«Awareness ist teuer, aber jeden Franken wert»

Beim ESC kommt erstmals ein umfassendes Hilfskonzept für Betroffene von Übergriffen zum Einsatz. Es sollte unbedingt zum Vorbild für andere Anlässe werden, sagt der Leiter der Opferhilfe beider Basel, Beat John – gerade bei der Fasnacht sei das dringend nötig.

Interview Opferhilfe (1)
Der Leiter der Opferhilfe beider Basel, Beat John, möchte, dass Awareness-Konzepte bei Grossanlässen zum Standard werden. (Bild: vVg/Adobe)

Beat John, das Awareness-Konzept gibt es in diesem Ausmass zum ersten Mal in der Schweiz. Was ist das Innovative daran?

Das Neue an diesem Konzept ist einerseits das Zusammenspiel verschiedener Massnahmen, die in einem ganzheitlichen System ineinandergreifen. Mobile Patrouillen kennen wir zum Beispiel von Festivals. Jetzt werden sie ergänzt durch stationäre Teams am Telefon und in den Safer Spaces. Andererseits ist auch die Zusammenarbeit zwischen Freiwilligen und Profis einmalig. Normalerweise werden bei solchen Events hauptsächlich Freiwillige eingesetzt – hier arbeiten wir mit professionellen Institutionen zusammen, die durch Freiwillige ergänzt werden.

Es sind also doch auch viele Freiwillige dabei?

Es ist eine Kombination, wir sind immer gemischt unterwegs. Bei der Hotline arbeiten ausschliesslich Profis, in den Safer Spaces jeweils ein Profi mit zwei Freiwilligen, und bei den mobilen Teams ein Profi mit einer freiwilligen Begleitperson. Das ist eine gute Kombination: Es gibt Anliegen, die schnell lösbar sind, und andere, bei denen es eine Stabilisierung durch Profis braucht. Ein Übergriff zum Beispiel löst oft das Gefühl aus, wertlos zu sein. Dann ist es wichtig, dass wir der betroffenen Person rasch wieder Wertschätzung entgegenbringen und sie aus diesem Zustand herausholen.

In welchen Fällen braucht es die Freiwilligen, die keine Profis sind?

Einerseits zur Sicherheit unseres Teams – niemand soll allein unterwegs sein. Zudem muss immer jemand den Funk bedienen. Und es gibt auch harmlose Fälle: Wenn zum Beispiel jemand seine Freundin verloren hat oder sagt: «Mein Handy lädt unten, aber ich fühle mich auf dieser Party ohne Handy unsicher.» Wir haben verschiedene Ladekabel dabei – das klingt banal, aber ohne Handy unterwegs zu sein, kann verunsichern.

Wo haben Sie all diese zusätzlichen freiwilligen Mitarbeiter*innen gefunden?

Wir haben gezielt in unserem Umfeld gesucht – Menschen aus ähnlichen Berufen, ehemalige Studienkolleg*innen, Personen aus der sozialen Arbeit oder Psychologie, mit denen wir uns vorstellen konnten, zusammenzuarbeiten. Insgesamt haben wir rund 60 Freiwillige gefunden. Es war nicht schwierig – im Gegenteil, einigen mussten wir sogar absagen. Manche haben aber nach der Schulung auch gesagt, dass sie diese Arbeit doch nicht machen möchten, weil es ihnen zu viel ist.

«Wirklich schwere Vorfälle machen nur einen kleinen Teil der Meldungen aus.»
Beat John, Leiter der Opferhilfe beider Basel

Welche Massnahmen dieses neuen Konzepts sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten?

Alle Elemente sind aufeinander angewiesen. Die neue Hotline, die 24/7 anonym und vertraulich erreichbar ist, funktioniert nur dann, wenn man Betroffene an andere Angebote weiterverweisen kann. Zum Beispiel sagen wir: «Es ist gut, dass Sie anrufen. Vielleicht sind Sie an einem Ort, an dem es Ihnen nicht wohl ist – wir organisieren jemanden, der zu Ihnen kommt.» Oder: «Wir reden miteinander, bis Sie wieder weiterfeiern können.» Die Massnahmen ergänzen sich also – würde man eine weglassen, wäre das System nicht nur ein Drittel weniger effektiv, sondern viel mehr.

Das Ziel ist also, dass alle weiterfeiern können?

