Kowsika wollte leben
Im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof nimmt sich eine junge Frau das Leben. In einer gemeinsamen Recherche haben Bajour und die Republik die Umstände des Todes aufgearbeitet. Eine Zusammenfassung.
Selbstbewusst war Kowsika. Voller Leben. So beschreiben sie ihre Mutter und ihre Schwester. Unerschrocken und mutig. Eine Kämpferin, die nicht nur für sich selbst Verantwortung übernahm, sondern auch für die Menschen um sich herum. Hätte Kowsika nicht sterben müssen, wenn sich Polizei, Migrationsbehörden und Gefängnis an das Gesetz gehalten hätten?
- Dargebotene Hand: Telefonisch 143 wählen. Anonym und rund um die Uhr.
- Medizinische Notrufzentrale Basel-Stadt: Was tun im Notfall? 061 261 15 15
- Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention Akutambulanz (ab 18 Jahren): 061 325 81 81
- Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK Basel: 061 325 82 00
Diese Woche erzählen Bajour und die Republik die Geschichte von Kowsika, die 29-jährige Tamilin, die sich am 12. Juni 2018 im Gefängnis Waaghof erhängt hat. Heute publizieren wir Teil drei der Recherche. Darin decken wir auf: Die Behörden haben im Umgang mit der abgewiesenen Asylsuchenden mutmasslich gravierende Fehler begangen (siehe Box unten). So hätte die Geflüchtete zum Zeitpunkt ihres Suizids gar nicht mehr im Gefängnis sein dürfen. Kowsika hätte seit rund einer Viertelstunde auf freiem Fuss sein müssen. Und sie erhielt keine medizinische Hilfe, obwohl sie während Stunden schrie, mit der Faust ins Gesicht und mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Das zeigen Videoaufnahmen.
Vier Aufseher*innen werden sich demnächst im Berufungsverfahren erneut vor Gericht verantworten müssen, weil es rund 20 Minuten dauerte, bevor sie der sterbenden Kowsika Hilfe leisteten. Aber ist das genug? Alle anderen Behörden und Staatsangestellten, mit denen Kowsika in den letzten Tagen ihres Lebens in Berührung kam, müssen, Stand jetzt, vor Gericht voraussichtlich keine Rechenschaft ablegen. Die Journalistin Anja Conzett, welche den Fall mit Daniel Faulhaber und Nivethan Nanthakumar aufgearbeitet hat, sagt: «Wenn niemand die Schludrigkeit der Behörden, die dieser Fall zutageführt, untersucht, ist das der wahre Skandal.» Und Philipp Stolkin, der Anwalt von Kowsikas Familie, meint: «Was dieser Fall illustriert, ist eine institutionalisierte Haltung der Gleichgültigkeit. Eine Gleichgültigkeit gegenüber inhaftierten Menschen allgemein. Vor allem aber gegenüber Menschen, die inhaftiert werden, weil wir ihnen als Schweiz das Recht, zu bleiben, absprechen – Menschen, die nichts verbrochen haben. Es ist struktureller Rassismus, der Kowsika getötet hat.»
Das sind die sechs mutmassliche Verfehlungen der Behörden
- Mit welcher rechtlichen Begründung Kowsika festgehalten wird, ist unklar.
- Maximale Haftdauer überschritten: Korrekt wäre wohl eine Haftdauer von maximal 72 Stunden gewesen. In diesem Fall hätte Kowsika rund eine Viertelstunde vor dem Suizidversuch entlassen werden müssen.
- Kowsika wurde im Waaghof entgegen der Vorschriften mit strafprozessual Inhaftierten zusammengelegt.
- Fehlende Hafterstehungsprüfung: Gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung dürfen Menschen nur inhaftiert werden, wenn ihnen eine Haft physisch und psychisch zugemutet werden kann. Nichts in den Akten deutet darauf hin, dass die Behörden geprüft hätten, ob Kowsika die Haft zugemutet werden kann.
