Bajour-Leser*innen fordern freie Schulwahl

Die Geschichte von Laurin sorgte in der Bajour-Community für Diskussionen. Mehrere Leser*innen forderten, der Kanton solle Kindern die Privatschule finanzieren.

Schule
Für Laurin* (Name geändert) war die integrative Volksschule nicht der richtige Ort. (Bild: Unsplash/Taylor Wilcox)

«Ich habe am Morgen ein Kind zur Schule gebracht und am Abend ein anderes abgeholt.» Das sagt Matilde Müller* über ihren Sohn Laurin* (*beide Namen geändert), der in der integrativen Volksschule Basel-Stadt keinen Platz gefunden hat (Bajour berichtete in Kooperation mit der WOZ). Selbst das breite Angebot mit individuell abgestimmten Fördermassnahmen war für den Jungen zu eng gefasst; viel zu schnell geriet er in eine Abwärtsspirale. Mit nur neun Jahren landete er ohne eindeutige Diagnose in der Psychiatrie, wo ohne Erfolg nach einer angemessenen Beschulungsform gesucht wurde. Am Ende wanderte die Familie aus, um sich der hiesigen Schulpflicht zu entziehen.

Heute besucht der Knabe im Ausland eine Privatschule. Und ist wieder glücklich. Die Kritik der Mutter: «Die Volksschule konnte in seinem Fall den Lehrauftrag nicht erfüllen.»

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Laurin ist fröhlich, dann beginnt der Unterricht

Die integrative Schule möchte eine «Schule für alle» sein. Für den Basler Knaben Laurin gibt es dennoch keinen Platz. Am Schluss landet er in der Psychiatrie. Lies hier die gemeinsame Recherche mit der WOZ.

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Die Geschichte hat zahlreiche Reaktionen von Leser*innen sowie von Politiker*innen hervorgebracht. Der Tenor: Laurin ist kein Einzelfall. Seither steht die Frage im Raum, ob Privatschulen vom Staat stärker als Alternativen geschätzt und die Hürden für deren Finanzierung gesenkt werden sollten. Leserin Jasmin Frey, die in Basel selbst eine Privatschule besucht hat, findet beispielsweise: «Die Prozesse für eine staatliche Finanzierung von Privatschulen müssten unbürokratischer werden. Denn: Eltern und die zuständigen Lehrpersonen können am besten einschätzen, was ihre Kinder brauchen.» 

Diese Frage ist nicht neu. Immer wieder forderten Politiker*innen, dass der Staat den Zugang zu Privatschulen finanziell erleichtern soll. Bislang ohne Erfolg.

Finanzierung nur in Ausnahmefällen

Zur Klärung: Heute übernimmt der Kanton Basel-Stadt in Ausnahmefällen die Finanzierung des Schulgeldes einzelner Kinder. Allerdings nur, wenn an der Volksschule kein bedarfsgerechtes Angebot verfügbar sowie eine klare Diagnose vorhanden ist, etwa bei Schulangst oder bei verhaltensauffälligen und zugleich hochbegabten Schüler*innen. Laut dem Erziehungsdepartement (ED) ist dies nur bei 14 von insgesamt 16’000 Schüler*innen der Fall.

Dabei seien die «wohnzimmergleichen» Privatschulen für die betroffenen Schüler*innen alleine von der Struktur her einfacher zu bewältigen, sagt ED-Kommunikationschef Simon Thiriet gegenüber Bajour. Und: «Es handelt sich dabei immer um seltene Ausnahmefälle, oft als Endergebnis von mehreren vergeblich umgesetzten volksschuleigenen Schulungsformen.»

