Zaungäste des Wandels: Das denken Santihanslemer über die grösste Baustelle im Quartier
Wo dereinst das Naturhistorische Museum und das Staatsarchiv Basel-Stadt das St. Johann beleben sollen, klafft heute ein tiefes Loch im Boden. Was erhoffen sich die Leute im Quartier davon? Notizen vom Baustellenrand.
Der ältere Herr mit dem Schnauzbart eines Seehunds unterhält sich nicht zum ersten Mal am Rand einer Baustelle, das KANN MAN AM VOLUMEN SEINER STIMME UNSCHWER ERKENNEN.
«FÜNFZEHN METER», schreit er, während unter ihm ein gigantischer Kran eine Metallschwelle in den Quartierboden rammt, «FÜNFZEHN METER TIEF WIRD DIESE GRUBE, VERRECKTI BÜEZ, ODER?»
Nebenan steht eine Mutter am Geländer. Mit der einen Hand hält sie ein Kind fest, dessen Kopf ganz weit, so weit wie es geht, zwischen den Gitterstäben des Brückengeländers hindurch über den Baustellenschlund hinausragt. Im Kinderwagen versucht ein zweites, noch kleineres Kind so stark mit den Füssen zu wippen, bis der Kinderwagen endlich ganz eng ans Geländer hinanrollt. «LUEGE, AU LUEGE», schreit das Kind.
Zwei junge Erwachsene balancieren, noch auf den Velos sitzend am Geländer und schauen ins Loch.
Ein Mann, schwarzer Mantel, drahtige Haare lehnt am Geländer und legt zum Schutz gegen die Sonne die Hand über die Augen. Auf der Brücke hinter der Szene fährt ein Auto vorbei. Der Fahrer verlangsamt den Wagen und ruft aus dem offenen Fenster einen Namen, PHILIP, HE PHILIP, oder so ähnlich, in Richtung Brückengeländer. Niemand reagiert. Alle schauen in diesen Abgrund.
Das hier ist die grosse Baustellenshow. Und wenn die signalfarbene Choreografie aus Baggern und Büezern und Kränen erst einmal im Schwung ist, dann muss man den Alltag kurz vergessen und in die Baugrube hineinschauen. So war es. So wird es immer sein. Die Ränder von Baustellen sind, man muss das so sagen, ein sozialer Schmelztiegel mit mehr Anziehungskraft als jede Mitwirkungsveranstaltung nach Paragraph 55 der Kantonsverfassung.
Ein guter Ort also, um über Veränderung zu sprechen.
Das Koordinatensystem Basel-Stadt ist im Wandel. Sieben Transformationsareale verändern die Stadt an den Rändern, doch die Ausläufer des Wandels gehen auch im Innern, an den bestehenden Quartieren, nicht spurlos vorbei. Ein Quartier wird vom Fortschritt besonders grundsätzlich, nämlich von vier Himmelsrichtungen her, in die Mangel genommen: Das St. Johann.
Der Schraubstock des Fortschritt
Im Süden hat im September das schillernde Biozentrum der Universität eröffnet. Weitere Neubauten, wie der Neubau für das Departement Biosysteme der ETH Zürich künden sich an oder stehen kurz vor dem Abschluss. Um das Parkhaus Tschudimatte wird noch gestritten. Fest steht jetzt schon: Die Chromstahlarchitektur des Biozentrums saugt den Blick aus dem St. Johann Richtung Innenstadt förmlich an – und schickt neue architektonische Druckwellen ins Quartier zurück.
Im Osten steht die Öffnung des Novartis-Campus bevor. Das neue Besucher*innenzentrum, ein UFO-ähnlicher Pavillon mit Technofassade, soll ab 2022 als Publikumsmagnet dienen.
Im Norden entsteht ein neuer Stadtteil. Volta Nord. 2000 Wohn- und 3000 Arbeitsplätze soll's hier geben. Bezug der ersten Neubauten: Frühestens 2025. Die Genossenschaftsbauten auf dem benachbarten Gebiet Lysbüchel Süd, Hoheitsgebiet der Stiftung Habitat, sind teilweise bereits fertiggestellt.
Und im Westen klafft jetzt dieses Loch im Boden. Hier werden in sieben Jahren das Naturhistorische Museum und das Staatsarchiv ein neues Zuhause finden. Deren aktuelle Gebäude in der Nähe des Münsterplatzes sind marode, der Platz wird knapp. Über zwanzig Laufkilometer Akten beherbergt alleine das Staatsarchiv, das 214 Millionen Franken teure Naturhistorische Museum hat jüngst einen neuen Dinosaurier gekriegt. Körperlänge: 27 Meter.
