«Wenn die Uni kein geschützter und sicherer Ort mehr ist, haben wir ein Problem»
Neuerdings steht Security vor der Tür, wenn Historiker Erik Petry seine Vorlesung über Israel an der Uni Basel hält. Der stellvertretende Leiter des Zentrums für Jüdische Studien ordnet die aktuelle Debatte um Wissenschaftsfreiheit ein und erklärt, wo aus seiner Sicht die Gesinnungsprüfung beginnt.
Erik Petry, Ihre Vorlesung über die Geschichte Israels wird seit zwei Wochen durch Mitglieder der Marxist Society beeinträchtigt. Vor dem Hörsaal wurden Flyer verteilt und Parolen gerufen. Hat sich die Situation entspannt?
Entspannt hat sie sich nicht, da vergangenen Mittwoch am Ende der Vorlesung eine Person im Hörsaal aufstand. Sie kritisierte die Vorlesung und rief Parolen. Das war eine neue Situation für die Studierenden und mich. Ich habe versucht, mit der Person zu sprechen und auf die Kritik zu reagieren, das war aber nicht möglich. Es hätte keinen Sinn gemacht, sie darum zu bitten, den Hörsaal zu verlassen, da die 150 bis 200 Studierenden ohnehin gerade gehen wollten.
Sind Vorfälle dieser Art neu?
Seit zwei Wochen stehen zwei Securitys vor der Tür des Hörsaals, weil das Verteilen von Pamphleten und nicht universitätsgebundenen Zeitungen auf dem Uni-Gelände nicht gestattet ist. Eine solche Situation habe ich in meiner jetzt fast 26-jährigen Tätigkeit in Basel noch nicht erlebt. Die aktuellen Zwischenfälle sorgen auch innerhalb des Hörsaals für eine angespannte Stimmung. Die Uni ist ein Safe Space. Ein geschützter Raum, in dem kritische Fragen diskutiert werden und an dem sich die Studierenden sicher fühlen sollen. Ich weiss nicht, ob die Person studiert, ob sie überhaupt zur Vorlesung angemeldet ist. Wenn so ein offener Protest innerhalb der Vorlesung stattfindet, sorgt das für Unsicherheit.
Erik Petry, Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte, ist stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel. Er forscht und lehrt vor allem zur Geschichte der Jüd*innen in Deutschland und der Schweiz in der Neuzeit, zu Zionismus, der Geschichte des Antisemitismus und des Nahen Ostens. Im Jahr 1997 war Petry Projektkoordinator der Ausstellung «100 Jahre Erster Zionistenkongress in Basel». Er ist seit Oktober 1998 am Zentrum für Jüdische Studien, zuerst als wissenschaftlicher Assistent, seit August 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Seit 2003 ist Petry zudem Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Judaistische Forschung.
Wie geht es weiter? Halten Sie weiterhin Vorlesungen unter Schutzmassnahmen?
Ich denke schon. Die Security wird sicherlich weiterhin anwesend sein. Das wird seitens der Universität geregelt, mit der ich laufend im Gespräch bin.
Sind Sie verunsichert? Sie wissen ja nicht, was in der kommenden Vorlesung passiert.
Das ist so. Der Vorfall vom letzten Mittwoch wurde vorher auf der Homepage der Vereinigung angekündigt, ich habe aber zu spät davon erfahren. Grundsätzlich weiss ich nicht, was passiert. Das schafft eine Situation, die wir aus dem Umgang auch mit Gewalt kennen. Der oder die «Angreifer*innen» sind immer in gewisser Weise im Vorteil, da sie proaktiv handeln.
«Wenn sich Leute aus Angst nicht mehr in die Vorlesung trauen würden, dann wären wir mit einer höheren Eskalationsstufe konfrontiert.»Erik Petry, Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte
Was hiesse das?
Dann müsste die Uni sich überlegen, wie sie damit umgeht. Es wäre eine grosse Herausforderung. Ich mache sehr viele Veranstaltungen auf allen Ebenen zum Thema Israel. Die Studierenden müssen sich sicher sein können, dass sie nicht verbal angegriffen werden und dass ihnen niemand ein Pamphlet in die Hand drückt, wenn sie das nicht möchten. Hier beginnt bereits die physische Gewalt. Wenn die Uni kein geschützter und sicherer Ort mehr ist, haben wir ein Problem.
