Eine Insel der Freude

Das Musiktheaterstück des Kollektivs [in]operabilities holt eine fast 300 Jahre alte Oper einer Wiener Komponistin aus der Versenkung – und macht daraus ein vielsinnliches Gemeinschaftserlebnis. Bühne und Publikum teilen sich Menschen mit und ohne Seh- und Hörbehinderungen.

 Die vier Performer*innen im Wolkenmeer. Vlnr: Marie Sophie Richter, Leo Hofmann, Athena Lange, Sophia Neises.
Die vier Performer*innen im Wolkenmeer. Vlnr: Marie Sophie Richter, Leo Hofmann, Athena Lange, Sophia Neises. (Bild: Robin Hinsch)

Vor kurzem stellte Bajour die Frage des Tages in den Raum, ob Basler Musikinstitutionen anstelle der gängigen männlichen Komponistennamen nicht auch mehr Stücke von Komponistinnen aufführen könnten. Wie das gehen kann, war am Donnerstag im Gare du Nord zu erleben: Dort erweckte das Kollektiv [in]operabilities in seiner Produktion «Die Insel» totgeglaubte Musik der Wiener Komponistin Maria Theresia Paradis (1759–1824) wieder zum Leben. Die blinde Mozart-Zeitgenossin, die sich zu ihren Lebzeiten gegenüber ihren männlichen und sehenden Kollegen erfolgreich behaupten konnte, hatte vor knapp 300 Jahren auf ein Libretto des ebenfalls blinden Autoren Ludwig von Bazcko die Oper «Rinaldo und Alcina» geschrieben.

Weil davon nur noch der Text überliefert ist, hat das Produktionsteam um Regisseur Benjamin van Bebber und Composer-Performer Leo Hofmann das Stück kurzerhand neu komponiert. Das Aussergewöhnliche daran: Die Künstler*innen arbeiteten im Produktionsprozess nicht nur mit einer klassischen, sondern auch je mit einer seh- und einer hörbehinderten Dramaturgie zusammen. Unter den vier Performer*innen befanden sich – neben Hofmann und Opernsängerin Marie Sophie Richter – mit Schauspielerin Athena Lange ausserdem eine taube und mit Sophia Neises eine blinde Person.

Porträt der Komponistin Maria Theresia Paradis, gezeichnet von Faustine Parmantié.
Porträt der Komponistin Maria Theresia Paradis, gezeichnet von Faustine Parmantié. (Bild: ONB Bildarchiv Austria)

Im Zentrum der Geschichte stand eine Insel – die sogenannte «Insel der Freude». Auf dieser landet der Ritter Rinaldo (gespielt von Sophia Neises) und trifft auf die Zauberin Alcina (Athena Lange), die ihn verführt. Dies stellt sich als Schicksalsprobe heraus, in der

Rinaldo seine Treue zu Bradamanta (Leo Hofmann) beweisen soll, was ihm jedoch nicht gelingt. Als sich Rinaldo – infolge eines gottähnlichen Eingriffs von Astramond (Marie Sophie Richter), der zweiten Zauberfigur – reuig zeigt und sich mit Bradamanta versöhnen möchte, greift Alcina wieder ein und droht furios mit einem Verwandlungszauber. Es kommt zum grossen Kampf zwischen Alcina und Astramond (fantastisch moderiert von Hofmann als Box-Kommentator), der aber ohne klaren Sieg ausgeht – denn Rinaldo «braucht kein Happy End, [er] will weder sterben noch heiraten.»

3: Athena Lange als Zauberin Alcina am Theremin
Athena Lange als Zauberin Alcina am Theremin (Bild: Robin Hinsch)

Mit unterschiedlichen Mitteln wurde das Setting der «Insel» vielsinnlich und somit für alle erfahrbar gemacht: Bereits vor der Aufführung instruierte das Team die Besucher*innen in Gebärdensprache und Deutsch und begleitete dieses in den Konzertsaal. Um den Bühnenbereich war ringförmig die Publikumstribüne angeordnet, die mit speziellen Vibrationselementen bestückt war – diese liessen die Tribüne immer wieder erzittern und signalisierten so erhöhte Intensität. Ausgelöst wurden die Vibrationen unter anderem von den damit kabellos verbundenen Instrumenten, einem Cello, einem Theremin und einer Kalimba (letztere integriert in die Rüstung Rinaldos). Alle Personen im Publikum erhielten vor Beginn zudem eine taktile Landkarte, mit der sie die Insel tastend erkunden konnten.

 Die Opernsängerin Marie Sophie Richter begleitet die meisten Arien des Stücks am Cello.
Die Opernsängerin Marie Sophie Richter begleitet die meisten Arien des Stücks am Cello. (Bild: Robin Hinsch)

Immer wieder sangen oder sprachen die Performer*innen Audiodeskriptionen des aktuellen Bühnengeschehens, dazu waren die Kostüme teils so geschaffen, dass sie durch Bewegung markante raschelnde Geräusche erzeugten. Auf mehreren Videopanels wurden Gesangs- und Sprechtexte eingeblendet sowie Lichteffekte erzeugt. Dazu kamen eine Nebelmaschine, zwei aufgehängte Blechflächen sowie Windfächer in unterschiedlicher Grösse zum Einsatz – so wurde zum Beispiel der Sturm auf hoher See im 1. Akt umgesetzt.

Die Musikstücke waren im Stil von Paradis komponiert, klangen also eher nach Klassik als nach Neuer Musik. Meist begleitete Richter sich selbst und andere Performer*innen am Cello, in den oft vielstimmigen Arien wurden menschliche Gefühlszustände wie Glück, Liebe oder Enttäuschung besungen. Überhaupt thematisierte das Stück das Ausleben und die Verarbeitung von Emotionen ganz explizit – so resümierte am Schluss jede*r der Performer*innen, was sie*er durch die Aufführung erlebt und gelernt hat, zum Beispiel das Üben des um-Verzeihung-Bittens von Neises in der Rolle Rinaldos. Damit schloss das Ensemble den Kreis zum Anfang, als sich die einzelnen darstellenden Menschen vorstellten, indem sie dem Publikum ihre äusserlichen Charakteristiken und Vorlieben schilderten und erzählten, wie sie nach der Aufführung und der Verarbeitung dieser bei einem Getränk an der Bar zu Hause noch ein warmes Bad nehmen würden.

Mit Windfächern simulieren die Performer*innen einen Sturm, der Rinaldo auf die Insel treibt.
Mit Windfächern simulieren die Performer*innen einen Sturm, der Rinaldo auf die Insel treibt. (Bild: Robin Hinsch)

Die umrahmende Reflexion der Kunstform und der jeweils eigenen Rolle darin stand stellvertretend für die grosse Sensibilität des Produktionsteams für Funktion, Wirkung und Aspekte der Inklusion von Musiktheater. Durch das Zusammenwirken von Menschen mit und ohne Seh- und Hörbeeinträchtigungen entstand im Gare du Nord am Donnerstagabend eine besondere Stimmung, geprägt von Freundlichkeit, Rücksicht und kreativer Freude an der Kunst. Das tat allen Anwesenden sichtlich gut – solche Inseln der Freude sind in gefühlt schweren Zeiten Balsam für die Seele.

«Die Insel», Musiktheater/Performance des Kollektivs [in]operabilities – 16. Januar 2025 im Gare du Nord. Eine zweite Schweizer Aufführung findet im Rahmen des Sonic Matter Festivals am 1. Februar 2025 in der Gessnerallee in Zürich statt.

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