Der Neubau kommt. So will es die Mehrheit der Stimmbevölkerung, die das SVP-Referendum dagegen bachab schickte.
Für die Baupläne inklusive einem 40 Meter hohen Turm am Vogesenplatz zeichnet das Zürcher Architekturbüro EM2N Architekten verantwortlich.
Bald wird es im Osten des Quartiers noch eine fünfte Baustelle geben, die allerdings nicht in das bis hierher gezeichnete Aufwertungskorsett passt: Am Voltaplatz sollen 100 neue Wohnungen sowie Student*innenwohnplätze entstehen. Die Hälfte preisgünstig, die andere Hälfte Sozialwohnungen. Drei Jahre lang war das Bauprojekt durch die Einsprache eines Nachbarn blockiert. Jetzt lehnte das Bundesgericht die Einsprache ab.
Wenn alles nach Plan läuft, soll das Staatsarchiv 2027 am neuen Standort eröffnen. 2028 folgt das Naturhistorische Museum. Das Volk steht bereits heute neugierig über dem Aushub dieses Grossprojekts.
Nathan, 28, sagt, er war schon als Kind komplett fasziniert von der Kraft der Maschinen. Er ist es heute noch.
«Ich stehe schon ziemlich lange hier oben, ich kann dir sagen: Der eine rote Kran hier vorne, der ist im Prinzip nur dazu da, Eisenplanken in den Boden zu rammen. Weisst du, wieviel Kraft das braucht? Ich habe viele Baustellen gesehen, aber ein tiefes Loch wie das hier, sowas hab ich noch nie gesehen.
Im Internet gibt es zwei Webcams, die die Baustelle live übertragen. Da schaue ich manchmal, wie das hier vorangeht. Das ist ein bisschen wie in einem Game. Cool. Ich wohne seit fünf Jahren im St. Johann. Meistens ist's ganz ok. Manchmal möchte ich mit einem Bulldozer durch die Strassen fahren, um den ganzen Müll wegzukarren. Es hat so viel Müll überall.»
Ute, 40, hat soeben an der Recyclingstation Entenweidstrasse, direkt neben der Baustelle, ein paar Flaschen entsorgt. Sie möchte sich lieber nicht fotografieren lassen, aber gibt umso lieber Auskunft. Auch die vier Kinder bringen sich lebhaft ein.
«Die Veränderung ist eine Konstante im Quartier. Irgendwas wird immer saniert. Ich find es gut, dass hier das Naturhistorische Museum und das Staatsarchiv einziehen, denn welche anderen beliebten Museen sind denn noch dezentral untergebracht? Die allermeisten Museen sind doch in der Innenstadt.
Allerdings kann es sein, dass wegen diesem neuen Gebäude die Mieten steigen, das ist jetzt schon ein Problem für viele Leute im Quartier. Wir wohnen seit zehn Jahren im St. Johann. Unsere Miete ist nie gestiegen, aber wir haben auch Glück. Wir wohnen in einer Genossenschaft.»
Janko, 11, düst auf einem Tretroller um die Altglascontainer herum.
«Ich find das neue Schulhaus Lysbüchel gut, weil es nahe bei uns zuhause ist. Die vielen Baustellen stören mich. Und schade find ich, dass wir kein Hallenbad in der Schule haben. Dabei haben ich und viele andere Kinder das gewünscht, damals, bei dieser Veranstaltung ‹mein Quartier als Spielplatz›, auf der wir nach unserer Meinung gefragt wurden.»
Zehn Meter weiter die Strasse hinunter steht ein alter Mann und fixiert die Anti-Corona-Graffitis, die jemand auf die Baustellenwand gesprüht hat. «Fuck Impfen», steht da. Der schwarze Mantel dieses Herrn, der sich als Thomas, 81, vorstellt, ist tadellos gebügelt. Tadellos ist auch sein Dialekt. Ein Baseldytsch, wie aus dem Idiotikon gemeisselt.
«Sy selle numme baue in Gottsnamme, do kasch ainewääg nyt mache.»Anwohner Thomas, seit 50 Jahren im St. Johann zuhause
«Friener, hets do allewyyl no Pflanze und Bäum ghaa», sagt er, und dreht sich mit dem ausgestreckten Arm einmal um die eigene Achse. Der Mann wohnt seit 50 Jahren im Quartier. Durch die Gasstrasse fuhr damals das Tram, durch die Vogesenstrasse ein Zug mit Dampfantrieb. Der Zug transportierte Güter zwischen dem Bahnhof St. Johann und der Fabrik am anderen Ende der Strasse. Klingt heute wie ausgedacht, aber Thomas, der heute immer noch im Quartier lebt und damals in der Vogesenstrasse wohnte, sagt: «Wenn ich im dritten Stock den Kopf aus dem Fenster streckte, als unten der Güterzug durchfuhr, dann hatte ich nachher einen schwarzen Grind.»
