Endlich eine konkrete Hoffnung

Eine gezielte und radikale Eindämmung statt immer neue Lockdowns: Das fordert eine breit aufgestellte Gruppe von Wissenschaftler*innen aus ganz Europa in einem aussergewöhnlichen Aufruf.

Corona No covid Wochenzeitung

Dieser Artikel ist zuerst am 28. Januar 2021 in Die Wochenzeitung WoZ erschienen, wir durften ihn übernehmen. Merci! Die WoZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz. Hier kannst du die WoZ abonnieren und hier unterstützen.

Bisher lief der Umgang mit Sars-CoV-2 darauf hinaus, dass man mit dem Virus leben muss. Jetzt erklären über tausend europäische Wissenschaftler*innen diese Strategie für gescheitert. In einem beispiellosen Aufruf in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» fordern sie einen radikalen Strategiewechsel: «No Covid». Null Fälle.

«Die bisherige Strategie, ein gewisses Level an Infektionen zu erlauben, war falsch», so die Virologin Melanie Brinkmann, Mitinitiantin des Aufrufs, gegenüber der WoZ. «Die Eigenschaften dieses Virus erlauben ein solches Vorgehen einfach nicht – es wird uns immer wieder in den Lockdown zwingen.»

Bereits vor einem Monat hatte Brinkmann mit einer Reihe von Fachkolleg*innen im «Lancet» dazu aufgerufen, die Pandemie europaweit rigoros einzudämmen, weil andernfalls «mit weiteren Infektionswellen zu rechnen» sei. Die seither neu aufgetauchten Virusmutationen geben ihnen recht. Die britische Variante ist viel infektiöser, weshalb auch Länder, die es geschafft haben, die Reproduktionszahl unter 1 zu bringen, «trotz der derzeitigen Massnahmen mit einer neuen Welle der Virusausbreitung konfrontiert» werden, wie es im aktuellen Aufruf heisst.

Mit «No Covid» wollen die Wissenschaftler*innen den Menschen eine neue Perspektive geben.

Mit der hohen Viruszirkulation drohen weitere Mutationen, die noch ansteckender oder gar tödlicher sein könnten oder vor denen bestehende Impfstoffe nicht genügend schützen. Ob überhaupt eine länger andauernde Immunität möglich ist, ziehen die jüngsten Coronaausbrüche im brasilianischen Manaus in Zweifel.

Dort hatten sich während der ersten Welle rund siebzig Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert. Und auch die schweren Langzeitfolgen, die selbst bei jungen und nur leicht Erkrankten gehäuft auftreten, machen deutlich, wie vordringlich es ist, die Fallzahlen möglichst rasch und kompromisslos zu reduzieren.

Grüne Zonen

Ein Weiterwursteln wie bisher wäre gesellschaftlich fatal, warnen die Wissenschaftler*innen: «Je länger Einschränkungen andauern und je weniger wirksam sie werden, desto mehr werden die psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen der Menschen erschöpft.» Ausserdem liessen sich die fortgesetzten massiven Einschränkungen von Grundrechten so immer weniger legitimieren.

Mit «No Covid» wollen die Wissenschaftler*innen den Menschen eine neue Perspektive geben: «‹No Covid› führt uns heraus aus den Zyklen der (Wieder-)Einführung und Aufhebung von Verboten und Grundrechtseinschränkungen», lautet das Versprechen. Die Initiative schaffe ein «neues Narrativ, das die Bevölkerung einbezieht und mitnehmen soll: Es gilt, das Virus gemeinsam und vollständig niederzuringen.» Dazu sollen in einem ersten Schritt die Infektionszahlen rasch auf null gesenkt werden. Regionen, die dieses Ziel erreicht haben, werden zu Grünen Zonen, in denen man sich wieder frei von Restriktionen bewegen kann. Ein rigoroses Ausbruchsmanagement soll dafür sorgen, dass dies so bleibt.

Die «No Covid»-Strategie stelle die einzige nachweisbar wirksame Massnahme dar, um die Pandemie in absehbarer Zeit nachhaltig zu kontrollieren.

Die Strategie, die das Virus bezwingen soll, setzt auf bekannte Massnahmen, die aber konsequenter umgesetzt und auch präventiv angewandt werden: testen, verfolgen, isolieren – und impfen. Damit sich alle an die Massnahmen halten, sollen Betroffene unbürokratisch unterstützt werden. Das Konzept der Grünen Zonen ist bereits in Australien und Neuseeland erfolgreich angewandt worden, wie ein interdisziplinäres deutsches Forscherteam um Brinkmann in einem auf «Zeit Online» veröffentlichten Papier darlegt.