Es kommt natürlich darauf an, was passiert ist. Wirklich schwere Vorfälle machen nur einen kleinen Teil der Meldungen aus. Häufig geht es nicht um traumatisierende Situationen. Zum Beispiel, wenn jemand sagt: «Dort drüben steht jemand und spricht schlecht über mich.» Dann ist es nicht das Ziel, jemanden aus dem Verkehr zu ziehen, sondern herauszufinden, was die betroffene Person braucht, um weiterfeiern zu können.

Was könnte das sein?

Man bedankt sich für die Mitteilung und klärt, was in dieser Situation notwendig ist. Oft würden wir das mobile Team informieren und die Situation schildern. Das Team vom Sicherheitsdienst taktvoll besteht aus professionellen Sicherheitsleuten. Die gehen dann hin und zeigen Präsenz – das reicht manchmal schon. Sie beobachten, und falls nötig, greifen sie ein oder alarmieren Blaulichtorganisationen. Es gibt verschiedene Stufen der Intervention – man muss nicht gleich mit dem Hammer eingreifen.

Die Teams stehen untereinander in Kontakt?

Ja, genau – per Funk und Telefon. Wir hatten auch Schulungen zur Funksprache. Die Zusammenarbeit erlaubt uns, dem mobilen Team zu sagen: «Da gibt es eine ungute Situation – schaut euch das an.» Für die betroffenen Personen reicht das oft schon. Sie sind beruhigt und können weiterfeiern.

Es geht also auch viel darum, das Sicherheitsgefühl präventiv aufrechtzuerhalten?

Ja, Awareness hat einen präventiven Charakter und ist eine Form der Erstintervention. Weil wir schnell und direkt reagieren, eskaliert vieles gar nicht erst. Dadurch wird verhindert, dass ein Rattenschwanz an Massnahmen nötig wird.

Awareness Konzept ESC
Der Regierungsrat stellt das Konzept vor

Alle Besucher*innen sollen sich während der ESC-Woche sicher fühlen. Das Konzept soll später in der ganzen Schweiz angewendet werden.

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Welches wird Ihrer Erfahrung nach der häufigste Grund für Kontaktierungen sein?

Wir gehen davon aus, dass Belästigungen den Hauptteil ausmachen werden. In England wurden dazu viele Festival-Studien durchgeführt – dort zeigte sich: Ein Viertel der Festival-Besucher*innen wird belästigt. Vom ESC selbst gibt es solche Studien noch nicht, weil es noch nie ein entsprechendes Awareness-Konzept gab. Aber Übergriffe hat es schon immer gegeben. Den Einfluss von Alkohol und Drogen schätze ich beim ESC als sehr hoch ein.

Der Kanton rechnet aufgrund dieser Studien mit rund 15’000 Belästigungsfällen während der ESC-Woche, also 3 Prozent der erwarteten Besucher*innen. Sie sprechen aber von einem Viertel – das wären 125’000 Menschen?

Der Kanton hat sehr konservativ gerechnet. Er sagt, wir können ja nicht kommunizieren, dass ein Viertel betroffen sein wird.

Sie kritisieren also die Kommunikation des Kantons?

Wir gehen davon aus, dass viel mehr Menschen von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Das niederschwellige Angebot soll hier ein bisschen Licht ins Dunkel bringen.

Wie schätzen Sie den Einfluss der aktuellen geopolitischen Lage ein?

Wir sind froh, dass wir nicht für das Sicherheitsdispositiv zuständig sind. Natürlich prägt die Lage den Event. Wir versuchen jedoch, politische Aspekte auszuklammern und den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.

Welche Rolle spielt es, dass beim ESC viele Menschen aus der queeren Community anwesend sein werden?

Für uns als Institution ist das etwas Tolles. Der Schutz der queeren Community ist uns wichtig. Wir sind uns aber auch bewusst, dass Menschen aus der ganzen Welt nach Basel kommen – aus Strukturen mit teils anderen Einstellungen.

Brauchte es in diesem Zusammenhang besondere Schulungen für die Mitarbeitenden?

Wir sind ohnehin sensibilisiert für queere Anliegen. In den Schulungen mit Freiwilligen waren diese Themen aber zentral. Es gab einen Block zu Queerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Ableismus. Für Menschen, die nicht in diesem Bereich arbeiten, sind das oft wenig bekannte Felder.

