«Der Knast hat mein Leben gerettet»
Roberto* verübte mehrere Raubüberfälle und wurde deshalb zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Ein Porträt über den Weg ins Leben «danach».
«Du siehst ja gar nicht aus wie einer, der mal im Knast war.» Das Nachbarskind schaute Roberto, als er seit ein paar Tagen wieder auf freiem Fuss war, von oben bis unten an. Es hatte sich einen grimmigen, ungepflegten Mann mit vielen Knasttattoos vorgestellt. Die Aussage brachte Roberto damals zum Schmunzeln. Genauso wie heute auf dem Sitzplatz vor seinem Haus, als er diese Anekdote erzählt.
Der knapp 50-Jährige mit kurzem Bart und grau melierten Haaren trägt ein dunkles Nike-Shirt, beige Hosen und Crocs und blinzelt in die Abendsonne. Seine Frau blickt ihn durchs Fenster lächelnd an, im Arm eine Katze.
Dass Roberto heute nach getaner Arbeit entspannt seinen Feierabend geniesst: Das war nicht immer so. Sein Lebensweg hat schon viele Wendungen genommen, angefangen mit einem Umzug aus Südosteuropa in die Schweiz, als er noch ein Teenager war. Er schloss die Schule ab, machte eine Lehre in der Lebensmittelbranche und arbeitete 15 Jahre lang auf dem Beruf. «Und dann habe ich einen Seich gemacht», sagt er.
«Seich» ist eine Untertreibung. Das weiss auch Roberto.
«Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an das denke, was ich gemacht habe.»Roberto
Vor ungefähr zehn Jahren betrat Roberto zum ersten Mal ein Geschäft mit einer Waffe in der Hand. «Überfall», sagte er und verlangte Geld. Kurz darauf verliess er das Geschäft mit seiner Beute. Insgesamt drei Mal verübte er solche Überfälle. Vielleicht habe er es rückblickend auch ein bisschen herausgefordert, geschnappt zu werden. Denn vorsichtig sei er als «Räuber» nie gewesen. «Ich war wie ein Zombie», erinnert er sich. «Ich ging ohne Maske, ohne Handschuhe, parkte das Auto vor den Läden, hatte mich gar nicht vorbereitet.»
Bis hierhin sprudelt seine Geschichte nur so aus ihm heraus. Roberto hat keine Mühe, über seine Vergangenheit zu sprechen, nein, das ganze Konzept von seinem Leben «danach» baut aufs Reden auf. «Ich hatte immer eine gute Beziehung zu meiner Frau, wir hatten nie Probleme», sagt er. Wobei: Probleme im Leben von Roberto gab es. Aber sie mit jemandem geteilt hat er nie. Er schob alles zur Seite, bis es eskalierte. «Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an das denke, was ich gemacht habe.» Seine Miene wird ernst, sein Blick durchdringend, die Stimme bleibt aber unverändert bestimmt, als er nachschiebt: «Ich schäme mich.»
Vor zehn Jahren konnte er diesen Satz nicht aussprechen. «Wie sagt man? Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, oder?», fragt er rhetorisch und hält dann fest: «Für mich ist besser, man redet, das habe ich gelernt.»
Also redet er. Weil aus Gründen der Anonymität nicht alles in die Zeitung gehört, was Roberto auf die schiefe Bahn brachte, sei hier zusammengefasst: Vor über 20 Jahren befand sich Roberto in einer psychisch sehr belastenden Familiensituation. Er begann, um Geld zu spielen. Zuerst war es wenig, es machte Spass, half ihm, den psychischen Stress wegzuschieben. Schnell kam die Sucht.
Die Einsätze wurden höher – und die Verluste auch. Roberto nahm Kredite auf, machte Schulden. Bei Freunden, bei seinem Chef, zu dem er immer eine gute Beziehung hatte – und irgendwann verschuldete er sich bei den Falschen. «Geldhaie», nennt Roberto sie und meint damit Kriminelle, die ein Geschäftsmodell daraus gemacht haben, Geld für horrende Zinsen auszuleihen und die Schuldner*innen dann zu erpressen. Bei Roberto flattern Betreibungen ins Haus. Er spielt weiter.
