Im Hundeleben

In Basel leben 4'176 Hunde. Phia ist eine davon.

Phia 1

Das ist Phia. Zumindest ist das der Name, mit dem sie gerufen wird. Leicht, elegant, unkompliziert. In einem Schwupps gesagt. Phia! Sie hebt ein Ohr und kommt sofort zu ihrem Halter gelaufen. «Reiss nicht so an der Leine!», schimpft er mit ihr. Wobei Schimpfen eigentlich das falsche Wort ist, so liebevoll schimpfen nur Hundehalter*innen.

Phia schüttelt sich, wie immer, wenn sie etwas verarbeiten muss. Schütteln ist für sie eine Art Reset, sie erdet sich damit. Zwei, drei Sekunden, dann ist die Welt wieder in den Fugen und Phia wieder im Hier und Jetzt. Ein Soft Coated Wheaten Terrier in einem Waldstück in den Langen Erlen, ein heller Fleck im braunen Januarmatsch.

«Herrchen» passt so gar nicht zu dem Mann, der vor knapp fünf Jahren auf dem Bauernhof in der Nähe vom Flughafen Belp auftauchte und sich zu ihr hinunterbeugte. Er war Mitte 30, schmal, gut gekleidet und strahlte eine Ruhe aus. Etwas Schwermütiges war auch dabei, was Phia vielleicht als Schwermütigkeit erkannte, vielleicht nicht, wir wissen es nicht, sie ist ein Hund.

Er war Mitte 30, schmal, gut gekleidet und strahlte eine Ruhe aus. Etwas Schwermütiges war auch dabei, was Phia vielleicht erkannte, vielleicht nicht, wir wissen es nicht, sie ist ein Hund.

Phia war damals fünf Monate alt und hiess nicht Phia, sondern Kaori. «K-Chaori» ausgesprochen, mehr gespuckt als gesagt.

Würfe von Züchter*innen sind immer alphabetisch geordnet. Kaori war Teil des elften Wurfs, der Name musste also mit K anfangen, was keine Entschuldigung ist. Ihr Bruder Kenzo war der Prahlhans unter den Geschwistern K. Selbstbewusst stolzierte er im Zwinger herum, als der Mann auftauchte. Doch der zeigte sich unbeeindruckt, er war von Anfang an mehr an Phia interessiert. Sie sei scheu, aber sehr territorial, sagte die Züchterin, eine untersetzte Frau, die nebenbei als Tramchauffeuse arbeitete. Ein dominanter Hund, eigensinnig und trotzdem zurückhaltend. Der Mann nickte, er sah etwas von sich in Kaori und etwas von Kaori in sich. Kenzo drehte noch eine selbstgewisse Runde und gab dann auf. Da hatten sich zwei gefunden.

1800 Franken hatte sich der Mann zusammengespart. Er wollte immer schon einen Hund, hatte sich um die alten Hunde seiner Eltern gekümmert und viele Stunden mit den Hunden seiner Freunde verbracht. Ihm gefiel die Vorstellung eines urloyalen Kompagnons, dieser untrennbaren Verbindung, die er bei anderen Hundehalter*innen und ihren Tieren spürte.

Er hatte sich ein grosses Buch über Hunderassen angeschafft und ein Tier gesucht wie andere eine Wohnung: Indem er seine vielen Kriterien mit allen verfügbaren Modellen verglich. Der Hund durfte nicht zu sehr haaren, sollte weder zu gross noch zu klein sein, er musste loyal sein, temperamentvoll aber anhänglich, selbstbewusst aber folgsam.

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Ihre Vorfahren waren Hofhüter der Bauern – heute hütet Phia die Couch.

Die Irischen Soft Coated Terrier sind eine alte Rasse und das Gegenstück zu ihren Inselkollegen, den Jagdhunden. Während die Bluthunde und Dackel mit den Baronen durch die Wälder streiften, war das Leben der Terrier von weniger noblem Stand: Sie waren die Hofhüter der Bauern. Familienhunde mit Bewacher-Genen, loyal und stark. Exakt jene Eigenschaften, nach denen der Mann gesucht hatte.

Der Modedesigner Wolfgang Joop, seinerseits bekennender Hündeler, sagte einmal in einem Interview: «Hunde sind kompromisslos ehrlich. Ihnen fehlt die Lüge der Sprache. Darum wird in unserer Beziehung zu den Hunden sichtbar, was unter Menschen möglich wäre.»

Näher als so mancher Mitmensch

In dieser Aussage schwingt eine gewisse Wehmut mit: Als könnten nur Hunde dem Menschen die für wahre Gemeinschaft unabdingbare Ehrlichkeit bieten. Und zwar obwohl oder gerade weil ihnen unser zentrales Hilfsmittel zur Herstellung von Beziehungen fehlt. Der Hund hat keinen Zugriff auf die Sprache, unser elementarstes, identitätsstiftendstes Werkzeug – und ist uns doch oft näher als so mancher unserer Mitmenschen.