Leiter der privaten Schule für Offenes Lernen (SOL) in Liestal
Matthias Held findet es nicht gut, wenn alle Schüler*innen nach denselben Kriterien bewertet werden. (Bild: zvg)

Hier setzt die Kritik am Ist-Zustand von Matthias Held an. Er ist Leiter der privaten Schule für Offenes Lernen (SOL) in Liestal, die in der Nordwestschweiz als Auffangbecken für verhaltensauffällige oder lernschwache Kinder gilt, wobei man mit dieser Beschreibung den Schüler*innen kaum gerecht wird. Held fragt sich, wie weit die Grenzen des Systems ausgeschöpft werden müssten, bis gemerkt werde, dass ein Kind einfach etwas anderes brauche. «Wie viel Scheitern braucht es, bevor einem Kind eine wahre Alternative geboten wird?» 

Was Privatschulen leisten (können)

Dass Privatschulen mit ihren alternativen pädagogischen Schulkonzepten etwas leisten, was Regelschulen nicht leisten (können), davon ist Held überzeugt: «An den regulären Schulen liegt der Fokus immer stärker auf dem Messen von Leistungen, dabei werden alle Schüler*innen nach den gleichen Kriterien beurteilt.» Dieses selektive System mit Noten aber widerspreche dem Anspruch, alle Kinder integrieren zu wollen. Denn ihre Leistungen seien schlicht nicht immer messbar. Die SOL hingegen verfolge ein anderes Konzept: «Hier wird keine Selektion betrieben, es gibt keine Noten», erklärt Held. Leistung werde dennoch eingefordert. 

Mit Erfolg: Die Geschichten häufen sich, wonach Kinder hier plötzlich ohne Ritalin klar kommen. Oder die sogenannten Verhaltensauffälligkeiten von einem Tag auf den anderen verschwunden scheinen. Auch der Sprachwissenschaftler Mario Andreotti, gleichzeitig ein dezidierter Befürworter einer starken Volksschule, räumte in einer Kolumne im St. Galler Tagblatt ein, dass «manche Schüler*innen, die in den staatlichen Schulen durch das Raster fallen, in privaten Einrichtungen bisweilen aufblühen».

Held sagt: «Früher sind alternative Privatschulen als Bereicherung angesehen worden. Auch der Staat hat davon profitiert. Heute hingegen wirkt es, als wollten die Kantone die integrative Schule auf Biegen und Brechen durchsetzen, ohne auf die Möglichkeit von Privatschulen zurückzugreifen.» Und: «Für manche Kinder, die zu uns kommen, ist es dann schon zu spät.» 

Partikularinteressen kleiner Gruppen 

Für eine freie Schulwahl und damit für eine staatliche Finanzierung der Privatschulen kämpft die Elternlobby gemeinsam mit FDP und GLP seit Jahren. Die Freisinnige Nadine Gautschi sagte schon 2018 der BaZ: «In kaum einer Industrienation haben Schüler und Eltern so wenig Freiheit in der Wahl der Volksschule wie in der Schweiz». Eine freie Schulwahl diene der Bildungsvielfalt. «Kinder könnten so nach Fähigkeiten und Begabungen gefördert werden», so ihre Haltung.


Nadine Gautschi
Nadine Gautschi plädiert schon länger für mehr Freiheit bei der Wahl der Schule. (Bild: FDP Basel-Stadt)

Ausgerechnet die Bürgerlichen argumentieren ausserdem damit, dass heute nur reiche Eltern die Freiheit hätten, für ihre Kinder die Schule zu wählen. Gefordert wird mehr Flexibilität für alle, dabei scheint insbesondere die Idee von Bildungsgutscheinen verlockend. Allerdings erfolglos. Der letzte Anlauf scheiterte 2018.


Und bei der GLP, die sich in der Vergangenheit für die freie Schulwahl eingesetzt hat, liegt der Fokus derzeit woanders: auf der Verbesserung der integrativen Schule. Diese ist durch eine von aktiven und ehemaligen Lehrer*innen in Basel lancierten Volksinitiative unter Beschuss. Gefordert wird die Wiedereinführung von Förderklassen, faktisch handelt es sich um Kleinklassen, wie sie vom aktuellen System abgelöst wurden.

