Die Sozialhilfe weiss, wie es mit den Gammelhäusern weitergeht
Hat die Sozialhilfe durch tiefere Mietzuschüsse der eigenen Klientel ein Ei gelegt? Wie will das Sozialamt Druck ausüben auf Abzocker*innen? Und warum kauft die Stadt keine Häuser? Rudolf Illes und Amina Trevisan von der Sozialhilfe stehen Red und Antwort.
Patrick hat Angst, dass er bald auf der Strasse steht. Er lebt in einem so genannten «Gammelhaus». Dort wohnen Menschen, die von der Sozialhilfe oder der IV abhängig sind. Jetzt droht Patrick der Rauswurf: Die Sozialhilfe senkt die Mietzuschüsse für Zimmer ohne Bad und Küche in Gammelhäusern, die bisherigen Preise seien häufig überhöht.
Doch die Hälfte der Gammelhausbesitzer*innen akzeptiert das nicht. Die neuen Mieten seien zu tief, psychisch angeschlagene Menschen wie Suchtkranke würden mehr Aufwand bedeuten. Bajour hat über den Konflikt berichtet.
Wir wollten von der Sozialhilfe wissen: War es klug, die Zuschüsse zu senken? Und sind die Hauseigentümer*innen der Problemliegenschaften wirklich alles schwarze Schafe, die auf Kosten von Menschen am Rand der Gesellschaft profitieren wollen?
Rudolf Illes (links) ist Jurist und leitet seit Juli 2017 die Sozialhilfe Basel-Stadt. Amina Trevisan ist Soziologin und Ethnologin. Sie leitet die Koordinationsstelle für prekäre Wohnverhältnisse, die 2019 geschaffen und der Sozialhilfe angegliedert wurde. Sie kümmert sich um das Dilemma mit den «Gammelhäusern». Das Pilotprojekt wurde bis 2023 verlängert.
Rudolf Illes, die Sozialhilfe zahlt neuerdings weniger Geld an die Vermieter*innen von sogenannten Gammelhäusern. Jetzt stehen manche Sozialhilfebezüger*innen vor der Wahl: Ausziehen – oder sie bezahlen die Differenz zur früheren Miete aus dem eigenen Sack. Haben Sie mit dieser Verschlechterung der Lebensumstände gerechnet?
Illes: Wir haben das kommen sehen. Deshalb haben wir unseren Klienten nach dem Inkrafttreten der neuen Richtlinien sehr viel Zeit gegeben, um eine neue Wohnung zu finden. Die neuen Richtlinien wurden im Juli 2019 eingeführt. Die Umsetzung für die Klienten, die in solchen Liegenschaften wohnten, erfolgte von Fall zu Fall unterschiedlich. Durchschnittlich hatten die Leute anderthalb bis zwei Jahre Zeit, eine neue Wohnung zu finden.
Die Hälfte der Vermieter*innen sogenannter Gammelhäuser weigern sich, auf die neue Ansage einzugehen. Was sagen Sie denen?
Illes: Wenn wir den Eindruck haben, dass die Vermieter überrissene Preise für ein kleines Zimmer ohne eigenes Bad oder Küche verlangen, dann ermutigen wir die Mieter, dagegen mietrechtlich vorzugehen. Das ist aber nicht immer ganz leicht, weil die Mieter aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht immer zuverlässig sind und manchmal auch einfach Angst haben, gegen ihre Vermieter vorzugehen. Manchmal haben wir den Eindruck, dass die Mieter auch unter Druck gesetzt werden.
Inwiefern?
Illes: Die Vermieter oder Vermieterinnen wissen, in welcher prekären Lebenslage sich ihre Mieter befinden. Auf dem freien Wohnungsmarkt haben sie in der Regel keine Chance.
Wir haben mit Vermieter*innen solcher Problemliegenschaften gesprochen. Sie haben uns vorher/nachher Fotos aus den Häusern geschickt, um zu beweisen, wie stark die Zimmer durch manche Mieter*innen ramponiert werden. Sind die hohen Mietzinsen nicht doch gerechtfertigt, wenn in den Zimmern geraucht, gekocht und gedealt wird?
