Zur Sonne, Schweizerhalle!
Schweizerhalle – das ist für viele ältere Semester in der Region ein Synonym für eine der schlimmsten Chemiekatastrophen Europas. Doch jetzt, nach 34 Jahren, entsteht auf dem Industriegelände eine gigantische Photovoltaikanlage.
Nein, hierher verirrt sich kaum jemand. Das Industrieareal Schweizerhalle ist geprägt von Fabrikgebäuden, Rohren, dampfenden Schloten und Geleisen mit Kesselwagen. Was hier produziert wird, lässt sich anhand der Firmennamen nur annähernd erahnen: Clariant, BASF (Chemie), Bayer, Syngenta (Agrochemikalien), Novartis (Pharma).
Schweizerhalle? Moment mal, da werden Erinnerungen wach… In der Nacht zum 1. November 1986 hat es hier überaus heftig gebrannt. Ein Chemikalienlager der damaligen Firma Sandoz geht in Flammen auf, Chemiefässer fliegen wie Raketen durch die Luft, ein Inferno. Auch noch im 10 Kilometer entfernten Basel stinkt es bestialisch, morgens um fünf weiss noch niemand, ob beim Brand giftige Gase entstanden sind.
Die Region ist im Schockzustand. Die Sandoz-Verantwortlichen sind entweder ahnungslos oder versuchen, die Katastrophe zum «Ereignis» kleinzureden. Doch der Rhein färbt sich wegen des Löschwassers rot, von Schweizerhalle bis nach Rotterdam. Die ganze Welt schaut nach Basel. Millionen Fische rheinabwärts bis Mannheim sind tot. Nein, diese Katastrophe war nicht mehr wegzudiskutieren. Und wahrscheinlich hatten wir in der Region riesiges Glück, obendrein. Es hätte noch viel schlimmer kommen können. In unmittelbarer Nähe des Brandherds war Phosgen gelagert. Giftgas.
Schnitt. Schweizerhalle, November 2022. Wir stehen wenige Meter vom damaligen Brandherd entfernt. Doch heute erinnert nichts mehr daran. Vor uns ein grosser leerer Parkplatz, abgesperrt zur Zeit. «Hier», sagt Murat Aydemir, Leiter Industrie der GETEC Switzerland AG in Muttenz, «hier kommt eine 5000 Quadratmeter grosse Solaranlage auf die Dächer und des Carports. In sechs bis acht Wochen geht sie in Betrieb.» Sie soll eine Spitzenleistung von 1,1 Megawatt (MWp) bringen und pro Jahr Strom von 1,2 Gigawattstunden (GWh) generieren. Das ist der Strombedarf von 300 Einfamilienhäusern. Doch das ist erst der Startschuss.
Zweitgrösste Solaranlage der Schweiz
«Die zweite Phase wird sehr spannend. Hier werden wir alle Freiflächen wie Carports und Truckports, die wir überdachen können, prüfen, ob sie sich für Photovoltaik (PV) eignen – auch Fassaden und weitere Dächer. Wir schätzen, dass wir so noch weitere sechs bis sieben Megawatt installieren können», sagt Aydemir. Das heisst, auf dem Areal können insgesamt rund neun GWh Solarstrom produziert werden. Die zweite Etappe sollte Mitte nächsten Jahres ans Netz gehen. Schweizerhalle wird dann die zweitgrösste Solaranlage der Schweiz vorzeigen können und rechnerisch Strom für über 2000 Einfamilienhäuser produzieren. Die derzeit grösste PV-Anlage befindet sich bei Onnens am Neuenburgersee auf dem Dach einer grossen Lagerhalle.
Der auf dem Areal Schweizerhalle produzierte Strom wird im Industriepark selbst genutzt . Die Nutzung vor Ort entlastet überdies das Stromnetz. Die Anlage dürfte bei diesen Strompreisen in fünf Jahren abbezahlt sein, meint ein externer Energieexperte. Der Solarstrom mausert sich zum Geschäftsmodell.
«Schweizerhalle» war nicht nur ein Schock, es war auch ein Weckruf, ein Weckruf an die Firmen und die Politik. Die Industrie von heute ist nicht mehr die von früher. Ein Kurzkommentar von Stefan Schuppli.
Auf dem Gelände des Parks werden Firmen, die Wärme brauchen und solche, die welche abgeben, wenn immer möglich vernetzt. Dies gilt ebenso für Kälte. «Es wird das nächste grosse Thema sein in der Industrie», sagt Aydemir. Teilweise funktioniert dieser Energieaustausch schon, einiges ist bereits in Planung oder in Prüfung. Früher, als diese Firmen noch nicht in diesem Park zusammengeschlossen waren, war so etwas hier kaum möglich, weil die Firmen untereinander keine institutionalisierten Kontakte hatten.
Die Koordination der Ansprüche ist freilich anspruchsvoll. Denn die Bedürfnisse der Firmen können sich immer wieder ändern, weil sich die Prozesse ändern und/oder sich die Wirkungsgrade ändern.