Sandra Bothe
Sandra Bothe findet es problematisch, dass im heutigen Schulsystem nicht alle Kinder gut aufgehoben sind. (Bild: Grosser Rat Basel-Stadt)

GLP-Bildungspolitikerin Sandra Bothe sagt auf Anfrage: «Ich bin trotz meiner liberalen Grundhaltung für eine starke Volksschule, weil sie Chancengleichheit- und Gerechtigkeit garantiert.» Problematisch sei, dass im heutigen System aber doch nicht alle Platz hätten, wie das Beispiel von Laurin* zeige.

Die Grossrätin arbeitet als Geschäftsleiterin eines Kindergartens mit familienergänzender Kinderbetreuung. Sie ist dagegen, verhaltensauffällige Kinder in Kleinklassen «abzuschieben», findet aber, dass Kinder mit einer Lernschwäche durchaus eine «fähigkeitsadäquate» Förderung in einer kleinen Gruppe, am besten von geschulten Heilpädagog*innen, bräuchten.

Auch ist sie nicht pauschal dafür, mehr Kindern die Privatschule staatlich zu finanzieren. Es sei unklar, wie man zur Einschätzung komme, dass es kein bedarfsgerechtes Angebot mehr an der Volksschule gebe. Findet jedoch, dass die Volksschule mit Privatschulen besser zusammenarbeiten und Synergien stärker nutzen könnte. Es gehe dabei weniger um die Finanzierung als um die Rahmenbedingungen: Privatschulen sollten als Ergänzung angesehen werden. Sie dürften aber nicht zum Abstellgleis für sogenannte verhaltensauffällige Kinder werden. Ihre Berechtigung hätten sie vielmehr aufgrund pädagogischer Konzepte oder ihrer religiösen Ausrichtung sowie ihrer spezifischen internationalen Bildungsabschlüsse.

Franziska Roth
Franziska Roth will öffentliche Schulen stärken. (Bild: Grosser Rat Basel-Stadt)

Vertieftes Verständnis des Bildungssystems

Bei der Linken klingt es, wenig überraschend, ähnlich. SP-Grossrätin und Sozialpädagogin Franziska Roth fürchtet, dass sich durch eine freie Schulwahl der Run auf Privatschulen noch verstärken, dies die öffentliche Schule gleichzeitig schwächen würde. In Basel besuchen heute laut dem Zahlenspiegel Bildung bereits 10 Prozent der in Basel-Stadt wohnhaften Schüler*innen während der obligatorischen Schulzeit eine Privatschule.

Auch die oberste Schweizer Lehrerin, Dagmar Rösler, spricht sich gegen die freie Schulwahl aus. Sie sagt in einem Interview mit bluewin.ch: «Die Wahl der Schule erfordert ein vertieftes Verständnis des Bildungssystems. Und hier sind bildungsferne Familien benachteiligt, da sie nicht über solche Informationen verfügen.»

Dagmar Rösler, die oberste Schweizer Lehrerin
Dagmar Rösler, oberste Schweizer Lehrerin, ist kein Fan der freien Schulwahl. (Bild: LCH/Roger Wehrli)

Empirische Studien aus anderen Ländern zeigten, dass für den Besuch einer besseren, aber weit entfernten Schule sowohl Zeit als auch Geld aufgewendet werden müssen. Die Möglichkeiten und der Wille, diese Kosten zu tragen, unterschieden sich zwischen Eltern mit einem hohen und niedrigen Sozialstatus. Dies hätte zur Folge, dass Kinder aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien, auch wenn sie im selben Quartier wohnen, zunehmend in andere Schulen gehen würden. 

Die wiederholte deutliche Absage an der Urne zeige, so Rösler weiter, dass es sich bei der Forderung nach «freier Schulwahl» um die Partikularinteressen einer kleinen Gruppe handelt, welche nicht das Wohl des gesamten Bildungssystems im Sinne hat.

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*Namen von der Redaktion geändert.

Herz Bär
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Valerie Zaslawski

Das ist Valerie (sie/ihr):

Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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