«Es braucht mehr Wertschätzung für unseren Beruf»

Für Pflegefachfrau Eveline Plattner-Gürtler braucht es jetzt nicht nur punktuelle Lohnanpassungen. Sondern einen strukturellen Wandel im Gesundheitssystem.

Pflegefachfrau Eveline Plattner Gürtler
Zur Person

Eveline Plattner-Gürtler (49) ist gelernte Pflegefachfrau, Expertin Intensivpflege, Wundexpertin und Mutter von vier Kindern. Sie arbeitet als Pflegende auf der Intensivstation eines regionalen Spitals, führt zusammen mit ihrem Mann eine Hausarztpraxis in Gelterkinden und ist Mitbegründerin des Wundnetzwerks Nordwestschweiz, des Vereins Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet und der IG besondere Kinder und Schule.

Im März wurde ich, wie viele ehemalige Fachexpertinnen Intensivpflege, auf die Intensivstation eines Kantonsspitals zurückgeholt – nach vielen Jahren. Damals war ich gezwungen, zu kündigen: Ich hatte kurz nacheinander zwei Kinder bekommen und wollte Teilzeit arbeiten. Nicht möglich, hiess es.

Als ich im März mitbekam, wie viele Spitäler händeringend nach Personal suchten, meldete ich mich und fing mit einem 50-Prozent-Pensum wieder an zu arbeiten. Das zeigt: Unter gewissen Umständen ist Teilzeitarbeit heute möglich. Zu spät?

Viele meiner Kolleg*innen sind inzwischen aus dem Beruf ausgestiegen, weil die Bedingungen in den Institutionen nicht familienfreundlich genug waren. Mit ihnen gingen wertvolle Ressource im Gesundheitssystem verloren.

«In den Medien wird immer von ‹den Pfleger*innen› gesprochen, dabei gibt es so viele unterschiedliche Disziplinen mit unterschiedlichen Belastungen.»

Der Wiedereinstieg auf der Intensivstation klappte zum Glück gut. Aber wir müssen mehr und deutlicher kommunizieren als früher. Denn unter der Schutzkleidung sehen alle gleich aus und das führt zu Verwechslungsgefahr, im schlechtesten Fall zu Missverständnissen.

Jede*r erledigt, was den Kompetenzen entsprechend möglich ist. Auch zuhause. In der Hausarztpraxis habe ich für den Transfer in den alten Job die Geschäftsführung abgegeben. Unsere grossen Kinder kochen und packen im Haushalt mit an. Ohne meine Familie hätte ich diesen Wechsel kaum geschafft, dafür bin ich ihr dankbar.

Differenzieren wäre gut

In den vergangenen Monaten, die ich bis jetzt auf der Intensivstation verbrachte, wurde mir vor allem eines klar: Es braucht mehr Wertschätzung für unseren Beruf. Auch für Spezialstudiengänge und Zusatzausbildungen. In den Medien wird immer von «den Pfleger*innen» gesprochen, dabei gibt es so viele unterschiedliche Disziplinen mit unterschiedlichen Belastungen.

Der Beruf der Pflegefachperson sollte deshalb endlich vom Status wegkommen, ein «Hilfsberuf» zu sein. Gute Entwicklungsmöglichkeiten sollten selbstverständlich zum Jobprofil gehören. Unsere Pflegeinitiative hat unsere gemeinsamen Anliegen gut zusammengefasst!

Wir reden jetzt von Lohnanpassungen in der Covid-Zeit: Das ist eine gute Idee, eine Geste der Wertschätzung zu zeigen! Gute Karrierechancen kosten. Aber sie zahlen sich auch aus.

«Wir steuern auf einen Pflegenotstand zu!»

Ein Gesundheitssystem, das primär rentieren muss, hat leider ein paar grosse Stolpersteine. Ambulante Leistungen müssen zum Beispiel mehr rentieren als stationäre, was mit der Einführung der DRG, einem pauschalisierenden Abrechnungssystem, vor acht Jahren noch verstärkt wurde,

Es ist nicht richtig, das System immer mehr auszupressen wie eine Zitrone und bei der Pflege einzusparen. Man muss dem Personal Sorge tragen.

Was gibt es für Möglichkeiten?

Ich bin zum Beispiel dafür, dass man eine Art Überbesetzung anstrebt. Man kann es als betriebswirtschaftliches Umdenken ansehen. So, dass Ausfälle gut und flexibel aufgefangen werden können, z.B. bei Schwangerschaft, Krankheit oder dem Bedürfnis nach einer längeren Urlaubszeit. Allenfalls bräuchte es auch fachübergreifende multifunktionale Teams, wie gewisse Spitäler sie in einem sogenannten «Pool» bereits längst intern oder von extern einsetzen.

