«Ein gesetzlicher Mindestlohn ist unsozial»
Arbeitgeber-Direktorin Saskia Schenker argumentiert: «Viele Branchen zahlen heute schon höhere Löhne.»
Eine Initiative in Basel fordert einen allgemeinen Brutto-Mindestlohn von 23 Franken die Stunde. Der Regierungsrat findet, 21 Franken tun es auch. Am Mittwoch redet der Grosse Rat darüber, Wirtschaftsverbände haben ihren Widerstand angekündigt. Muss ein Lohn nicht mehr zum Leben reichen? Arbeitgeberdirektorin Saskia Schenker nimmt Stellung.
Saskia Schenker, der Arbeitgeberverband ist gegen den Mindestlohn. Wieso?
Wir setzen auf das bewährte Mittel der Sozialpartnerschaft.
Das heisst, Arbeitgeber*innen setzen sich mit Gewerkschaften an einen Tisch und handeln den Lohn aus.
Eben nicht nur den Lohn, sondern auch die Ausbildung, die Arbeitsstunden, die Sozialversicherung, die Ferien etc. Das ist ein austariertes System und es hat keinen Sinn, einfach ein einzelnes Element, wie den Lohn, aus diesem System herauszunehmen und politisch festzulegen. Ein kantonales Mindestlohngesetz führt zu einer Verpolitisierung.
Das klingt etwas abstrakt. Unter dem Strich geht es ja um die Frage: Garantiert das bisherige System der Sozialpartnerschaft, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können?
Also, erstens: Es gibt ja schon Mindestlöhne. Diese werden von den Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern in den verschiedenen Arten von Gesamtarbeitsverträgen oder in betrieblichen Lösungen festgesetzt.
Und kann man von diesen Löhnen leben oder müssen die Angestellten zur Sozialhilfe, obwohl sie arbeiten?
Es ist schwierig, zu sagen, wieviel Geld genug ist. Die Sozialpartner müssen die Löhne so festlegen, dass sie die Arbeitsplätze halten können. Die Höhe der Löhne hängt also von der Wertschöpfung in der jeweiligen Branche ab. Aber ja: Ein Grossteil der Unternehmen respektive Branchen zahlt Löhne, die im Schnitt höher sind als der geforderte Mindestlohn von 21 beziehungsweise 23 Franken.
Haben Sie eine Statistik, die das belegt?
Nein, keine Statistik. Aber wenn Sie sich die einzelnen Gesamtarbeitsverträge, zum Beispiel auf der Internetseite der Gewerkschaft UNIA, ansehen, erkennen Sie das. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen Personen mit einer Berufslehre und Ungelernten ohne entsprechende Ausbildung.
«Viele Arbeitgeber machen sich Sorgen, weil sie sich verantwortlich fühlen für ihre Leute und deren Stelle bewahren möchten.»
Bajour hat mit einer Coiffeuse gesprochen. Sie hat erzählt, sie habe als Angestellte 50 Stunden gearbeitet für einen Lohn von 3550 Franken. Ich frage jetzt nochmals: Kann man davon leben?
Ich kenne den konkreten Fall der Coiffeuse leider nicht. Die Coiffeusen haben einen allgemein verbindlichen GAV. So erhalten zum Beispiel ausgelernte Angestellte in den ersten Berufsjahren weniger als 4000 Franken. Und zwar, weil sie weiter am Lernen sind. Das heisst, dass der Unternehmer weiter in diese jungen Angestellten investieren muss, bevor sie ihren vollen Beitrag an den Umsatz leisten. Wenn wir aber den Lohn «lüpfen», bekommen diese Personen nachher keine Stellen mehr, weil der Unternehmer dann lieber gleich die erfahrene Coiffeuse nimmt, die gleich viel kostet. Der gesetzliche Mindestlohn ist deshalb unsozial.
Sie sagen mir also nicht, ob man von einem Lohn, der unter dem vorgeschlagenen Mindestlohn liegt, leben kann. Warum soll der denn unsozial sein?
Ja, weil er unter anderem Jobs für Ungelernte zunichte macht.
Was sind das für Jobs?
Häufig handelt es sich um Gelegenheitsjobs im Tieflohnsektor. Ich stehe mit verschiedenen Branchen in Kontakt. Ein Beispiel sind Hilfsarbeiter am Hafen. Dort finden ungelernte Menschen ohne Berufsabschluss ein Einkommen oder einen Zusatzverdienst – diese Menschen sind häufig sehr froh um diese Jobs. Ich befürchte, dass diese Jobs mit einem gesetzlichen Mindestlohn ganz wegfallen. Oder nehmen Sie die Taxibranche, die seit 2013 keinen GAV mehr hat.
Warum haben Taxifahrer*innen keinen GAV mehr?
Weil die Sozialpartner, also Arbeitgeber und Gewerkschaften, keinen Kompromiss gefunden haben. Der Grund: Die Wertschöpfung dieser Branche gibt einfach nicht mehr her. Wenn wir dieser Branche jetzt einen Mindestlohn aufzwingen, was passiert dann?