Äussern Sie sich auch nach dem 7. Oktober noch öffentlich zum Nahostkonflikt?
Ich äussere mich nach wie vor in der Öffentlichkeit zu den Themen, in denen ich eine Expertise habe. Zum Beispiel zum Thema Israel, zu Antisemitismus oder zur Geschichte des Nahen Ostens. Ich habe nicht den Eindruck, dass es heikler geworden ist, sich zu äussern. Die Anfragen sind aber mehr geworden. Ich sehe es als Teil meiner wissenschaftlichen Arbeit, nicht nur in meinem Elfenbeinturm zu sitzen, sondern auch rauszugehen, zu vermitteln und mit Leuten ins Gespräch zu kommen.
Ist die Toleranzschwelle in öffentlichen Debatten gesunken?
Ich beobachte im Moment eine stark polarisierte Diskussion. Mir scheint, als käme nun vieles an die Öffentlichkeit, was schon immer da war. Dieses Schwarz-Weiss-Denken ist nicht neu. Seit dem 7. Oktober sind die Leute emotional aufgebrachter. Viele zeigen ihre Solidarität für eine Seite, ohne die Perspektive der anderen Seite zu sehen. Es erschreckt mich, was zurzeit an Antisemitismus geäussert wird. Aber ich kann nicht sagen, dass es mich überrascht.
Wie schätzen Sie die Debatte um Swisspeace ein? Der Kanton Baselland zahlt keine Gelder an die Schweizerische Friedensstiftung, nachdem sich deren Direktor Laurent Goetschel im SRF «Club» kritisch über ein Hamas-Verbot geäussert hat.
Hier vertritt unser Zentrum eine klare Meinung. Es ist problematisch, wenn politische Aussagen einzelner Personen, die kontrovers sein mögen, zu solch drastischen politischen Schritten führen. Anders wäre die Lage, wenn die Aussagen konspirativ, menschenverachtend oder gewaltlegitimierend wären. Das ist aber nicht der Fall. Was da gelaufen ist, ist eine sehr unglückliche Geschichte. Laurent Goetschel ist eine wichtige Stimme im aktuellen Diskurs. Über seine Äusserungen kann man diskutieren, aber diese Reaktion seitens der Politik ist nicht nachvollziehbar. Ich hoffe, dass es eine Lösung geben wird.
Das Thema Wissenschaftsfreiheit wirft auch gesellschaftliche Fragen auf, etwa: Wie objektiv muss die Wissenschaft sein? Wo liegt die Grenze zur Meinungsfreiheit? Am Mittwoch, 17. April, um 19.30 Uhr werden Astrid Epiney, Rechtswissenschaftlerin der Uni Fribourg, Margit Osterloh, Wirtschaftswissenschaftlerin und Crema-Forschungsdirektorin, Laurent Goetschel, Direktor Swisspeace und Politikwissenschaftler Uni Basel, und Pascal Ryf, Landratspräsident BL, Die Mitte, über diese Fragen diskutieren. Die Moderation übernimmt Bajour-Redaktorin Valerie Wendenburg.
Wo liegen die Grenzen? Welche Aussagen können Wissenschaftler*innen machen und welche nicht?
Es muss Konsequenzen haben, wenn man gegen die allgemeine Wissenschaftsethik und wissenschaftliche Integrität verstösst. Dass es auch in der Wissenschaft scharfe Auseinandersetzungen zu gewissen Themen gibt, ist klar und auch wichtig. Kritisch betrachte ich den Fall des Dozenten aus Bern, der am Tag des Anschlags der Hamas gegen Israel diesen als «bestes Geschenk» bezeichnete. Die Aussage überschreitet eine Grenze, sie hat im universitären Umfeld nichts zu suchen. Mir erscheint es wichtig, keine Partei zu ergreifen.
Was heisst das genau?
Wir am Zentrum für Jüdische Studien werden klar mit Israel assoziiert. Viele Leute denken auch, am Zentrum arbeiten nur jüdische Personen, was überhaupt nicht der Fall ist. Uns ist es wichtig, objektiv zu sein und ein ausgewogenes Programm anzubieten. Wir haben einen wissenschaftlichen Anspruch, den wir vor allem unseren Studierenden schuldig sind. Wir möchten ihnen ein breites Spektrum bieten.