Es gibt auch noch andere Faktoren, die dafür sorgen, dass Mensch und Hund so vertraut sind. Wer Hunde streichelt, dessen Körper schüttet das Bindungshormon Oxytocin aus. Gleichzeitig wird bei beiden das Stresshormon Cortisol reduziert. Biochemisch sind Hund und Mensch somit nahezu perfekt für einander.

Wer Hunde streichelt, dessen Körper schüttet das Bindungshormon Oxytocin aus. Gleichzeitig wird das Stresshormon Cortisol reduziert. Biochemisch sind Hund und Mensch somit nahezu perfekt für einander.

Auf dem Bauernhof bezahlte der Mann 2000 Franken und erhielt im Gegenzug Kaori und einen Stapel Papiere: Eine Fotogalerie mit Welpenfotos, eine Liste mit unverträglichen Esswaren (Auberginen, Avocados, Frühlingszwiebeln), Kaoris Stammbaum.

Der Stammbaum. Hochwertige Seiten mit gestanzten Hundesymbolen, dicht bedruckt mit mondänen und weniger mondänen Namen. Kaoris Mutter ist Anastasia von Kaiserdom, ihr Vater Jamie Oliver. Ihre Grosseltern heissen Champagne, High Noon, My Love Nice To See You und Private Dancer. Die Grossmutter ist mehrfache Schönheits-Championne.

Die Enkelin der Schönheitskönigin kam also von dem Bauernhof im Berner Vorortsbrei nach Kleinbasel, mitten in die Stadt. Die Wohnung des Mannes war grosszügig, ein schöner Altbau mit Fischgrätparkett und Balkon im zweiten Stock. Ab diesem Zeitpunkt hiess Kaori Phia und mit dem Namen änderte sich auch ihr Leben. Statt eines Zwingers hatte sie jetzt eine ganze Wohnung für sich, 80 Quadratmeter neue Gerüche, neue Stimmung, neue Regeln. Überhaupt Regeln, denn wirklich trainiert hatte die Züchterin Phia nicht.

Ein Herz für Hunde – und auch für uns?

Eines Nachmittags, kurz nach ihrer Ankunft, sass der Mann auf dem Sofa und schaute Phia mit erschrockenen Augen an. Sie blickte unbeirrt zurück. Vielleicht merkte sie es, vielleicht nicht, wir wissen es nicht. Das Gefühl, das der Mann gerade durchlebte, ist uns aber bekannt: Der berüchtigte Eltern-Schock. Jener Moment, in dem frische Eltern realisieren, dass dieses Lebewesen, das ihnen hier so kompromisslos in die Augen starrt, jetzt für sehr lange Zeit in ihrer Verantwortung liegen wird. Dass das Leben nie mehr so sein wird, wie es einmal war. Was ein alberner Satz ist, schliesslich ist das Leben in jedem neuen Moment nicht mehr das, was es einmal war.

Phia reagierte wie es auch jedes Menschenkind während seines jungen Lebens tut: Der existenziellen Gravitas keinen Deut Gewicht zuschreiben. Stattdessen verlangte sie unbekümmert grösstmögliche Aufmerksamkeit. Die bekam sie, der Mann trat aus seiner Starre, der Moment war vorüber und kehrte nie mehr zurück. Ab jetzt waren sie Hund und Halter, Phia und Mann.

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Phias Stammbaum kann sich sehen lassen.

Phias Sinne sind feinstens auf ihren Halter abgestimmt. Sie bemerkt jede noch so kleine Veränderung in seinem Verhalten. Wenn er das Papierchen seiner gedrehten Zigarette ableckt, weiss sie, jetzt wird er zum Feuerzeug auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa greifen, sich die Jacke überziehen und die Tür öffnen. Seine Automatismen sind ihr Gerüst, sie halten ihre Welt zusammen. Weichen sie von der üblichen Routine ab, ist sie verstört und unruhig. Aber wie alle Hunde ist Phia auch ein Stehaufmännchen: Ist etwas plötzlich anders, reagiert sie zwar perplex, nach kurzer Zeit hat sie sich der neuen Situation aber angepasst.

Nebst Wolfgang Joop vermittelt uns auch die westliche Kulturgeschichte immer wieder, welch Inbegriff der Loyalität Hunde doch seien. Zu den Füssen von Tizians tugendhafter Venus von Urbino liegt ein schlafendes Hündchen, Picassos jugendlicher Gaukler wird von einem Hund begleitet. Bei Homer wartet Argos, der Hund des Odysseus, 20 Jahre lang auf seinen Halter und ist der Erste, der ihn bei seiner Rückkehr wiedererkennt. Kurz darauf stirbt er, als hätte sein Leben nur dazu gedient, sein Herrchen ein letzten Mal sehen zu können. Die Botschaft ist jedes Mal unmissverständlich: Hunde sind hemmungslos treu. Wer einen Hund hat, dem ist Einsamkeit fern.

Phias Sinne sind feinstens auf ihren Halter abgestimmt. Sie bemerkt jede noch so kleine Kerbe in seinem Verhalten.