Trevisan: Ich habe in den letzten drei Jahren viele solcher Häuser von innen gesehen und ich kann Ihnen sagen: Die Mietkosten von 900 Franken plus 150 Franken Nebenkosten im Monat, das ist einfach zu viel für ein Zimmer. Eine Dreizimmerwohnung wird dreimal als 1-Zimmer-Wohnung mit gemeinsamer Küche und Bad vermietet, so können bis zu 3’150 Franken herausgeschlagen werden – im Monat. Oft war gar nicht klar, woher die Nebenkosten kamen, es gab keine Quittungen, keine neuen Anschaffungen, nichts. Die Nebenkostenabrechnungen wurden nicht offengelegt.
Patrick lebt in einem so genannten Gammelhaus. Jetzt hat er Angst: «Mein Vermieter melkt den Sozialstaat seit Jahren und steckt sich die Miete unsere Sozialhilfe in sein Kässeli. Wir aber leben hier in ‹Apartments› mit dem Ambiente schmutziger Rattenlöcher. Nichts funktioniert, dafür schimmelt es überall, wir haben nicht einmal eigene Briefkästen. Jetzt will er uns einfach rausschmeissen. Es ist eine Schande.»
Einer der Vermieter sagte uns, immerhin gebe er den Menschen, die sonst keine Wohnung fänden, ein Dach über dem Kopf. Er sagt, er leiste eine Art Sozialdienst an der Gesellschaft und werde dafür medial gemobbt.
Trevisan: Das hören wir öfter. Manchmal muss ich darüber fast lachen.
Warum?
Trevisan: Weil das nichts mit Sozialdienst zu tun hat. Die Hauseigentümer*innen haben keinerlei Qualifikation für die Art Wohnbegleitung oder gar Betreuung, die ihre Mieter*innen bräuchten. Sie kassieren die Miete und tun in der Regel nur das Notwendigste, um die Häuser instand zu halten.
Manche ihrer Mieter*innen bräuchten laut den Hausbesitzer*innen professionelle Hilfe. Eine Art «betreutes Wohnen». Aber diese Wohnform kostet sehr viel mehr Geld als der Mietzins in ihren Häusern, sagen die Vermieter*innen. Die Sozialhilfe spare folglich sogar Geld mit ihrem Angebot.
Illes: Das trifft zu. Viele der Mieter*innen müssten in eine «betreute Wohnform». Die Sozialhilfe würde das in den meisten Fällen auch zahlen, aber die Mieter*innen wollen das nicht. Der Vergleich mit dem betreuten Wohnen ist einfach nicht zulässig. Die Hausbesitzer sind nicht qualifiziert und haben kein Mandat vom Kanton, begleitetes oder betreutes Wohnen anzubieten. Wenn es den Vermietern ein Anliegen ist, als soziale Institution anerkannt zu werden, müssen sie gewisse Anforderungen erfüllen. Sie können jederzeit einen Antrag stellen beim Kanton.
Worüber sprechen wir, wenn wir über betreutes Wohnen reden?
Illes: Betreutes oder begleitetes Wohnen ist eine Dienstleistung, die ebenfalls von der Sozialhilfe bezahlt wird. Das wird in Basel von mehreren Institutionen angeboten, wie zum Beispiel dem Volta Hostel oder dem Haus Elim oder der Heilsarmee mit ausgebildeten Sozialarbeitern. Dort wohnen Menschen mit Suchterkrankungen oder psychischen Problemen, die Unterstützung brauchen. Die Sozialhilfe würde sich freuen, wenn das von den Mietern in Anspruch genommen wird. Weil es fachlich für die Mieter der Häuser oft das Richtige wäre. Manche Klienten von uns wollen da aber nicht hin. Weil sie keine Krankheitseinsicht haben. Oder weil sie nicht in einer kontrollierten Umgebung wohnen möchten.
«Die Hauseigentümer*innen haben keinerlei Qualifikation für Wohnbegleitung oder Betreuung. Sie kassieren die Miete und tun in der Regel nur das Notwendigste, um die Häuser instand zu halten.»Amina Trevisan, Leiterin Koordinationsstelle für prekäre Wohnverhältnisse
Die Betreuung lässt sich also nicht vergleichen. Aber aus Sicht der Hausbesitzer*innen würden wir dennoch gerne den Kostenunterschied verstehen: Wieviel bezahlt die Sozialhilfe an die Wohnform des betreuten Wohnens?