Gibt es Vorgaben, was an Universitäten gesagt werden darf und was nicht? Eine Art Gesinnungsprüfung würde die Forschungsfreiheit gefährden.
Ich persönlich hätte das Gefühl, einer Gesinnungsprüfung zu unterliegen, wenn mir jemand vorschreiben würde, was ich zum Beispiel in meiner Vorlesung sagen darf und was nicht. Ich habe das hier in Basel selber noch nie erlebt.
Wie weit ist Aktivismus an Unis zulässig? Dieser wurde ja den Urban Studies in Basel zum Teil vorgeworfen.
Die ethischen Standards müssen eingehalten werden. Das Dokument «Racial Justice Commitment», das auf der Unter-Website der Urban Studies publiziert wurde, ging einen Schritt zu weit. Zionismus wurde mit diskriminierenden Ideenlehren wie mit Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder Islamophobie gleichgesetzt. Man kann über Zionismus diskutieren, aber diese Aussage wurde dem universitären Anspruch nicht gerecht.
Ist es für Forscher*innen schwer, hier eine Grenze einzuhalten?
Ich denke nicht. In dem Moment, in dem ich mich politisch engagiere, muss ich aufpassen, dass ich meinen wissenschaftlichen Weg nicht verlasse. Ich äussere mich in Basel nie zu anderen Themen, in denen ich keine Expertise habe. Ich bin in keiner Partei und ich würde keinen Aufruf unterschreiben. Wir sind als Universität ein Teil der Öffentlichkeit. Und da ist es aus meiner Sicht klar, dass ich mich an diese Grundsätze halte.
Fühlen Sie sich von der Universität ausreichend geschützt?
Wir sind immer im Gespräch mit der Unileitung und gerade zurzeit in einem sehr guten Austausch. Ich fühle mich sehr unterstützt, auch hinsichtlich der Vorfälle rund um meine Vorlesung über Israel. Da hat die Uni sehr schnell reagiert.
Das Zentrum für Jüdische Studien wurde 1998 von der Stiftung für Jüdische Studien gemeinsam mit der Universität Basel gegründet. Es verantwortet das Studienfach Jüdische Studien an der Philosophisch-Historischen Fakultät sowie den Schwerpunkt Judentum innerhalb der Theologischen Fakultät. Die administrative Zuständigkeit für das Zentrum für Jüdische Studien liegt bei der Theologischen Fakultät. Leiter des Zentrums für Jüdische Studien ist Alfred Bodenheimer, Erik Petry ist sein Stellvertreter.
Am 8. April feiert das Zentrum für Jüdische Studien sein 25-jähriges Jubiläum unter Sicherheitsvorkehrungen. Sind das Vorsichtsmassnahmen oder haben Sie Drohungen erhalten?
Es gibt keine konkreten Drohungen. Eigentlich wollten wir im November feiern. Damals haben wir den Anlass aufgrund von Sicherheitsbedenken abgesagt. Jetzt hat die Universität beschlossen, dass der Anlass sicherheitshalber mit einer Anmeldung stattfindet. Das hat für uns auch organisatorische Vorteile.
Was hat sich am Zentrum für Jüdische Studien seit dem 7. Oktober verändert?
Unser Leiter Alfred Bodenheimer und eine weitere Forscherin waren zum Zeitpunkt des Hamas-Angriffs in Israel. Das war eine schwierige Situation, weil wir gar nicht wussten, was passiert, wie und ob sie zurück in die Schweiz kommen können. Seit letztem Herbst tauschen wir uns vermehrt mit Leuten aus. Wir suchen das Gespräch, versuchen Fragen zu beantworten. Es kommen sehr viele Anfragen von Medien, Schulen und Leuten aus der Politik. Wir sprechen intern auch viel über die aktuellen Geschehnisse und bringen je nach Hintergrund verschiedene Perspektiven ein. Denn es gibt ja nicht nur eine Meinung innerhalb des Schweizer Judentums. Oder eine israelische Meinung. Auch hier wird intern diskutiert. Uns ist wichtig, im Gespräch zu bleiben und dort aufzuklären oder weiterzuhelfen, wo es uns möglich ist.
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