Das Korn geht uns nicht aus

In Nordafrika wird das Getreide knapp – kriegsbedingt. In der Schweiz sind die Speicher voll. Allein am Kleinhüninger Rheinhafen lagert so viel Getreide, dass es einen Güterzug in der Länge von Basel bis Olten füllt. Ein abendlicher Augenschein in der (un-)heimlichen Kornkammer der Schweiz.

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Denkmalgeschützte Architektur-Ikone: Das älteste Silo im Kleinhüninger Rheinhafen entworfen vom Architekten Hans Bernoulli. (Bild: Stefan Schuppli)

Wer sich in der fortgeschrittenen Dämmerung in den Rheinhafen Kleinhüningen verirrt, wähnt sich in einer Tatort-Kulisse. Die schummrigen Strassenlampen, ein einsamer Sammler, eine Lok, die ins Depot rumpelt, da und dort eine Ratte.

In der Dunkelheit werden Gerüche wichtiger. Plötzlich ist er da, dieser unverkennbare Duft des Getreides: leicht süsslich, muffig, archaisch.

Wir stehen jetzt an der Verladerampe des ältesten Silos vor Ort, dessen Baubeginn exakt 99 Jahre zurückliegt. Es wurde vom Architekten Hans Bernoulli ganz im Stil der Hamburger Speicherstadt entworfen und ist längst eine denkmalgeschützte Architektur-Ikone. Hier lagert die Rhenus Port Logistics im Auftrag ihrer Grosskund*innen bis zu 11’000 Tonnen Gerste, Weizen, Roggen und Hafer,.

Doch das Gebäude ist ein Zwerg im Vergleich zu den anderen, modernen Silos am Rheinhafen. Rhenus betreibt hier insgesamt zehn Silos mit einem Fassungsvermögen von insgesamt 175’000 Tonnen. Die Ultra-Brag, ein weiterer wichtiger Logistiker im Hafen, besitzt ein Silo von stattlichen 84 Metern Höhe mit einem Fassungsvermögen von 30’000 Tonnen, ein weiteres fasst 20’000 Tonnen, eines im Auhafen Birsfelden mit 24’000 Tonnen. Zusammen weisen die beiden Firmen in den Basler Rheinhäfen also Lagerkapazitäten von rund 250’000 Tonnen auf. Schweizweit kommen noch einige Lager anderer Firmen dazu, wie etwa der Swissmill Tower in Zürich mit einer Kapazität von 60’000 Tonnen.

Diese Speicher sind gut gefüllt, trotz Knappheiten und Preissteigerungen auf dem Weltmarkt. «Die Auslastung beläuft sich derzeit auf 80 Prozent», informiert die Sprecherin der Rhenus Port Logistics. Denselben Füllgrad nennt Ultra-Brag. Insgesamt dürften in den Basler Rheinhäfen also 200’000 Tonnen Import-Getreide schlummern. Das entspricht einem Fünftel der Schweizer Jahresproduktion.

Schweiz: Ukraine und Russland liefern nur 2 Prozent 

Diese komfortable Lage ist schnell erklärt: Der in die Schweiz importierte Weizen kommt zumeist aus Kanada. Russland und die Ukraine spielen mit zwei Prozent der Schweizer Getreideimporte praktisch keine Rolle. Überdies versorgt sich die Schweiz zu 85 Prozent selber mit Brotgetreide. 

Derzeit analysiert das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) nämlich, wie sich der Krieg in der Ukraine auf die Nahrungsmittelimporte auswirkt. Und das Amt entwarnt: «Sollte es überhaupt zu Engpässen kommen, dann stehen in der Schweiz Pflichtlager für Grundnahrungsmittel zur Verfügung.» Insgesamt sei die Versorgung der Schweiz mit lebenswichtigen Produktions- und Nahrungsmitteln sichergestellt. Diese Pflichtlager decken je nach Getreidesorte einen Verbrauch von zwei bis vier Monaten ab. 

