Ein sozialpolitischer Coup

Erfolg in Bundesbern: Der Nationalrat unterstützt eine Motion von Samira Marti (SP BL). Sie will, dass Menschen, die länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, nicht mehr ausgewiesen werden können. Jetzt muss noch der Ständerat zustimmen.

WOZ

Dieser Artikel ist am 21.09.2022 zuerst bei der WOZ erschienen. Die Wochenzeitung gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Samira Marti
SP-Nationalrätin Samira Marti brachte die Motion «Armut ist kein Verbrechen» auf den Weg. (Bild: zvg)

Üblicherweise wäge ich in meinen Kommentaren das Für und Wider sorgfältig ab. Doch am heutigen Abend kann ich nur sagen: Gratulation!

Soeben hat der Nationalrat mit 96 zu 85 Stimmen die Motion «Armut ist kein Verbrechen» von SP-Politikerin Samira Marti angenommen. Menschen, die länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, können nicht mehr ausgewiesen werden, wenn sie Sozialhilfe benötigen.

Nach Jahrzehnten der Jagd auf Armutsbetroffene – wir erinnern uns an die schändlichen Schlagwörter der SVP wie «Missbrauch» oder «Schmarotzertum» – werden deren Rechte endlich wieder gestärkt. Wie der renommierte Migrationsrechtsexperte Marc Spescha in der letzten WOZ ausführte, stoppt die Änderung die Abwärtsspirale der ständigen Verschärfungen im Sozial- und Migrationsrecht.

WOZ

Mit dem WOZ-Newsletter wissen Sie jeweils schon am Mittwochabend, was in der WOZ vom Donnerstag drin steht.

Hinter dem Coup steckt jahrelange politische Arbeit: Die SP, die Gewerkschaft Unia und die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht hatten die Allianz «Armut ist kein Verbrechen» ins Leben gerufen. Achtzig Organisationen gehören heute dazu, 17'000 Personen haben eine entsprechende Petition unterzeichnet. Samira Marti reichte schliesslich den parlamentarischen Vorstoss ein und organisierte geschickt eine Mehrheit dafür.

Der Erfolg ist umso bemerkenswerter, als es migrationspolitische Fortschritte in der laufenden Legislatur schwer haben. Trotz des Wahlerfolgs 2019 von Mitte-links wurden sie abgeblockt. So verhinderte der Ständerat die automatische Einbürgerung für die zweite Generation. Auch beim Status der vorläufigen Aufnahme, der viele Geflüchtete in die Prekarität treibt, ist keine Besserung in Sicht.

WOZ

WOZ – helfen Sie mit beim Aufdecken! Leisten Sie sich ein Probeabo, 8 Wochen für 25 Franken.

Hoffen wir deshalb, dass der heutige Entscheid ein Anfang ist: Dafür, dass die leidige Verknüpfung von Migrations- und Sozialhilferecht grundsätzlich fällt. Und dass die Sozialhilfe zu ihrem Kerngedanken zurückkehrt. Sie soll Existenzen sichern und nicht Menschen in Unsicherheit stürzen. Gerade im Hinblick auf den kommenden kalten Winter.

Jetzt muss nur noch der Ständerat zustimmen. Ein persönlicher Ratschlag von mir: Bei der Bewältigung von Armut kann es keine Ausgewogenheit geben. Sondern nur beherzte Unterstützung.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Woko Bart Alte Männer Zukunft

Ina Bullwinkel am 31. Oktober 2025

Visionen mit Bart

Visionen für die nächste Generation, entwickelt von älteren Herren, scheinen der neue Zeitgeist zu sein. Auf der Strecke bleibt das Hier und Jetzt und eine Zukunftsperspektive für alle. Daher muss die jüngere Generation hartnäckig bleiben, findet Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Weiterlesen
Vorlage Kommentare Kopie-6

Helena Krauser am 29. Oktober 2025

Der Service Citoyen für Frauen ist ein Affront

Die Initiative will unter dem Deckmantel der Emanzipation Frauen denselben Dienst abverlangen wie Männern. Dabei ignoriert sie, dass Frauen bereits einen grossen Dienst an der Allgemeinheit leisten. Ein Kommentar.

Weiterlesen
Woko Roche Bau 52

Ina Bullwinkel am 10. Oktober 2025

Nostalgie um den Preis politischer Weitsicht?

Die Diskussion um Erhalt oder Abriss des Roche-Baus 52 zeigt das Basler Dilemma zwischen nostalgischer Verklärung und der unternehmerischen Freiheit des Pharma-Giganten beispielhaft auf. Am Ende braucht es vor allem Raum für Entwicklung, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Weiterlesen
Sieber3

Valerie Zaslawski am 08. Oktober 2025

GLP-Grossrat Sieber verlangt Antworten

Johannes Sieber möchte in einer Interpellation von der Regierung wissen, ob die Minimalstandards des regulären Asylsystems reichen, wenn die wohlhabende Schweiz schon proaktiv traumatisierte Menschen ins Land hole.

Weiterlesen

Kommentare