Trevisan: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Es gibt ganz unterschiedliche Bedarfsstufen und die Beiträge variieren je nach Person und Institution. Die Beiträge sind beim Amt für Behindertenhilfe frei einsehbar. Im Durchschnitt würde ich sagen, dass es sich um einen mittleren vierstelligen Betrag handelt. Es wäre für uns am einfachsten, wenn das die Menschen aus den Problemliegenschaften in Anspruch nehmen würden. Aber wir wollen die Entscheidung der Leute, alleine zu leben, auch respektieren.
Amina Trevisan, sie haben mit vielen Hausbesitzer*innen sogenannter Gammelhäuser gesprochen. Mit wem haben Sie es da zu tun?
Trevisan: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt die, die einfach das Geschäft sehen. Andere sehen ein, dass sie sich nicht korrekt verhalten haben und korrigieren den Mietpreis. Bei manchen von ihnen hatte ich den Eindruck, dass sie beinahe darauf gewartet haben, bis jemand kommt und ihnen sagt, so geht das nicht. Insgesamt konnte ich mich mit allen gut unterhalten, auch wenn wir uns nicht immer einigen konnten.
Sie sagen, die Vermieter*innen der Problemliegenschaften verlangen zu hohe Mieten und schlagen intransparente Nebenkosten obendrauf. Aber im November wurde eine Frau vom Strafgericht von der Anklage des gewerbsmässigen Wuchers freigesprochen. Ihr Aufwand rechtfertige die Mietkosten, begründete das Strafgericht laut Medienberichten. Was sagen Sie dazu?
Illes: Für uns kam das Urteil nicht überraschend. Man muss unterscheiden zwischen den strafrechtlichen oder mietrechlichen Aspekten der überrissenen Mieten. Die Anforderungen an ein Urteil für gewerbsmässigen Wucher nach Strafrecht sind zu Recht sehr hoch. Aber nach mietrechtlichen Aspekten sieht die Sache anders aus.
«Es ist nicht Kernaufgabe der Sozialhilfe, Wohnungen zu vermieten, sondern die Klienten zu befähigen eigenständig zu wohnen und die Miete zu finanzieren.»Rudolf Illes, Leiter Sozialhilfe Basel-Stadt
Welche Punkte werden dort angefochten?
Trevisan: Die Mietzinshöhe und die Nebenkosten. Bezüglich der Nebenkosten sind die Vermieter*innen beweispflichtig. Wenn sie die Abrechnungen nicht offenlegen, könnte es zu Rückzahlungen an die Mieter*innen kommen für ungerechtfertigte Rechnungen der letzten Jahre. Wir erhoffen uns ein Urteil mit Signalwirkung bei den anstehenden Schlichtungsverfahren für Mietstreitigkeiten.
Die Probleme mit den Grüselhäusern, wie sie in den Medien genannt werden, sind schon sehr lange bekannt. Warum landen einzelne Fälle erst jetzt vor der Mietschlichtstelle?
Trevisan: Weil es uns erst jetzt gelungen ist, Mietende davon zu überzeugen, diesen Schritt zu gehen. Zuvor hatten mehrere Mietende, die ein mietrechtliches Vorgehen eingeleitet hatten, ihre Anträge zurückgezogen. Sie fühlten sich von der Vermieterschaft unter Druck gesetzt und hatten Angst vor negativen Konsequenzen. Die Koordinationsstelle prekäres Wohnen gibt es erst seit zweieinhalb Jahren, seither habe ich sehr viel Arbeit in Gespräche mit den Hausbesitzer*innen, aber auch in die Vertrauensbildung mit den Mieter*inenn investiert. Das braucht Zeit. Man muss zuerst den Boden bearbeiten, um hinterher die Früchte zu ernten. In dieser Phase befinden wir uns, es ist gerade sehr interessant.
Sie erhoffen sich einen Dominoeffekt?
Trevisan: Ja. Je mehr Mieter*innen mit uns zusammenarbeiten und den Mut fassen, mietrechtlich gegen ihre Vermieter*innen vorzugehen, desto mehr spricht sich das herum.
«Wir haben bei sämtlichen Eigentümern der Problemliegenschaften nachgefragt, ob sie ihr Haus verkaufen. Aber die preislichen Vorstellungen waren zu weit auseinander.»Rudolf Illes, Leiter Sozialhilfe Basel-Stadt
Das Geschäftsmodell Gammelhäuser betrifft zwölf Liegenschaften in Basel. Von wievielen Mieter*innen in diesen Häusern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sprechen wir?