Notlage in Nordafrika und Teilen Asiens

Andernorts herrscht Not. Die Ernte in der Ukraine fällt aus, Russland liefert nicht mehr, die Preise steigen extrem. Ägypten, Libyen, Tunesien, Jemen, der Libanon, die Türkei, Indonesien, die Philippinen und Bangladesch leiden am meisten. Der massive Teuerungsschub der vergangenen Wochen trifft vor allem die ärmeren Menschen. Fachleute rechnen damit, dass diese Länder am Anfang einer Hungersnot stehen. 

«Das ist eine Katastrophe, die zu einer anderen kommt», sagt David Beasley, Direktor des UN-Welternährungsprogramms. Am Horn von Afrika komme eine grosse Dürre dazu, sagt Bob Kitchen, Vizepräsident bei der Hilfsorganisation International Rescue Committee.

Warum braucht es Lager?

Getreideernten und Konsum fallen zeitlich auseinander. Die Lager sind deshalb Schwankungen unterworfen. Ausserdem verlangt der Bund Pflichtlager für die Bedarfsdeckung von zwei Monaten beim Tierfutter und bis zu vier Monaten beim Getreide für menschliche Ernährung. 

Das System der Pflichtlagerhaltung basiert auf der Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft. Der Bund legt die Zusammensetzung und das Ausmass der Pflichtlager fest. Die Vorräte werden jedoch nicht vom Bund, sondern von privaten Unternehmen gehalten und sind in deren Eigentum. Am 1. Februar 2021 hielten rund 300 Unternehmen ein Pflichtlager.

Die Kosten der Pflichtlagerhaltung werden von den Unternehmen auf die Verkaufspreise überwälzt und damit von den Konsument*innen getragen. Im Durchschnitt bezahlt jede*r Einwohner*in der Schweiz auf diese Weise jährlich rund 12 Franken für die Reserven der Landesversorgung.

US-Präsident Joe Biden plant gemeinsam mit Kanada eine Erhöhung der Getreide-Exporte.  Frankreich stellt unterdessen einen Notfallplan zur Sicherung der Nahrungsversorgung im Nahen Osten und Nordafrika vor. Die Nahrungsmittelproduktion soll ab diesem Sommer koordiniert erhöht werden.

Frankreich schlägt zudem einen Mechanismus für die Zuteilung von Lebensmitteln in ausreichenden Mengen und zu angemessenen Preisen an die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen vor. Vorbild könne die Initiative zur Verteilung von Corona-Impfstoffen an die Entwicklungsländer sein. 

Schweizer Vorschläge

In der Schweiz liegen aktuell nur wenige agrarpolitische Vorschläge auf dem Tisch.

Die SVP übt sich schon mal in Kriegsrhetorik. Martialisch fordert die Partei einen «Plan Wahlen 2.0». Der Bundesrat müsse die Ernährungssicherheit der Schweiz sicherstellen. Dem sei alles andere unterzuordnen. So wie im Zweiten Weltkrieg, als in Parkanlagen und auf nicht genutzten Freiflächen Kartoffeln und Gemüse angebaut wurde. Der «zu tiefe» Selbstversorgungsgrad der Schweiz «sei das Resultat einer ideologisch verblendeten links-grünen Politik, welche die inländische Produktion schwächt und dafür die Schweiz noch mehr von ausländischen Lebensmittel-Importen abhängig macht».

Die Grünen sehen dies naturgemäss etwas anders. Die Baselbieter Grünen-Ständerätin Maya Graf fordert, dass die Ackerflächen stärker für Weizen-, Gemüse- und Hülsenfrucht-Anbau genutzt werden und weniger für die Tierfutterproduktion. «So könnten wir die Importe reduzieren und die Ernährungssouveränität der Länder stärken, die stark von Importen abhängig sind», sagt Graf gegenüber der «Schweiz am Wochenende». Ein reduzierter Fleischkonsum sei ausserdem gut fürs Klima.

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