Messer im Kopf
Nach drei Messerattacken in Basel stehen wieder einmal Fragen im Raum: Hat Basel ein Sicherheitsproblem? Nachtschwärmer*innen haben darauf ganz unterschiedliche Antworten, aber die Statistik spricht eine klare Sprache. Ein Blick auf Basel, anderthalb Wochen nach der Gewalt.
Marinko* und seine Freunde sind Männer mit ruhiger Ausstrahlung, sie reden ruppig, aber siezen Fremde, die nur wenig älter sind als sie selber. «Wir haben hier schon heftige Dinge erlebt, wissen Sie.» Dann folgen wilde Anekdoten. Einige glaubt man, drüben auf Instagram irgendwie schon mal gesehen zu haben. Szene-isch-Basel-Anekdoten. Es ist Nacht im Kleinbasel. Aus dem Hauptbau der Kaserne strömt das Publikum vom Faber-Konzert an die kühle Augustluft. Über der Dönerbude und von der Tanke her glühen die Werbetafeln. Viel Betrieb allenthalben.
Für Marinko und seine beiden Kumpels ist zum Beispiel die Klingentalstrasse zwischen Claramatte und Klybeckstrasse eine Gegend, die Gefahr ausstrahlt. Sie haben darum das Messer im Ausgang sicherheitshalber dabei. «Das ist hier normal», behaupten sie. «Wenn einer Stress macht, ist es besser, sich verteidigen zu können.» Zeigen wollen sie das Messer dann doch nicht. Sie könnten gesehen werden.
Das Messer soll nicht gesehen werden
Eine zweite Gruppe, die kurz nach der ersten Begegnung über die Kreuzung läuft, hat sich hier noch gar nie bedroht gefühlt. Sie finden: Wer ein Messer dabei hat, um sich zu schützen, verletzt sich womöglich selber. «Eine Waffe in der Hand hat noch nie einen Konflikt geklärt, noch nie», sagt ein junger Mann, der lieber nicht mit echtem Namen in der Zeitung steht. Eine dritte Gruppe behauptet ebenfalls, mit Messern in den Ausgang zu gehen. Auch sie wollen den Beweis dann aber nicht antreten. «Zu heikel», sagen sie, oder einfach: «Unnötig».
«Ich würde mit solchen Leuten keine Zeit verbringen»Teja, 26, über Leute, die mit Messern in den Ausgang gehen
Vom Tötungsdelikt durch einen Messerangriff auf dem Lysbüchelareal haben alle gehört. Die Tat hallt nach unter den jungen Menschen, mit denen wir in dieser Nacht, vier Tage später, sprechen. Zum Beispiel mit den drei jungen Frauen am Claraplatz. Sie seien in der betreffenden Nacht auf Sonntag zum Glück nicht im Ausgang gewesen, sagen sie. Ob es im Freundeskreis normal sei, dass Messer dabei seien?
Nie im Leben, «ich würde mit solchen Leuten keine Zeit verbringen», sagt Teja, 26.
Auf der Claramatte, am Rheinufer, auf der Voltawiese, auf den Treppen der Kirche vor der Matthäuskirche. Junge Menschen, Nachtschwärmer*innen, beginnen sofort einzuschätzen und zu erzählen, wo sie waren oder gewesen sein mussten, als «es» passierte. In der Medienmitteilung der Staatsanwaltschaft vom vergangenen Sonntag stand, um 02:30 Uhr sei «nahe beim Lysbüchelplatz ein 28-jähriger Mann bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung verstorben».
Zwischen zwei Gruppen sei es zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen. Der 28-Jährige wurde in der Folge von einem Unbekannten aus der ersten Gruppe angegriffen und mit einer Stichwaffe schwer verletzt. Er verstarb trotz Reanimation noch vor Ort.
Der mutmassliche Täter, ein 22-Jähriger, wurde «Aufgrund der sofort eingeleiteten Fahndung» kurze Zeit später gefasst. Die Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft hat eine Sonderkommission eingerichtet. Mehrere Personen wurden einvernommen, der Tatverdächtige sitzt in Untersuchungshaft.
Die Strafverfolgungsbehörde tut ihren Job. Sie weiss, was sie zu tun hat. Aber für die Familie, Angehörige und Freund*innen gibt es kein Protokoll, wie mit so etwas umzugehen sei. Auch für die Öffentlichkeit gibt es das nicht. Zwischen Freitag und Montag kam es in Basel und Münchenstein zu drei Angriffen mit Stichwaffen, was Fragen nach neuen Gewaltmustern aufwarf.