Sowas denkt man sich ja nicht aus. Thomas geht ein paar Schritte und steht jetzt dicht an der Bauschranke über dem 15-Meter-Loch. «Sy selle numme baue in Gottsnamme, do kasch ainewääg nyt mache.»
Nayr, 61, lebt seit 28 Jahren in Basel, 25 davon in St. Johann. Er arbeitete lange bei Coop, dann wurde er krank und verlor den Job. Interessante Beobachtung: Nayr ist gut informiert darüber, was im Quartier passiert. Aber beim Stichwort Veränderung redet er nicht über das, was draussen abgeht, im Quartier. sondern über seine unmittelbare Umgebung: Die Wohnung seiner Familie.
«Ich wohne gleich da vorne, an der Entenweidstrasse in diesem Backsteinblock, direkt gegenüber der Museums-Baustelle. Der Block soll bis 2024 umgebaut werden, aber ich hoffe sehr, dass wir dort bleiben können. Die Wohnung kostet 1500 Franken für dreieinhalb Zimmer, meine zwei erwachsenen Söhne bezahlen auch einen Teil an die Miete. Dass der Umbau des Hauses etwas mit dem Museums-Neubau zu tun hat, das glaube ich nicht. Ich hoffe sehr, dass wir nicht umziehen müssen.»
Wem gehört das Quartier?
Die Wohnschutzinitiative vom 28. November 2021, die einen starken Mieter*innenschutz ins Gesetz schreiben wird, ist unter den Passant*innen im Quartier kein Thema. Die Mühlen der Politik scheinen weit weg zu sein. Der Erfahrungshorizont ist die eigene Umzugsbiografie. Und die Baugerüste an den Häuser der Nachbarn. Die grosse Bajour-Crowdsourcing-Recherche «Wem gehört Basel» zeigte, wie es um die Besitzverhältnisse der Liegenschaften im St. Johann steht. Die meisten Häuser gehören Privaten.
Die Daten von «Wem gehört Basel» zeigen allerdings nur den Ist-Zustand. Wir haben darum beim Statistischen Amt Basel-Stadt nachfragt: Wie viele Wohnungen waren vor zwanzig und vor dreissig Jahren im Besitz von Vorsorgestiftungen und anderen institutionellen Anlegerinnen? Die Auswertung zeigt: Der Wert ist um über fünf Prozentpunkte gestiegen. Interessant ist auch der Vergleich zwischen dem St. Johann und der gesamten Stadt.
Die Recherche zeigt: Firmen wie Credit Suisse, UBS oder die Pensionskasse Basel-Stadt besitzen inzwischen 29,7 Prozent aller Wohnungen in Basel. Das ist viel. Mehr noch als in Zürich, wo 28 Prozent aller Wohnungen renditeorientierten Anleger*innen gehören. Und der Anteil nimmt zu: Seit dem Jahr 2000 gehören den institutionellen Anleger*innen in Basel weitere 6000 Wohnungen. Das sind 6 Prozentpunkte mehr, während die Anzahl Genossenschaftswohnungen annähernd stagniert.
Der Denkmalschutz nimmt mehr Gebäude ins Inventar
Zurück zur Baustelle im St. Johann. Im vergangenen Sommer spazierte abends manchmal eine Gruppe durchs Quartier, die Blicke an die Fassaden der Häuser geheftet. Quartierrundgänge mit Blick in den Rückspiegel. Die Denkmalpflege ist zurzeit dabei, im Quartier eine Revision des Inventars vorzunehmen, das heisst, Häuser auf ihre Denkmaltauglichkeit zu prüfen, die bei der letzten Prüfung vor 20 Jahren durch die Maschen fielen. Anne Nagel, Projektleiterin der Revision, war bei diesen Spaziergängen dabei. Sie sagt, das St. Johann sei schon immer ein Quartier der starken Veränderung gewesen. Das könne man in jeder beliebigen Strasse sehen.
«Sie werden in fast keiner Strasse des unteren St. Johanns eine intakte, durchgehende Häuserzeile finden. Das St. Johann musste in den 60er- und 70er-Jahren wahnsinnig bluten, was die Bausubstanz betrifft. Viele Häuser wurden damals abgerissen und durch Neubauten mit grösserer Ausnutzung ersetzt.» Den Charakter des Quartiers habe das nicht zerstört. Damit dies auch so bleibe, sei es wichtig, die quartierspezifischen Orte der Identität zu bewahren.