«Viele nutzen die Fasnacht, um Grenzen zu überschreiten. Sie ist ein Passierschein für sehr viel Alkohol.»
Beat John, Leiter der Opferhilfe beider Basel

Der ESC wird aufgrund seiner Dimension immer wieder mit der Fasnacht verglichen. Ist das aus Sicht der Opferhilfe ein legitimer Vergleich?

Es gibt gewisse Parallelen: Die Feier dauert mehrere Tage und Nächte, es wird viel Alkohol getrunken und es werden Drogen konsumiert. Der ESC hat aber eine andere Dimension. Ich bin auch sicher, dass Blaulichtorganisationen und Spitäler das im Griff haben.

Bräuchte die Fasnacht auch ein Awareness-Konzept?

Die Fasnacht ist ein riesiger Event, der sich stark verändert hat – vor allem beim Publikum. Viele kommen nicht wegen der Fasnacht, sondern zum Feiern. Auch die Struktur der Cliquen hat sich verändert – es gibt Gruppen, die sich wenig um Konventionen oder Verhaltensregeln kümmern. Die Gewalt hat zugenommen. Viele nutzen die Fasnacht, um Grenzen zu überschreiten. Sie ist ein Passierschein für sehr viel Alkohol. Man ist verkleidet, die Hemmungen sinken. Die Fasnacht muss sich überlegen: Reicht ein allgemeiner Verhaltenskodex?

Könnte man das Konzept vom ESC eins zu eins auf die Fasnacht übertragen?

Ich glaube nicht, dass die Opferhilfe künftig bei jedem Grossanlass einen Safer Space einrichten kann. Aber Organisator*innen solcher Events müssen Awareness-Konzepte mitdenken.

Die Opferhilfe hätte also keine Kapazität, eine solche Struktur für mehrere Anlässe in Basel bereitzustellen?

Wir sind an den grossen Festivals in Basel – Imagine und JKF – präsent. Dort arbeiten wir mit jungen Menschen, die selbst Strukturen aufbauen, in denen aufeinander geachtet wird. Es ist eine grosse Freude, mit diesen jungen OKs zusammenzuarbeiten. Das stimmt mich positiv.

Aber die Präsenz an diesen beiden Festivals löst wahrscheinlich nicht die Probleme, die Sie von der Fasnacht geschildert haben?

Nein, das tut sie nicht. Aber wir wären bereit, Schulungen anzubieten. Da könnte man Strukturen aufbauen – z. B. mit Vereinen. An der nächsten Fasnacht wird erstmals die nationale Hotline für Gewalt-Opfer im Einsatz sein. Das ist ein Anfang.

«Es ist wirklich belastend, wenn nach solchen Anlässen Menschen zu uns kommen, die Schlimmes erlebt haben.»
Beat John, Leiter der Opferhilfe beider Basel

Gibt es noch andere Bereiche, in denen es Ihrer Meinung nach ein solches Konzept braucht?

Ja – an jeder grossen Messe und bei allen Veranstaltungen, an denen Alkohol eine Rolle spielt. Es ist ein Muss, über solche Themen nachzudenken und sie im Vorfeld einzuplanen. Wir sind da vielleicht etwas extrem – aber ich kann sagen, warum: Es ist wirklich belastend, wenn nach solchen Anlässen Menschen zu uns kommen, die Schlimmes erlebt haben. Awareness kostet – aber rechnen Sie mal aus, was die psychische,  therapeutische, medizinische und soziale Unterstützung kostet, um die Menschen wieder aufzurichten, damit sie nicht in Angst und Unzufriedenheit weiterleben. Awareness ist teuer, aber jeden Franken wert.

Wie geht es nach dem ESC weiter? Inwiefern werden die Erfahrungen aus dem Projekt weiterverwertet?

Der Kanton hat ein Qualitäts- und Controlling-Team eingerichtet, das verschiedene Daten sammelt. Diese fliessen in neue Konzepte gegen sexualisierte Gewalt ein. Wir wünschen uns, dass durch das Awareness-Konzept ein neuer Standard gesetzt wird – etwa, dass bei der Bewilligung eines Events nicht nur Verkehrsregelung und ein Abfallkonzept bereitgestellt werden müssen, sondern eben auch ein Awareness-Konzept.

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