Kein Beleg für Alltagsbewaffnung in Basel
Fragen, die teilweise abenteuerliche Antworten ohne verifizierbare Grundlage hervorriefen. So sagte der ehemalige Sprecher der Staatsanwaltschaft Basel, Markus Melzl gegenüber Telebasel, dass es in den vergangenen Jahren «vermehrt zu solchen schweren Gewaltdelikten» gekommen sei. Der stellvertretende Chefredaktor der Basler Zeitung, Markus Wüest, hieb in die selbe Kerbe und behauptete in einem Leitartikel von vergangenem Samstag, Messerstechereien gehörten in Basel «mittlerweile zum Alltag».
Beide Aussagen lassen sich in Bezug auf Straftaten mit Schneid- oder Stichwaffen nicht bestätigen, wie mit Blick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik der vergangenen Jahre gleich zu zeigen sein wird.
Reaktionen auf die Messerdelikte kamen auch aus der Politik. Die SVP tat, was sie in solchen Situationen immer tut, forsch und schnell kommunizieren: SVP-Grossrat Joël Thüring forderte auf Twitter und im Telebasel-Talk eine Anpassung der Polizeistrategie. Stephanie Eymann (LDP) reagierte in der Diskussion bei Telebasel zurückhaltend. Die Polizei müsse erst abklären, ob hier ein systematisches Problem vorliege, bevor Massnahmen ergriffen würden, sagte die Vorsitzende des Justiz- und Sicherheitsdepartements.
Nicht nur Bürgerliche, auch linke Politiker reagierten. SP-Grossrat und alt-Parteipräsident Pascal Pfister, schrieb auf Twitter, ihm scheine ohne «vertieftes Wissen», dass bei Auseinandersetzungen mehr Messer eingesetzt würden. Diese ungute Entwicklung «muss gestoppt werden».
Aber was ist denn nun dran an den Forderungen? Bis hierher haben wir erfahren: Auf der Strasse variiert die gefühlte Unsicherheit je nachdem, wen man fragt. Die Politik reagiert mit Signalforderungen an die Bevölkerung. Wir haben das auf dem Schirm, lautet die Message.
Aber was lässt sich abseits der gefühlten Gefahrenlage über die Zunahme von Messerdelikten in Basel-Stadt sagen?
In den letzten fünf Jahren stagniert die Statistik
Ein Blick in die Kriminalstatistik Basel-Stadts zeigt, dass die Zahl Messerdelikte über den Zeitraum der letzten fünf Jahre konstant blieb. Eine Ausnahme bildet das Jahr 2017.
Polizeisprecher Toprak Yerguz sagt, «Messer sind keine neue Erscheinung». Auf den Patrouillen der Jugend- und Präventionspolizei kämen sie «manchmal bei Grobdurchsuchungen zum Vorschein». Nicht alle Messer seien verboten, Armeetaschenmesser gehören zum Beispiel nicht dazu. Aber Schmetterlingsmesser, Springmesser (mit automatisch ausfahrbarbarer Klinge), Wurfmesser und Dolche mit symmetrischer Klinge schon. Diese Messer werden als Waffen klassifiziert und brauchen gemäss eines Index von Fedpol einen Waffenschein.
Im Jahr 2017 kam es in Basel-Stadt zu neun Tötungsdelikten mit einer Schneid- oder Stichwaffe, 2016 waren es zwei, in den Jahren 2018, 2019 und 2020 waren es je sechs. Die Aufklärungsquote betrug zwischen 83 und 100 Prozent. Ob die Delikte im öffentlichen Raum, oder in privaten Räumen geschahen, darüber gibt die Statistik keine Auskunft.
Schwere Körperverletzungen mit Schneid- oder Stichwaffen geschahen 2016 vier 2017 fünf, 2018 sechs, 2019 sechs, 2020 vier. Auch hier betrug die Aufklärungsquote zwischen 80 und 100 Prozent. Die Frage, ob das Jahr 2021 diesbezüglich einen Ausreisser bedeutet, kann die Staatsanwaltschaft nicht beantworten, schreibt sie auf Anfrage. Es lägen noch keine aussagekräftigen Daten vor, die eine Interpretation im Mehrjahresvergleich zuliessen. Die nächste Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2021 erscheint voraussichtlich Ende März 2022.