«Für mich ist besser, man redet, das habe ich gelernt.»Roberto
«Ich war ein anderer Mensch», erinnert er sich. Leute wandten sich von ihm ab. Er schlief nicht. Er ass nicht. «Und ich habe gelogen. So viel gelogen», sagt er. «Einmal war ich schon im Näscht, es war vielleicht Mitternacht, als ich wieder aufstand und meiner Frau sagte, ich müsse noch einen Kollegen treffen.» Mit 1500 Franken im Portemonnaie fuhr er los. Noch einmal sein Glück versuchen. Eine halbe Stunde später war das Geld verspielt.
«Es ist heute noch das Schlimmste für mich, über das zu reden, was dann kam», sagt er und hält kurz inne, bevor er weiter erzählt. Schliesslich fährt er fort: «Ich wollte Selbstmord machen.»
- In lebensbedrohlichen Situationen immer direkt den Sanitätsnotruf Tel. 144 wählen.
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Er überlegte sich dafür verschiedene Möglichkeiten, beschaffte sich schliesslich auf illegalem Weg eine Pistole. «Ich habe es dann versucht, aber die Waffe war gesichert. Ich wusste nicht, wie das funktioniert, ich hatte keine Ahnung von Waffen.» Schliesslich habe er es nicht durchgezogen. «Ich dachte an meine Frau und meine Kinder, die damals im Teenageralter waren», sagt er. Als die Bande, die ihm Geld geliehen hatte, merkte, dass er nicht mehr zahlen konnte, habe sie ihn zu den Überfällen gezwungen.
Mit dem Geld hätte er seine Schulden begleichen können – aber er zahlte nicht alles auf einmal ab. «Ich Idiot gab ihnen nur das Zinsgeld.» Er schüttelt den Kopf beim Gedanken an seine Spielsucht, die ihn damals glauben liess, er sei nur einen Gewinn von seiner Rettung entfernt. Das Geld blieb aus. Und die Selbstmordgedanken blieben.
«Ich war froh, dass sie mich erwischten.»Roberto
Aus Stress und Verzweiflung folgten weitere Überfälle. Beim Letzten schnappte ihn die Polizei noch direkt vor Ort. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste niemand von seinen Sorgen. Nicht einmal seine Frau.
«Ich war froh, dass sie mich erwischten», sagt er. «Der Knast hat mir das Leben gerettet.»
Roberto kam in Untersuchungshaft. Zunächst sagte er nichts von den früheren Überfällen, denn die Polizei hatte ihn lediglich für den letzten Vorfall geschnappt. Doch Roberto schlief immer noch nicht. «Dann merkte ich: Jetzt muss ich reden.» Er gestand nicht nur seine jüngste Tat, sondern auch die anderen Überfälle. Von da an ging es für ihn langsam bergauf.
Immer wieder im Gespräch kommt Roberto auf seine Frau zu sprechen. So auch jetzt: «Meine Frau kam jeden Sonntag», sagt er und zieht die Augenbrauen hoch: «Eine andere hätte mir schon längst einen Schutt in den Arsch gegeben. Aber sie nicht. Als sie mich das erste Mal besuchte, sagte sie: ‹Stark sein, es kommt alles gut.›» Das habe ihm sehr viel Kraft gegeben. Roberto wurde zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.
Zu Beginn war das Haftregime streng und Besuch durfte nur ein Mal pro Woche kommen. In dieser Zeit sah er seine Frau und seine Kinder nur durch eine Scheibe und durfte maximal eine halbe Stunde pro Woche telefonieren.