- Kowsikas Angehörige wurden durch die Schweizer Behörden unzulänglich und inkorrekt über ihren Tod informiert.
- Mangelndes rechtliches Gehör: Gemäss Bundesverfassung hat jede Person, die verhaftet wird, das Recht, dass ihr in einer verständlichen Sprache erklärt wird, warum sie ins Gefängnis muss und was für Rechte sie hat. In den Akten steht nichts davon, dass ein*e Dolmetscher*in aufgeboten wurde.
Bajour und die Republik haben die Behörden zu den Vorwürfen Stellung nehmen lassen.
Das sagen die Behörden Das Migrationsamt wollte keine Stellung nehmen zur Frage, mit welcher rechtlichen Begründung Kowsika nicht in der gesetzlich vorgesehenen Frist das rechtliche Gehör gewährt wurde. Das zuständige Departement geht davon aus, dass diese Fragen auch vor Gericht eine Rolle spielen werden, man wolle als Behörde nicht vorgreifen.
Die Staatsanwaltschaft antwortete auf die Frage, ob sie die Rechtmässigkeit von Kowsikas Haft zum Zeitpunkt ihres Suizidversuchs untersucht habe, Fragen zur Rechtmässigkeit der Haft müssten dem Migrationsamt gestellt werden, über das die Staatsanwaltschaft keine Aufsichtsfunktion habe. Ausserdem: «Die Rechtmässigkeit einer ausländerrechtlich angeordneten Haft können Betroffene oder ihre Rechtsvertretungen gerichtlich überprüfen lassen.» Die Kantonspolizei nahm mit Verweis auf das laufende Verfahren keine Stellung zur Frage, wie ihr Ermittler dazu kommt, in seinem Rapport offensichtlich falsche Angaben zu machen, wenn er schreibt, man habe Kowsika mitgeteilt, sie werde ausgeschafft: «Selbstverständlich unterstützt die Kantonspolizei die Strafverfolgungsbehörde bei den Ermittlungen und ist interessiert an einer Aufklärung der Todesumstände.»
Selbstbewusst war Kowsika, und mutig. Aber unter genügend Druck geben auch die breitesten Schultern nach.
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Zu den Co-Autor*innen und zur Serie
Es ist nicht das erste Mal, dass Missstände im Untersuchungsgefängnis Waaghof publik werden, als Daniel Faulhaber, damals noch Reporter bei Bajour, im Sommer 2021 zum ersten Mal von Kowsikas Fall hört. Er will der Sache auf den Grund gehen. Im Wissen, dass eine saubere Aufarbeitung alleine kaum zu bewältigen ist, kontaktiert er Republik-Reporterin Anja Conzett. Nach der Verhandlung gegen die vier Aufseher*innen sind sie sich einig, dass die Geschichte, die sie erzählen müssen, lange vor Kowsikas Suizidversuch begann.
Sie führen erste Hintergrundgespräche und treffen so auf den tamilischstämmigen Journalismusstudenten Nivethan Nanthakumar, der sich der Recherche anschliesst. Nanthakumar versucht, Kowsikas Angehörige ausfindig zu machen. Spricht mit Kowsikas Wegbegleitern in Basel, reist für Hausbesuche quer durch die Schweiz und telefoniert spätnachts nach Sri Lanka – monatelang, bis er sie findet und den Journalist*innen in der Folge Einsicht in die Untersuchungsakten gewährt wird, deren Studium weitere Monate Recherche in Anspruch nimmt.
In den anderthalb Jahren seit Recherchebeginn hat sich für die drei Autor*innen einiges verändert. Daniel Faulhaber ist unterdessen beim «Beobachter», wo er vermehrt über Justizthemen schreiben will. Anja Conzett hat ihre Festanstellung bei der Republik aufgegeben, um Vollzeit Jus zu studieren, und Nivethan Nanthakumar hat eine Ausbildung als Gerichtsdolmetscher begonnen.