Ein literarischer Coup mit Fragezeichen

Das neue Buch von Alain Claude Sulzer beschäftigte schon lange vor seinem Erscheinen die Literatur- aber auch die Politikszene. Nun ist «Fast wie ein Bruder» auf dem Markt – und das umstrittene Z-Wort nach wie vor sehr präsent. Weil es für die Handlung des Romans keine Rolle spielt, stellt Valerie Wendenburg in ihrem Kommentar die Frage: Warum?

Kommentar Sulzer
(Bild: Kiepenheuer & Witsch, Collage: Bajour)

Der Disput zwischen dem Autor Alain Claude Sulzer und den Verantwortlichen aus den Abteilungen Kultur beider Basel im Sommer 2023 warf Fragen zu den Kriterien der Basler Literaturförderung auf. Weil Sulzer erklären sollte, aus welchem Grund er im Manuskript seines Romans mehrfach das Wort «Zigeuner» verwende, zog dieser sein Gesuch auf einen Werkbeitrag sofort zurück, empfand das Vorgehen als Einmischung in seine künstlerische Freiheit und sprach in den Medien von «Zensur». Bajour hatte die Debatte aufgenommen und im Juni 2023 ein Podium organisiert, an dem der Autor und die Basler Kulturbeauftragte Katrin Grögel teilnahmen. Letztere gestand denn auch Fehler bei der Kommunikation ein.

Podium Sulzer Grögel
Bajour-Podium

Auf dem Bajour-Podium vor rund 130 Zuschauerinnen kamen im Juni 2023 der Basler Autor Alain Claude Sulzer und die Basler Kulturbeauftragte Katrin Grögel zu Wort. Am Ende der emotionalen Diskussion rund um die Zensurvorwürfe im Literaturbetrieb gab es einen Handschlag – echten Frieden jedoch nicht.

Zum Podium

Nun, 14 Monate später, ist Sulzers Roman erschienen. Er wird die Bestseller-Leiter erklimmen, das ist klar. Nicht nur aufgrund des Skandals, sondern weil das Buch ein literarischer Coup ist. Die ersten Rezensionen sind voll des Lobes und erteilen der Debatte um das Z-Wort einen Platzverweis. SRF schreibt, der «ganze Rummel um das eine Wort» verblasse mit jeder Seite mehr, da er angesichts der Qualität des Romans «schlicht irrelevant» sei. Und CH-Media verweist darauf, dass gute Literatur eben nie politisch korrekt sei. 

Es stimmt: Die Passagen, in denen das Z-Wort vorkommt, sind für die eigentliche Handlung des Romans unbedeutend. Würden sie aus dem Buch gestrichen, würde es an nichts fehlen. Es ist kein Buch über Sinti und Roma, sondern über eine Freundschaft unter Jungen, die wie Brüder aufwachsen und bis an ihr Lebensende trotz räumlicher Trennung und unterschiedlicher Lebensentwürfe eng miteinander verbunden bleiben.

Es stellt sich die Frage, weshalb das Z-Wort dermassen penetrant im Buch erscheint.

Frank, der Künstler, lebt schliesslich in New York und bewegt sich in der homosexuellen Szene. Das Thema Aids kommt auf und es gelingt Sulzer sehr eindrücklich, den Umgang mit der damals noch tödlichen Erkrankung und die Angst vor dem «sich-Outen» und einer Ansteckung zu beschreiben. Als Frank an Aids stirbt, hinterlässt er seinem Freund sein Lebenswerk und das Buch nimmt eine neue und spannende Wendung. 

Die ehemaligen Nachbar*innen in dem Haus ihrer Jugend sind kein Thema mehr. Sie spielen im Verlauf des Romans keine Rolle. Gerade deshalb aber stellt sich die Frage, weshalb das Z-Wort dermassen penetrant im Buch erscheint. Ist es nötig, das Wort auf drei Seiten gleich zehnmal, fast immer mit negativer Konnotation zu benutzen? Die Nachbar*innen lebten in der «Zigeunerwohnung», waren unordentlich, hatten angeblich keine Skrupel, galten als schnippisch und frech. Es ging das Gerücht um, sie liessen nicht mit sich spassen, trügen Messer bei sich, und führen dennoch «Mercedes wie wohlhabende Leute».

Es handelt sich nicht um eine Eigenbezeichnung der Roma und Sinti, sondern um eine abwertende Fremdbezeichnung, die ausgrenzt.

Es ist klar: hier werden Vorurteile aus einem Deutschland der 70er-Jahre kolportiert. Selbstverständlich liegt es in Sulzers künstlerischer Freiheit, dies so ausführlich zu tun – auch in den von ihm gewählten Worten. Ich würde den Autor aber gerne fragen: Warum? Warum ist es ihm so wichtig, im Wissen darum, dass das Wort «Zigeuner» heute als klar diskriminierend gilt. Es handelt sich nicht um eine Eigenbezeichnung der Roma und Sinti, sondern um eine abwertende Fremdbezeichnung, die ausgrenzt. Das ist Sulzer bewusst, auch durch die öffentlich ausgetragene Debatte um seine gewählte Sprache.

Als das Wort zum sechsten Mal genannt wird, schreibt Sulzer zwar über die «Zigeuner, die man irgendwann Sinti und Roma zu nennen begann». Dennoch hinterlässt sein Roman, der abgesehen von diesen abwertenden Szenen absolut lesenswert ist und zu Recht viel Lob erfährt, ein unangenehmes Gefühl. Es schwingt die Haltung mit: «Das wird man heute ja wohl noch sagen dürfen». Ja, man darf. Man muss aber nicht. 

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

Kommentare

Alex
19. August 2024 um 07:28

Der Trotz des alten weissen Mannes

Danke für die klaren Worte.

Daniel
19. August 2024 um 13:15

Warum...

auf die Website der deutschen Antidiskriminierungsstelle verweisen? Gleichzeitig empfinde ich den Kommentar als eher irrelevant und unnötig.