Durch die viele Zeit alleine habe er gelernt, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen und sich Hilfe zu suchen. Er musste während der Haftzeit in eine Psychotherapie und dank gutem Verlauf wurde er nach 30 Monaten auf Bewährung entlassen. Er habe während der Haft und unmittelbar danach keine einfache Zeit gehabt, sagt er. «Aber ich hatte auch Glück. Viele haben nichts, wenn sie aus dem Knast kommen. Kein Geld, keine Familie, keine Unterstützung.»
Auch Roberto hatte kein Geld – beziehungsweise einen sechsstelligen Betrag an Schulden. Aber er hatte eine Familie und grosszügige Unterstützung aus dem Umfeld, zum Beispiel von einem ehemaligen Arbeitskollegen. Die gute Beziehung zu ihm blieb auch über die Haftzeit bestehen und er bot ihm ab Tag 1 «nach dem Knast» eine Stelle in seinem eigenen Betrieb an. Und er erliess ihm seine Schulden bei ihm.
«Viele haben nichts, wenn sie aus dem Knast kommen. Kein Geld, keine Familie, keine Unterstützung.»Roberto
Auch im Dorf seien ihm die meisten Leute mit Respekt begegnet, sagt er. «Es gibt schon Leute, die nicht mehr mit mir geredet haben. Aber die meisten waren vor allem neugierig.» Sie wollten wissen, wie es im Knast war, wie die Überfälle abliefen, wie viel Geld er gestohlen hatte. «Offenbar zu wenig», sagt er dann jeweils scherzend zu den Leuten, «sonst wäre ich nicht im Knast gelandet.» Roberto gibt so zu verstehen, was er erzählen mag und was nicht. Die Details gingen nicht alle etwas an, findet er. Aber aus seiner Gefängnis-Vergangenheit macht er kein Geheimnis. «Ich will nicht mehr lügen», sagt er. «Jetzt bin ich wieder der Gleiche wie vor dem Glücksspiel.»
Dass Roberto heute mit beiden Beinen zurück im Leben ist, hat auch mit Strukturen zu tun, die ihm beim Wiedereinstieg nach dem Gefängnis geholfen haben. Staatlich organisiert stand ihm die Bewährungshilfe zur Seite, die Haftentlassenen zum Beispiel bei Dingen wie der Wohnungs- und Jobsuche hilft. Auf freiwilliger Basis holte sich Roberto zudem Hilfe von der Organisation Neustart.
Dieser Artikel erscheint im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit Neustart, ein gemeinnütziger Verein, der Beratung für Straffällige und deren Angehörige anbietet.
Mit dieser Unterstützung konnte Roberto Privatkonkurs anmelden, was ihm eine Verschnaufpause im Betreibungsstrudel verschaffte. So kann er seine Schulden langsam abzahlen. Noch heute meldet er sich ab und zu bei seiner*m damaligen Bewährungshelfer*in, wenn er eine Frage hat. Zuletzt hat ihn zum Beispiel die Jobsituation eines seiner Kinder besorgt. «Sie können mir nicht immer direkt helfen», sagt er. «Aber sie sagen mir dann, an wen ich mich wenden kann.»
Im Gefängnis habe er zudem gelernt, «den richtigen Leuten» zu vertrauen, sagt er. Von seinem ehemaligen Glücksspiel-Umfeld hat er sich getrennt. «Wenn wir uns sehen, grüssen wir einander. Aber es geht sehr schnell wieder ums Geld, um Gewinne und Verluste. Davon will ich nichts hören. Ich flüchte von diesen Leuten», erklärt er. Roberto hat gelernt, seine Sucht als solche anzuerkennen – und weiss, dass es für ihn nur ein Spiel bräuchte, um wieder angefixt zu sein. Die nächtlichen Abstecher zum Glücksspiel hat er ersetzt durch Spaziergänge mit seiner Frau. «Wir machen jeden Abend eine Runde», sagt er. Sie sprechen dann über das, was sie beschäftigt.
Und manchmal schauen sie auch einfach dem Dorf beim Lichterlöschen zu.
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*Hinweis: Roberto ist ein Pseudonym. Der Name ist der Redaktion bekannt.