Trevisan: Wir sprechen ungefähr von 130 Personen, die von der Sozialhilfe unterstützt werden. Für 46 von ihnen konnten wir die Anpassung des Mietzinses durchsetzen. Es ist aber wichtig zu wissen, dass nicht alle Mieter*innen dieser Problemliegenschaften Sozialhilfe beziehen. Manche haben eine Invalidenrente, beziehen Ergänzungsleistungen oder AHV. Die Mietreduktion gilt aber für das ganze Haus, es profitieren also alle Mietenden, weil sie nachher mehr Geld für sich haben.
Die Stadt Zürich hat zwei komplette Wohnblocks, die als Gammelhäuser bekannt waren, für 26 Millionen gekauft und für sechs weitere Millionen saniert. Seit 2019 bietet die Stadt dort sozialen Wohnraum mit niederschwelliger Begleitung an. Warum zieht Basel nicht nach?
Illes: Wir haben bei sämtlichen Eigentümern der Problemliegenschaften nachgefragt, ob sie in Erwägung ziehen, ihr Haus zu verkaufen. Es gab auch Gespräche dazu, aber die preislichen Vorstellungen waren schlussendlich zu weit auseinander. Ausserdem ist es, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht klar, ob die Mieter in einer Liegenschaft des Kantons wohnen wollen, wo eine gewisse Kontrolle unausweichlich wäre. In den von Ihnen erwähnten Wohnblocks werden die Gänge und der Eingangsbereich zum Beispiel per Video überwacht. Beim Rausgehen muss man die Schlüssel abgeben.
Sie könnten Liegenschaften anmieten und eine Art sozialen Hauswart einsetzen.
Illes: Das wäre eine Option, die wir prüfen, sofern wir eine geeignete Liegenschaft finden. Es ist aber nicht Kernaufgabe der Sozialhilfe, Wohnungen zu vermieten, sondern die Klienten zu befähigen, eigenständig zu wohnen und die Miete zu finanzieren. Dazu laufen bereits diverse Projekte.
Brauchen Sie mehr politische Rückendeckung?
Illes: Ich glaube nicht. Falls wir einen solchen Weg verfolgen sollten, müsste dies sowieso der Regierungsrat und – aufgrund der Kosten – mit grosser Wahrscheinlichkeit auch der Grosse Rat genehmigen.
Recherchen wie diese ermöglichen und unabhängigen Journalismus unterstützen:
Die Koordinationsstelle prekäres Wohnen wurde als Antwort auf das Problem mit den Gammelhäusern geschaffen. Gleichzeitig wurde das Projekt «Housing first» eingeführt, das helfen soll, Obdach- und Wohnungslosen eine Wohnung zu vermitteln. Beide Projekte sind temporär und haben ein Ablaufdatum. Wie geht es weiter?
Illes: Zur Zeit sind wir daran, eine Gesamtstrategie zu entwickeln. Die Mietzinsreduktion hat einiges in Bewegung gebracht, die Prozesse vor der Mietschlichtstelle knüpfen da an. Nun müssen die Erkenntnisse von Housing first und der Koordinationsstelle zusammengeführt und in einen grösseren Plan unter Berücksichtigung aller Wohnangebote eingebettet werden. Daran arbeiten wir.
Werden für diese Gesamtstrategie auch Sozialpartner*innen aus der Stadt wie zum Beispiel der Schwarze Peter mit einbezogen?
Illes: Das gehört sicherlich dazu, dass man alle Player in den Prozess involviert. Sei es, dass wir sie an den Tisch holen oder mit ihnen gezielte Befragungen machen.
Viel Zeit haben Sie nicht.
Illes: Nein. Bis im Herbst müssen wir dem Regierungsrat berichten.
Amina Trevisan, ihre Koordinationsstelle für prekäres Wohnen wurde bis 2023 verlängert. Wird das Problem mit den Gamelhäusern bis Ende nächsten Jahres behoben sein?
Trevisan: Ich bin überzeugt, dass es sichtbare Veränderungen geben wird. Aber ich glaube nicht, dass das Problem bis dahin vollständig vom Tisch ist. Das Modell ist immer noch rentabel. Wenn ein*e Vermieter*in das Haus verkauft, kommt der*die nächste und führt es fort. Letztlich ist es, wie in allen grösseren Städten: Es fehlt an günstigem Wohnraum und Alternativen.
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* Patrick will in der Zeitung nicht mit seinem richtigen Namen erscheinen. Der Redaktion ist sein Name bekannt.