Sagen Sie es mir.
Dann steigen die Arbeitgeber aus, weil es sich nicht mehr lohnt, das Geschäft zu betreiben, weil niemand so viel für eine Taxifahrt bezahlt. Und die Fahrer müssen selbstständig werden. Aber das ist doch keine soziale Lösung, weil die soziale Absicherung bei Selbstständigerwerbenden weniger gut ist. Deshalb müssen wir uns fragen: Gibt es solche Branchen überhaupt noch, wenn wir einen kantonalen gesetzlichen Mindestlohn haben?
Ich muss jetzt noch einmal fragen: Bis vor 20 Jahren konnte man in der Schweiz von der eigenen Arbeit leben. Gilt die Maxime, dass ein Lohn zum Leben reichen muss, für den Arbeitgeberverband nicht mehr?
Doch, dieser Grundsatz gilt immer noch. Die Unternehmer sind sehr verantwortungsbewusst, weil es wichtig ist, Arbeitsplätze anzubieten und zu halten. Gerade jetzt, während der Coronakrise, machen sich deshalb viele Arbeitgeber Sorgen, weil sie sich verantwortlich fühlen für ihre Leute und ihre Stellen trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage bewahren möchten.
Sie vertrauen also dem Verantwortungsbewusstsein der Arbeitgeber*innen?
Ja. Und ich vertraue der Sozialpartnerschaft. Dort begegnen sich Gewerkschafter und Arbeitgeber auf Augenhöhe. Beide Seiten verhandeln hart und einigen sich auf den Lohn, der möglich ist. Und ich wiederhole mich: Es gibt nun mal Branchen, bei denen die Wertschöpfung so schwach ist, dass man froh sein muss, dass es diese Jobs überhaupt noch gibt. Ein kantonaler Mindestlohn gefährdet sie.
Firmenchefs haben den Grossrät*innen einen Brief geschickt, in dem sie vor dem Mindestlohn warnen. Unterschrieben haben unter anderem die Chefs von Lonza oder Herzog und de Meuron – wahrlich keine Branchen, die sich über eine schwache Wertschöpfungskette beklagen müssen.
Ja eben, diese liegen mit ihren Löhnen über dem vorgeschlagen gesetzlichen Mindestlohn.
Aber wenn sie schon über dem Mindestlohn liegen, müssen sie ja keine Angst vor der Initiative haben.
Es geht um das Prinzip. Es ist ein schlechtes Signal, wenn in Basel künftig nebst der Sozialpartnerschaft auf kantonaler Ebene ein Gesetz besteht. Das könnte dem Wirtschaftsstandort Basel schaden, deshalb machen sich die erwähnten Unternehmer Sorgen.
«Der Mindestlohn könnte dem Wirtschaftsstandort Basel schaden.»
Bajour-Ökonom Werner Vontobel argumentiert, ein Mindestlohn sei das beste Konjunkturprogramm: Wenn die Menschen mehr verdienen, konsumieren sie mehr und kurbeln die Wirtschaft an.
Sein Argument ergibt für mich keinen Sinn. Er argumentiert, bei einem Mindestlohn für den Pizzakurier werde die Pizza zwar teurer und das koste den einen oder anderen Arbeitsplatz.
Ja, aber weil alle Pizzakurier*innen mehr verdienen, können sie mehr in die Beiz oder ins Hotel und unterstützen diese Branchen, was wiederum neue Jobs schafft.
Aber es sind ja dann weniger Pizzakuriere, die überhaupt verdienen. Sind es dann insgesamt mehr Jobs? Herr Vontobel und ich haben andere Grundhaltungen. Er vergisst, dass Basel kein in sich geschlossenes Wirtschaftssystem ist. Ännet der Grenze im Baselbiet oder in Deutschland gibt es ja auch Pizzakuriere, dann bestellen nachher die Basler einfach dort, weil es günstiger ist. In der Basler Realität ergibt Vontobels Argumentation deshalb keinen Sinn.
In Basel gibt es bürgerliche Politiker*innen, die den regierungsrätlichen Gegenvorschlag eines Mindestlohns von 21 Franken unterstützen. Sind Sie hässig auf sie?
Hässig bin ich nie, in der Politik geht es um die harte Sache. Diese Bürgerlichen, von denen Sie reden, sind eigentlich gegen ein kantonales Mindestlohngesetz. Aber sie haben Angst, die Bevölkerung sage sonst ja zur Initiative, so wie in Genf. Das wollen sie über diesen Weg verhindern.
Und Sie haben keine Angst? Die Basler Bevölkerung stimmt häufig mit rotgrün.
Nein. Ich nehme die Initiative ernst, aber ich finde, wir müssen die grundsätzliche Diskussion «kantonaler Mindestlohn: ja oder nein» öffentlich führen, damit die Stimmbevölkerung ein akkurates Bild bekommt. Deshalb empfehlen wir als Arbeitgeberverband, dass nur die Initiative vors Volk kommt und hoffen, dass die Bürgerlichen den Gegenvorschlag nicht unterstützen.