Auch die Spitex und Heime brauchen flexible Einsatzkräfte. Aber es gibt insgesamt zu wenig Pflegende und die Personalschlüssel sind mancherorts zu knapp berechnet. Wir steuern auf einen Pflegenotstand zu!

«Man kann Kranke nur pflegen, wenn man selbst gesund ist.»

Personalknappheit führt zu Unzufriedenheit auf allen Seiten. Die Fluktuation ist sehr hoch. Die jungen Fachangestellten Gesundheit (viele von ihnen sind knapp 16 Jahre alt) werden manchmal zu wenig betreut, sind personell unterbesetzt und sehr gefordert. Das darf nicht sein. Wir müssen mehr Sorge zu ihnen tragen. Man muss das Pflegepersonal unterstützen, damit es gesund bleibt. Man kann Kranke nur dann pflegen, wenn man selbst gesund ist.

In unserer Hausarztpraxis bekomme ich eine andere Seite von Corona mit: Regelmässig brechen Patient*innen in Tränen aus, wegen Zukunftsängsten, finanzieller Not und mangelnder Perspektive. Viele Jugendliche machen sich Sorgen um ihre Eltern oder umgekehrt.

Ängste und Sorgen sind auch bei älteren Menschen ein Thema, weil sie sich einsam und nutzlos vorkommen. Oft ist deren einziger Kontakt der tägliche Spitexbesuch: Einmal rasch Blutdruck messen und gleich wieder raus aus der Tür. Kommt eine Quarantäne hinzu, wird alles noch komplexer. Es entsteht eine regelrechte Isolation.

Wie könnten wir die Solidarität gewinnbringend nutzen?

In belastenden Situationen hilft es mir, wenn ich mich mit anderen austauschen oder erfinderisch werden kann. Kürzlich habe ich auf Facebook vorgeschlagen, ob man nicht die Arbeitskraft von Arbeitslosen auch in Institutionen wie Spitex und Heimen nutzen könnte. Darauf meldeten sich mehrere Personen und sagten, sie seien dafür sofort zu haben.

Wir sind auch für fast alles zu haben.

Leider stehen bürokratische Hürden im Weg: Gilt dieser Einsatz als Ehrenamt? Wer kann die Einsätze finanzieren und, vor allem, koordinieren? Kann man ihn von den Steuern abziehen? Wer zahlt die Versicherung? Der direkte Kontakt mit Patient*innen braucht natürlich Expert*innen, aber es gibt rundherum genug zu tun, was die Pflegenden entlasten könnte.

Ich bleibe mit Fragen zurück: Wie können wir die Solidarität nutzen, die diese Krise hervorgerufen hat? So viele Menschen stehen heute, wie schon während der ersten Corona-Welle, ohne Beschäftigung da. Wie könnten sie sich einsetzen? Was gibt es für kreative, wirtschaftliche Lösungen? Es gibt so viel Potenzial in unserer Gesellschaft, das brach liegt. Einige Hilfsprojekte haben sich bereits gegründet, es sind Lichtblicke.

«Wir Pflegenden sind gezwungen, immer wieder den Spagat zwischen ethischen Idealen und Spardruck-Versorgungspflicht zu üben.»

Es tut mir leid, zu sehen, wie Menschen mit unheilbaren Diagnosen derzeit in Institutionen sterben. Ihre Angehörigen dürfen sie wegen der Corona-Massnahmen nicht besuchen und sich somit auch nicht verabschieden.

Wir Pflegenden sind gezwungen, immer wieder den Spagat zwischen ethischen Idealen und Spardruck-Versorgungspflicht zu üben. Ich will die Politik aufrufen, die Pflege zu stärken. Sie engagieren sich damit auch für zentrale Werte: Würde, Menschlichkeit und ein qualitativ hochstehendes Gesundheitssystem. Es lohnt sich, diese ethischen Grundwerte weiterhin ins Zentrum unseres Handelns zu stellen.

Die Bevölkerung hat unsere Anliegen gehört, die wir mit der Pflegeinitiative bereits vor Corona bekundet haben. Nach Corona gilt es, die Pflege tatsächlich langfristig zu stärken, weil gut ausgebildete Pflege Leben rettet und eine sinnvolle, ja buchstäblich lebenswichtige Investition ist.

Aufgezeichnet von: Naomi Gregoris

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