Das Potenzial von «grünem Wasserstoff»
Auch die Abwasser- und Abfallproblematik wird gemeinsam angegangen. Lösungsmittel und dergleichen werden wenn immer möglich regeneriert. Die Firma betreibt einen eigene Spezial-Kläranlage und drei Sondermüll-Verbrennungsanlagen. Die dabei entstehende Abwärme wird zur Stromproduktion, Dampf und Heisswasser benutzt. GETEC wird den Park ausserdem bis 2030 auf sogenannte grüne Moleküle (vor allem Wasserstoff) umstellen und dazu beitragen, dass die Firmen auf dem Areal 100 Prozent CO2-neutral, energieunabhängig und versorgungssicher werden.
«Grüner Wasserstoff» wird CO2-neutral mit Strom aus erneuerbaren Energien hergestellt und wird derzeit für verschiedenste Anwendungen diskutiert, «da er prinzipiell das Potential hat, sehr viele Sektoren zu dekarbonisieren – von Verkehr, über die Industrie bis hin zur Wärmeversorgung», erklärt Ulrich Störk, Sprecher der Geschäftsführung der Beratungsfirma Price Waterhouse Coopers (PwC) Deutschland auf dem PwC-Blog zu Nachhaltigkeit und Transformation.
«Mit dieser Anlage werden wir 10 Prozent des Verbrauchs mit Solarstrom abdecken können.»Murat Aydemir, Leiter Industrie der GETEC Switzerland AG
Der Industriepark in Schweizerhalle ging aus der Fusion des Infrapark Baselland von Clariant und des Novartis Park Schweizerhalle hervor und wurde von der Betreiberfirma GETEC Park AG übernommen (siehe Box unten). 30 Unternehmen verbrauchen hier über 90 GWh Strom pro Jahr. «Mit dieser Anlage werden wir 10 Prozent des Verbrauchs mit Solarstrom abdecken können», so Aydemir.
«PV in der Schweiz herstellen»
Ja, Lieferengpässe gibt es teilweise, zum Beispiel bei Kabeln. Wenn jemand eine Solaranlage plant, soll er so rasch wie möglich bestellen. China hat nach Aydemirs Schätzungen einen Marktanteil von über 90 Prozent bei Solarprodukten. Ein kritischer Punkt.
Das gibt ihm zu denken. «Wir sollten in der Schweiz Produkte für erneuerbare Energien entwickeln und auch herstellen – PV-Produktion, Wechselrichter, Batterien.» Forschung ist in diesem Bereich wichtig, denn es gibt immer noch Potenzial, den Wirkungsgrad von Solarzellen zu erhöhen. Im Prinzip hätten wir in der Schweiz die besten Voraussetzungen. Forschung und Entwicklung wird gross geschrieben. Firmen, die in diesen Bereichen tätig sind, «sind bei uns hochwillkommen», wirbt Aydemir.
Das Muttenzer Areal zwischen der Autobahn und Rhein hat eine wechselhafte Vorgeschichte, die die Entwicklung der Basler Chemischen Industrie in der Region widerspiegelt.
Bereits ab 1865 war die Familie J.R. Geigy AG in Schweizerhalle als Farbproduzent tätig. Anfang des 20. Jahrhunderts kaufte sie dort weitere Grundstücke und siedelte Produktionsbereiche von Basel nach Schweizerhalle um.
1938 wurde die Geigy Werke Schweizerhalle AG gegründet und um die Pflanzenschutzmittel-, Pharma- und Textilproduktion erweitert. Zwischen 1935 und 1988 wurden hier unter anderem hochgiftige Insektizide wie DDT und Diazinon sowie Herbizide wie Simazin oder Atrazin hergestellt. Sie sind heute nicht mehr zugelassen.
1970 fusionierten Ciba und J.R. Geigy.
In der Nacht zum 1. November 1986 brannte auf dem Schweizerhalle-Areal eine Lagerhalle von Sandoz mit 1350 Tonnen teils hochgiftigen Chemikalien aus der Agroinstustrie. Es war eine der grössten Chemiekatastrophen in Europa.
1995 wurde der Chemikalienbereich von Sandoz unter dem Namen Clariant ausgegliedert und an die Börse gebracht.
1996 fusionierten Ciba-Geigy und Sandoz zu Novartis. Ebenfalls in dem Jahr wurde die Ciba Spezialitätenchemie ausgegliedert und 2009 an den deutschen Konzern BASF verkauft. In der Folge wurden tausende von Arbeitsplätzen abgebaut. Die Fokussierung der Basler «Chemischen» auf Pharmaprodukte akzentuierte sich.
Im Jahr 2000 wurden die Agrobereiche von Novartis und von AstraZeneca ausgegliedert im neuen Unternehmen Syngenta zusammengeführt.
2017 wurde der Konzern nach China verkauft.
Ende 2018 übernahm der deutsche Industrie- und Immobiliendienstleister GETEC den Infrapark Baselland von Clariant und den Novartis Park Schweizerhalle.
2020 wurden sie zum Getec Park Swiss zusamengeführt.
GETEC plant in Muttenz Investitionen von mehreren Hundert Millionen Franken für Investitionen im Klima- und Energiebereich. Das Uternehmen hat sich verpflichtet, in ihrem Anlagenpark bis 2045 «Netto-Null»-Emissionen zu erreichen.
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