In den Abfall oder in den Mund?
Viele Menschen schmeissen ihre vermeintlich abgelaufenen Lebensmittel zu früh in den Müll – streng nach Mindesthaltbarkeitsdatum und ohne zu probieren. Der Verein foodwaste.ch setzt sich für mehr Aufklärung zu verschwendeten Lebensmitteln ein.
Ein kurzer Blick auf das Datum der Verpackung und schon landet das ungeöffnete Joghurt im Müll, obwohl es noch gut ist. Das ist nur eine der vielen kleinen Ursachen für die riesige Lebensmittelverschwendung bzw. den Food Waste in der Schweiz. Etwa ein Drittel aller Lebensmittel gehen entlang der gesamten Lebensmittelkette verloren – von der Ernte oder Tierhaltung über die Verarbeitung bis hin zu Supermarktregalen, Restaurants und auch bei uns zu Hause.
Die Verschwendung von Lebensmitteln verursacht schwerwiegende Umweltprobleme. Deshalb hat sich die Schweiz das Ziel gesetzt, diese bis 2030 zu halbieren. Und das Mindesthaltbarkeitsdatum, das für eine sicheren Genuss gedacht ist, trägt zur Verschwendung bei.
Es gibt nämlich einen kleinen Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum. Während Lebensmittel nach Ablauf des Verbrauchsdatums nicht mehr konsumiert werden dürfen, kann man sie nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatum unbesorgt essen, solange sie noch frisch riechen und nicht offensichtlich hinüber sind wie die übel riechende Milch.
Nicht alle kennen den Unterschied. Und noch weniger wissen, dass Supermärkte, Hofläden und Co. seit 2021 Lebensmittel auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums verkaufen dürfen. Das geht, wenn Produkte visuell geprüft und spezifisch gekennzeichnet wurden. Das Ganze nennt sich verlängertes Mindesthaltbarkeitsdatum und wird mit MHD+ abgekürzt.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür wurden im Auftrag des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen in zwei Leitlinien festgelegt. Auch wurde es den Läden ermöglicht, beispielsweise Fleisch oder Fertiggerichte am letzten Tag des Verbrauchsdatums einzufrieren und für weitere 90 Tage im Verkauf anzubieten. Allerdings sollen diese innerhalb von 24 Stunden nach dem Auftauen verwertet werden.
Nach einer Marktanalyse wird auch die Umdatierung einiger Lebensmittel empfohlen. Somit können Produkte mit Verbrauchsdatum nun mit einem Mindesthaltbarkeitsdatum datiert werden. Dabei geht es hauptsächlich um Milch und Milchprodukte wie Joghurt, Frischkäse, Butter etc. Das gibt Händlern*innen mehr Spielraum beim Verkauf, aber auch bei Lebensmittelspenden.
Die Leitlinien inklusive MHD+ sollen dazu beitragen, weniger Lebensmittel im Detailhandel und auch in den Haushalten zu verschwenden. Wie das genau funktionieren soll, erklärt Erika Bauert vom Verein foodwaste.ch.
«Wir müssen wieder Vertrauen in unsere eigenen Sinne entwickeln.»Erika Bauert vom Verein foodwaste.ch
Der Verein gründete sich 2012 als Reaktion auf alarmierend hohe Zahlen zur Lebensmittelverschwendung in der Schweiz. Seitdem will er Konsument*innen aufklären und sie motivieren, wertschätzend mit Lebensmitteln im Haushalt umzugehen. Der Verein wolle zudem «Sicherheit im Umgang mit Lebensmitteln geben», sagt Bauert.
Was das bedeutet, konnten Besucher*innen der Health Expo, die im Februar in Basel stattfand, feststellen. Am interaktiven Stand konnte man Schokolade verkosten. Einmal vor und einmal nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Dabei sollten die Tester*innen ihre Sinne zur Beurteilung der Eigenschaften der Schokolade benutzen. Denn: «Wir müssen wieder Vertrauen in unsere eigenen Sinne entwickeln», betont Bauert.
2023 hat foodwaste.ch eine Initiative zu den Haltbarkeits-Leitlinien ins Leben gerufen. Bauert ist Leiterin des Projekts für den Detailhandel. Für Läden, die Produkte mit einem MHD+ anbieten möchten, haben sie einheitliche Etiketten entwickelt.