Gerne hätten wir gewusst, wie leicht oder schwer es ist, an ein verbotenes Messer heranzukommen. Aber der Geschäftsführer des einzigen Waffenladens der Stadt, von Beierer Waffen an der Schneidergasse, ist auf Journalist*innen nicht gut zu sprechen. In seinen Augen kriminalisiert die Gesellschaft, unter gütiger Beihilfe der Medien, das Werkzeug, anstatt den Menschen, der es falsch oder mit krimineller Energie benutzt. Dabei sei das alles, was zählt: «Ob der Mensch, der das Messer besitzt, auch ein Hirn zwischen den Ohren hat.»
Vor zehn Jahren haben in der Region Basel vier Waffengeschäfte bestanden, 30 Leute hätten mit dem Metier ihr Geld verdient. Mittlerweile sei er der einzige Waffenverkäufer der Stadt.
Man könnte das dahingehend interpretieren, dass Waffenkäufe heute über alternative, weniger kontrollierte Verkaufskanäle stattfinden. Über die Anzahl illegaler Waffen wird allerdings keine Statistik geführt. Und jene Nachtschwärmer, die behaupteten, Messer zu tragen, waren wie gesagt nicht in der Lage, sie uns zu zeigen. Beierer sagt, in seinen Augen müsse man Straftäter*innen härter anpacken.
Zugenommen hat sicher die Angst
Ob also mehr oder weniger Messer im Umlauf sind, lässt sich nicht abschliessend beantworten. Das Interesse an Selbstverteidigungskursen gegen Messerangriffe sei aber gestiegen. Sagt Peter Neumaier, der solche Kurse im Kleinbasler Studio Krav Core anbietet. «Nach besonderen Ereignissen wie der Silvesternacht 2015 oder einem Wochenende wie dem vorletzten gehen bei uns die Anmeldungszahlen nach oben», sagt Neumaier.
Unter seinen Kursteilnehmer*innen sind auch Menschen, die bereits Opfer von Gewaltangriffen mit Messern geworden sind. Neumaier sagt, diese Personen könnten teilweise jahrelang nicht mehr angstfrei auf die Strasse gehen. Das Selbstverteidigungstraining gebe ihnen ein Stück Selbstbewusstsein zurück. Seine Klientel lasse sich grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen. Es sind Kund*innen mit Gewalterfahrungen. Und Menschen, die einfach Sport treiben und das «mit etwas Sinnvollem verbinden wollen», sagt Neumaier,
Solche Selbstverteidigungskurse sind nicht unumstritten. Sie könnten die Hemmschwelle senken, zu intervenieren. Überlegenheit suggerieren, lautet die Kritik. Die Polizei will den Wert solcher Kurse auf Anfrage nicht beurteilen. Laut Polizei-Sprecher Toprak Yerguz rät die Behörde, sich nie in einen Zweikampf verwickeln zu lassen.
Sie rät, Abstand zu halten und die Flucht zu ergreifen. Danach solle man die Polizei verständigen. Wenn eine Flucht nicht möglich sei, heisst der Ratschlag: deeskalierend wirken.
Kursleiter Neumaier sagt: «Selbstverteidigung ist kein Kampfsport. Unsere Ausbildung zielt nicht darauf, den Gegner zu dominieren. Das Ziel sei, Gefahren zu vermeiden. «Oder, wenn es nicht anders möglich ist, sich kurz zur Wehr zu setzen um dann so schnell wie möglich zu flüchten.»
Keine Schockstarre unter den Gästen
Wie gehen zurück an einen der Orte, wo es vor anderthalb Wochen zu einem Gewaltausbruch kam. Die Gäste in den Bars und Restaurants rund um das Lysbüchelareal lassen sich am Freitagabend, eine Woche später, nichts von einer angstvollen Erstarrung anmerken. Im Alten Zoll sitzen die Gäste und essen Pommes. In der Kletterhalle läuft Musik. Auf der Lysbüchelstrasse skaten junge Frauen. Vor der Säulikantine spielt eine Guggenmusik.
Auf dem Lido, der neuen Zwischennutzung auf dem Neubaugebiet Lysbüchel Nord, findet Wochenende ein Teil des Zwischenzeit-Festivals statt. Es spielen zwei Bands. Sowohl die Polizei, also auch die Staatsanwaltschaft werden an diesem Wochenende keine einzige Medienmitteilung zu Gewaltdelikten verschicken.