Als Vorbild dient ein vierstufiger Massnahmenplan der Vier-Millionen-Metropole Melbourne, wo es Bevölkerung und Behörden nach einem rigorosen Lockdown, der die täglichen Fallzahlen auf 10 pro 100'000 drückte, in nur vier Wochen schafften, zur Grünen Zone zu werden. Mithilfe australischer Expert*innen soll dieser Massnahmenplan nun auf europäische Verhältnisse adaptiert werden.

Eine*r für all*e? Alle für eine*n!

Die «No Covid»-Strategie stelle nach aktuellem Kenntnisstand die einzige nachweisbar wirksame Massnahme dar, um die Pandemie in absehbarer Zeit nachhaltig zu kontrollieren, resümieren die Wissenschaftler*innen. Den vergangene Woche im «Lancet» publizierten europaweiten Aktionsplan unterstützen namhafte Forscher*innen und Expert*innen aus aller Welt. Eine eigene Website (containcovid-pan.eu) dokumentiert die «No Covid»-Strategie und ihre wachsende Anhänger*innenschaft und liefert darüber hinaus zahlreiche Hintergrundinformationen zur wissenschaftlichen Grundlage der Strategie.

Ein europaweiter solidarischer Shutdown

Mit der Initiative «Zero Covid», die auf der Basis des ersten Aufrufs im «Lancet» Ende Dezember entstanden ist und einen europaweiten solidarischen Shutdown verlangt, erhält «No Covid» auch aus der breiten Bevölkerung Unterstützung (siehe WoZ Nr. 3/2021). Wobei «Zero Covid» die Überwindung der Pandemie noch mit weitergehenden sozial- und wirtschaftspolitischen Forderungen verknüpft.

Seit vergangener Woche arbeitet das interdisziplinäre Wissenschaftsteam um Melanie Brinkmann intensiv daran, die Machbarkeit der «No Covid»-Strategie aufzuzeigen. «Wir wollen wieder Hoffnung geben, indem wir aufzeigen, dass es tatsächlich möglich ist, diesen neuen Weg zu gehen», so Brinkmann. «Andere Länder haben es auch geschafft, warum sollten wir es nicht schaffen?»

Das könnte dich auch interessieren

Matthias Geering

Valerie Wendenburg am 18. Dezember 2024

«Politik kann Position beziehen. Wir möchten das explizit nicht»

Es war ein bewegtes Jahr an der Uni Basel: Im Mai wurden mehrere Gebäude besetzt und auch heute beschäftigt die Debatte über den Nahostkonflikt die Institution. Zudem wurden Vorwürfe wegen sexueller Belästigungen laut, die mehrere Jahre zurückliegen. Mediensprecher Matthias Geering blickt im Interview auf die Geschehnisse zurück.

Weiterlesen
Universität Basel

Valerie Wendenburg am 10. Dezember 2024

Uni Basel wagt Diskurs in geordnetem Rahmen

Was kann die Wissenschaft dazu beitragen, um den Nahostkonflikt einzuordnen? Auf einem Podium im Kollegienhaus wird am Mittwoch über das Thema debattiert – es ist der erste grosse öffentliche Anlass, den die Universität seit den Besetzungen im Frühsommer auf die Beine stellt.

Weiterlesen
Universität Basel

Valerie Wendenburg am 14. Oktober 2024

Abhängigkeiten und Konkurrenzdruck

Es kommt Bewegung in die Reform des Mittelbaus an der Uni Basel. Noch im Oktober wird im Grossen Rat über einen Vorstoss für bessere Arbeitsbedingungen abgestimmt und die Uni hat eine Stelle geschaffen, die sich der Reform annimmt.

Weiterlesen
Nora Artico

Ruben Boss am 18. September 2024

«Der Preis ist ein kleines Geschenk von mir an mich»

Gymnasiastin Nora Artico aus Münchenstein hat in ihrer Maturarbeit bisher unbekannte Viren entdeckt, die antibiotikaresistente Bakterien bekämpfen können. Ihre Entdeckung könnte viele Menschenleben retten. Dafür wurde die 20-Jährige als Nachwuchswissenschaftlerin ausgezeichnet.

Weiterlesen

Kommentare