Anstatt die Lebensmittel nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums zu entsorgen, erhalten sie ein passendes Etikett und können so (oft zu einem reduzierten Preis) weiterhin verkauft werden. Dabei wurde in den Leitlinien des Bundesamtes für Lebensmittel (BLV) festgelegt, um wie viele Tage das Datum spezifischer Lebensmittelgruppen verlängert werden darf. «Die Lebensmittelsicherheit wird dabei nicht vernachlässigt», betont Bauert. Sie erhofft sich eine Wechselwirkung, so dass auch weniger Lebensmittel im Haushalt verschwendet werden.
Via QR-Code auf dem Etikett gelangt man auf die Webseite des Vereins, wo Konsument*innen mehr über die Haltbarkeit von Lebensmitteln erfahren. «Diese Datenbank ist einzigartig in Europa», sagt Bauert. Neben Tipps für die Küche und Anweisungen für eine geeignete Lagerung soll auch das Vertrauen in die eigenen Sinne gestärkt werden – genauso wie beim Test mit der Schokolade. Dafür haben die einzelnen Produkte eine Sensorik-Ampel, an der man ablesen kann, wie beispielsweise ein gutes Ei aussieht, riecht und schmeckt.
Das MHD+-Projekt wird unter anderem vom Kanton Basel-Stadt finanziell unterstützt. Derzeit machen in der gesamten Schweiz rund 4’500 Detailhändler*innen und Hofläden mit – davon 23 in Basel. Seit November kann man die grünen Etiketten auch bei Spar entdecken. Vielleicht haben es trotzdem erst wenige gesehen, denn Coop und Migros machen bei dem Projekt nicht mit.
Die beiden Riesen haben gemeinsam einen Marktanteil von insgesamt 78,2 Prozent und bilden die IG (Interessengemeinschaft) Detailhandel. Auf Nachfrage erklären Migros und Coop, dass sie eigene Projekte zur Vermeidung der Lebensmittelverschwendung verfolgen. In der IG Detailhandel hätten sie das Projekt überprüft und wegen eines erhöhten Haftungsrisikos abgelehnt. Andere Grossverteiler wie Spar und Top CC verwenden die Etiketten von foodwaste.ch. Erika Bauert würde sich wünschen, dass weitere Grossverteiler folgen.
Aufklärungsarbeit wie die von foodwaste.ch kann helfen, reicht alleine aber nicht. Der Detailhandel verursacht rund zehn Prozent der gesamten Lebensmittelverschwendung in der Schweiz – dabei ist z. B. der Food Waste in der Produktion nicht eingerechnet. In privaten Haushalten sind es 28 Prozent. Selbst wenn diese beiden Bereiche ihre Verschwendung auf Null setzen würden, hätte die Schweiz ihr Ziel, den Food Waste von jährlich 2,8 Millionen Tonnen zu halbieren, noch nicht erreicht. Dazu hat das Land sich – ähnlich wie alle anderen Uno-Mitgliedsstaaten – mit ihren globalen Nachhaltigkeitszielen in der Agenda 2030 verpflichtet. Aus Sicht von Erika Bauert braucht es deshalb noch mehr Massnahmen.
Damit weniger Essen im Müll landet, können nicht nur die privaten Konsument*innen etwas ausrichten, sondern alle entlang der Lebensmittelkette. Bei der Verarbeitung von Lebensmitteln etwa landen 35 Prozent im Müll, bevor sie überhaupt in die Läden kommen. Am Freitag präsentierte Coop die neue Eigenmarke Nice to Save Food, mit der weniger Lebensmittel in der Produktion verschwendet werden sollen. Bei der Verarbeitung fallen jedoch auch Reste wie Innereien oder Molke an, die nicht verwertet werden und dadurch die Umwelt belasten. Zudem braucht die Produktion von einem Kilo Kartoffeln viel weniger Ressourcen als die Herstellung von einem Kilo Rindfleisch. Wenn tierische Produkte in der Tonne landen, hat das tendenziell also einen grösseren Einfluss auf die Umwelt. Deswegen wurde im Schweizer «Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung» die Reduktion von tierischen Produkten als eine Priorität definiert. Das Sortiment umzustellen, könnte helfen. Denn was nicht angeboten wird, muss erst gar nicht produziert werden.