Phia zerrt wieder an der neongelben Leine. Ihr Halter stolpert schimpfend hinterher, zwischen den Flüchen kichert er wie ein Kind. Normalerweise hat er die Schleppleine dabei, damit Phia sich frei bewegen kann.

Ganz von der Leine nimmt er sie selten. Lässt er sie weg, kann es nämlich gut sein, dass Phia an Menschen hochspringt. Manchmal aus Übermut, manchmal aber auch aus dem Instinkt heraus, den ihr die Bauernhunde auf Irland vermacht haben. In diesen Momenten übernimmt etwas in Phia die Überhand und aus dem weichweissen Hund mit den schwarzen Kulleraugen wird ein zähnefletschendes Anderes. Es ist eine Transformation, die urplötzlich stattfindet und nur für den Mann vorhersehbar ist.

Wie das eine Mal, als Phia eine Joggerin ansprang. Die blieb erstarrt stehen, Hände in der Luft, Tränen in den Augen. Sie hatte wahnsinnige Angst. So etwas wolle er nie mehr in einem Menschen auslösen, sagt der Mann. Phia darf nur noch von der Leine wenn die Situation überschaubar ist und nicht viele Leute unterwegs sind.

Eine Tochter von Anastasia und Jamie Oliver scheut keine Machtdemonstration

Es scheint sie nicht zu stören, sie bestimmt ohnehin meistens, wo's langgehen soll. Auf ihrem Weg durch die Langen Erlen trifft sie auf altbekannte Freunde, wie den sabbernden Mischling, der sie freudig bespringt. Phia schnuppert rasch und trippelt dann weiter. Keine Zeit verlieren, es gibt zu tun. Der kleine Podenco des Mannes, der hier in der Nähe in einem Bus wohnt und fast jeden Tag an der Wiese unterwegs ist, trifft sie heute nicht an.

Auch ihr Schwarm, der stattliche Ridgeback mit glänzendem Fell und etwas dümmlichem Gesicht ist heute nicht hier. Wenn sie ihn erspäht, wird sie nervös, tänzelt hin und her, schwer verliebt. Ansonsten ist Phia eher dominant. Den meisten Hunden, auf die sie trifft, steigt sie erstmal auf die Schultern und drückt sie hinunter. Eine Tochter von Anastasia und Jamie Oliver scheut keine Machtdemonstration.

Phia kommt gut alleine klar. Wie gesagt: Es gibt viel zu tun. Löcher graben, Dreck fressen, Stöckchen hinterher rennen, baden. Baden ist Phias liebste Aktivität. Im Sommer sind sie und ihr Halter oft in Portalban da bleibt Phia nie lange Zeit trocken.

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Auszeit in Portalban.

Wie letzten Frühling auch, als der Lockdown anfing. Dreieinhalb Monate in Portalban, zu zweit in einem Wohnwagen, jeden Tag toben zwischen Schilfrohr und Strandsand. Für viele Menschen war der Lockdown die Hölle, für ihren Halter und Phia die schönste Zeit ihres gemeinsamen Lebens.

Er arbeitet zwei Tage die Woche in Zürich, in dieser Zeit übergibt er Phia für gewöhnlich einem Hundesitter. Manchmal lädt er sie auch beim Hundehotel an der A3 ab, was jedes Mal eine mittlere Trägodie ist: Phia wimmernd auf dem Rücksitz, in der sturen Verweigerung, das Hotel zu betreten. Der Mann, der sie aufhebt und zum barfüssigen Hotelleiter tragen muss, um sich dann mit schlechtestem Gewissen ins Auto zu setzen und nach Zürich zu fahren: Ein Vater und sein fremdelndes Kita-Kind.

Im Lockdown aber wurden solche Massnahmen obsolet. Der Mann ist seit März im Homeoffice, Phia ist jetzt immer bei ihm. Sie sind in eine Wohnung im Parterre gezogen, weg vom lärmigen Kleinbasel, näher beim Wald. Ihr Leben ist geregelter geworden, gesetzter. Was beiden gut tut. Sie gehen jeden Morgen spazieren, danach isst Phia eine Portion Coop Natura plus Rind-Terrine und legt sich schlafen. Manchmal drehen sie abends noch eine Runde, was Phia in letzter Zeit aber immer öfter verweigert. Der Mann nervt sich, er würde gern noch einmal an die frische Luft. Phia ist das egal. Vielleicht macht sie es absichtlich, vielleicht auch nicht, wir wissen es nicht, sie ist ein Hund.

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Davor: Kulturredakteurin bei Tageswoche, bz, SRF Kultur

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Liebt an Basel: Die Gipfeli im Damatti, der Schnaps im goldenen Fass, die Seerosen im Beyeler.

Vermisst in Basel: Einen anständigen Glacéladen. Nein, auch das Acero reicht meinem verwöhnten Berner Gaumen nicht. (Gelateria, zu Hilf!)

Interessensbindungen: Reporterforum (Vereinsmitglied), Medienfrauen Schweiz, Podcastlab Schweiz (Gründermitglied)

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