Heute sei aber in der Öffentlichkeit schon eine erhöhtes Feingespür für den Verlust von Geschichte und historischer Bausubstanz vorhanden. Die Neuinventarisierung des St. Johann soll 2022 abgeschlossen werden. Es werden deutlich mehr Gebäude als aktuell ins Inventar aufgenommen werden, sagt Nagel.
«Es knarzt»: Das Stadtteilsekretariat Basel West über den Wandel
Anhand der Rückmeldungen aus dem Quartier merkt man schon, dass sich nicht nur die Häuser verändern. Auch die Leute selber sind aufgrund der Bautätigkeiten teilweise aufgewühlt, sagt Yorick Tanner vom Stadtteilsekretariat West. «Es knarzt.» Der Goodwill gegenüber dem geplanten Museums- und Archivneubau sei aber gross, weil dort, so beobachtet es Tanner, öffentliche Gebäude entstehen.
Für Beobachtungen zu grundlegenden Veränderungen bezüglich der «sozioökonomischen Zusammensetzung» im Quartier sei es aber zu früh. Ihm sei jedenfalls nicht bekannt, sagt Tanner, dass heute bereits sich neues Gewerbe ansiedelt, nur weil das Museum dereinst neues Publikum ins Quartier locken wird.
Was Sarah Mesmer, Mediensprecherin des Bau und Verkehrsdepartements, über die Baustelle zu sagen hat:
Hat die Baustelle schon die maximale Tiefe erreicht oder wird noch tiefer gegraben?
Die erste Etappe der Baugrubenarbeiten ist abgeschlossen, und etwa die Hälfte der Tiefe der Baugrube ist erreicht. In der zweiten Etappe, die derzeit gerade läuft, werden Spundwände für den unteren Teil der Baugrubensicherung eingebracht. Im tiefsten Bereich wird die Baugrube auf minus 19 Meter ausgehoben, diese Tiefe wird zirka Ende des 1. Quartals 2022 erreicht sein.
Baustellenkundige Quartierbewohner*innen sagen uns, sie hätten noch nie so ein tiefes Loch gesehen. Warum wird dort so tief gegraben?
In den Untergeschossen sind neben Ausstellungsräumen des Naturhistorischen Museums und weiteren öffentlichen Bereichen wie einem Auditorium vor allem die umfangreichen Sammlungen des Museums und die Magazine des Staatsarchivs untergebracht. Die Sammlungen des Museums beinhalten aktuell 11.8 Millionen Objekte aus aller Welt. Sie können künftig auf Rundgängen in den Untergeschossen betrachtet werden. Die Magazine des Staatsarchivs bieten Platz für den heutigen Aktenbestand und für Reserveflächen. Insgesamt für 40 Laufkilometer Akten.
Ist die Baustelle zeitlich im Fahrplan?
Ja, wir liegen im Zeitplan. Die aktuellen Arbeiten, die mit erhöhten Lärm- und Erschütterungsemissionen einhergehen, werden Mitte Februar 2022 abgeschlossen sein. Zwischen dem 23. Dezember 2021 und dem 9. Januar 2022 ruht die Baustelle.
Quartierladenbesitzer*innen am anderen Ende des Quartiers berichten uns von Erschütterungen im Boden, die die Flaschen in den Kühlschränken zum Klirren bringen. Hat das mit der Baustelle zu tun?
Nach Aussage unserer Lärmfachbegleitung erzeugt das Vorbohren und Einbringen der Spundwände tieffrequente Schwingungen, die sich – je nachdem welcher Klangkörper in der Nähe ist – als tieffrequentes Brummen bemerkbar machen können.
Erhalten Sie viele Rückmeldungen aus dem Quartier auf der extra eingerichteten Lärmhotline?
Nein. Das tieffrequente Brummen wird allgemein als weniger störend wahrgenommen als helles Sirren oder impulsartiger Lärm, der durch Hämmern erzeugt wird. Die Anwohnerschaft reagiert sehr verständnisvoll. Im Gegenzug versucht unsere Fachbegleitung konkreten Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen und über die aktuellen Arbeiten und den Auslöser der Emission zu informieren. Im Rahmen der Planung wurden bereits die möglichen Massnahmen zur Reduktion der Belastungen berücksichtigt. Entsprechend werden aktuell die Öffnungen für die Spundwandbohlen vorgebohrt, was als besonders emissionsarme Methode gilt.
Auf der Baustelle für das Parkhaus unter dem Kunstmuseum wurden tolle archäologische Schätze wie zum Beispiel ein Kamelgebiss gefunden. Darf man im St. Johann auch mit derlei Trouvaillen rechnen, einschliesslich Bauverzögerungen für die Bergungsarbeiten?
Nein, es gibt keine Hinweise darauf, dass mit solchen Funden zu rechnen ist. Und es wurde auch nichts gefunden
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