Unternehmens nur in solchen Jahren zu denken? 2020 ist ja nur buchhalterisch etwas ganz Neues.
Für mich sind Aktionär*innen nicht nur passive Empfänger von Dividenden. Ich sehe sie als handlungsfähige Akteure mit eigenen moralischen Pflichten und Verantwortlichkeiten. So gesehen müssten sie über die buchhalterisch definierten Jahre hinaus denken.
Wenn man wirklich an einer nachhaltigen Unternehmensführung interessiert ist, ist ein längerfristiger Blick nötig. Als Aktionär investiere ich – und beteilige mich am Erfolg und am Risiko eines Unternehmens. Das macht nur Sinn, wenn ich einen langfristigen Anlagehorizont habe. Sich auf einzelne buchhalterisch definierte Jahre zu versteifen, macht so gesehen keinen Sinn.
Leiten Sie daraus Handlungsempfehlungen ab?
Wir bewegen uns hier wohl in einem Graubereich, wo es kein moralisch richtig oder falsch gibt. Das sind für mich auch die spannenden Bereiche der Wirtschaft. Ich als Ethiker bin davon überzeugt, dass der freie Markt innerhalb bestimmter vom Staat definierter Regeln etwas Gutes ist – und dass die Aktionär*innen darin eine verantwortliche Rolle haben.
Ich kann Ihre Ausgangsfrage nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Vielleicht könnte man als pragmatische Antwort sagen: Die Aktionär*innen können zwar Dividenden erhalten, aber in geringerem Ausmass als sonst. Aber sauber lösen kann man das Problem wohl nicht.