«Etwas mehr non-binäres Selbstverständnis würde uns allen gut tun»

Falls am Mittwoch das Gleichstellungsgesetz angenommen wird, wird nicht das Geschlecht von Frauen oder Männern abgeschafft, sondern werden starre Rollenerwartungen überwunden. Zum Wohle aller, findet GLP-Grossrat Johannes Sieber, der die Vorlage mit auf den Weg brachte.

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GLP-Grossrat Johannes Sieber: «Eine Gesellschaft, die gut zu queeren Menschen ist, ist auch gut zu Frauen – und umgekehrt.» (Bild: © FotoGraf & Graf GmbH)

Seit bald 20 Jahren engagiert sich Johannes Sieber für die Sichtbarkeit von queeren Menschen und reklamiert fast ebenso lange die Erweiterung der kantonalen Gleichstellungsarbeit über «Frauen» und «Männer» hinaus. Seit der laufenden Legislatur ist er Grossrat in der Fraktion der Grünliberalen und Mitglied der Geschäftsprüfungskommission. Er hatte die Gelegenheit, an der Revision des kantonalen Gleichstellungsgesetzes mitzuarbeiten. Am Mittwoch wird dieses im Grossen Rat behandelt. 

Herr Sieber, dass nun das kantonale Gleichstellungsgesetz auf LGBTIQ-Menschen erweitert werden soll, dürfte für Sie eine Genugtuung sein? Ja, sehr! Sollte das Gesetz diesen Mittwoch vom Grossen Rat verabschiedet werden, kann ich zurücktreten (lacht).

Freuen Sie sich nicht zu früh. Von konservativer Seite wird bereits mit dem Referendum gedroht.

Stimmt, gewonnen ist noch nichts. Der Gesetzgebungsprozess war von viel Unmut begleitet. In der Vernehmlassung ging es schon los – entgegen aller Erwartungen waren die lautesten Kritiker*innen jedoch nicht etwa klassische Konservative. Vielmehr standen Frauenrechtlerinnen der ersten Stunde plötzlich wieder auf der Matte. Bis in Alice Schwarzers «Emma» wurde verkündet, dass Basel die Frauen abschaffen werde

Hat Sie das überrascht?

Davon waren wohl viele überrascht. Zumal es nie die Idee war, Frauen abzuschaffen. Genauso wenig steht zur Debatte, dass die Gleichstellung queerer Menschen auf Kosten der Gleichstellung der Frau stattfinden soll. Genau darum hatte sich der Grosse Rat ja bereits bei der Debatte zum Budget 2023 für eine Erhöhung der Sachmittel und der Stellenprozente ausgesprochen. Die Ängste kann ich nicht nachvollziehen. Eine Gesellschaft, die gut zu queeren Menschen ist, ist auch gut zu Frauen – und umgekehrt.

Erklären Sie uns, wieso?

Die Benachteiligung von Frauen hat viele Parallelen zur Benachteiligung von queeren Menschen. Nehmen Sie sich eine Weltkarte, auf der eingezeichnet ist, in welchen Ländern Homosexualität verboten ist. Und dann werden sie sehen, dass dort wo auf Homosexualtät heute noch Gefängnis oder gar die Todesstrafe verhängt wird, es auch mit den Frauenrechten nicht gut steht. Es gibt keinen Anlass dazu, die Gleichstellung von Frauen und Männern gegen die Gleichstellung von queeren Menschen auszuspielen – und umgekehrt auch nicht. 

Neues Gleichstellungsgesetz

Das neue Kantonale Gleichstellungsgesetz (KGIG) ermöglicht dem Kanton, die Gleichstellung von Frauen und Männern sowie von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans, intergeschlechtlichen und weiteren queeren Menschen (LGBTIQ) zu fördern, beispielsweise durch Sensibilisierungsmassnahmen, Informationskampagnen oder Beratungsangebote für Betroffene. Der Kanton erhält mit dem KGIG die gesetzliche Grundlage, neu auch im Bereich LGBTIQ mit privaten Organisationen zusammenzuarbeiten und diese mit Umsetzungsaufgaben zu beauftragen. Hierbei geht es insbesondere um Staatsbeiträge für Beratungsangebote für von Diskriminierungen betroffene Menschen. Das KGlG kommt am Mittwoch vor den Grossen Rat.

Warum ist das Thema denn so emotionsgeladen?

Interessanterweise steht die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gar nicht mehr zur Diskussion. Sie scheint hier unbestritten. Es ist die Entgrenzung des Begriffs «Geschlecht». Diese setzt den Gemütern arg zu. Hier trifft vieles aufeinander. Da sind die Genderwissenschaften, die sich mit «Geschlecht» auf einem Niveau befassen, das vielen – sorry for saying – schlichtweg zu abgehoben ist. Dann entlädt sich ganz offensichtlich ein Streit der Wissenschaft der Biologie in der Debatte über die Frage, wie viele Geschlechter es gibt. Als ob unsere Verfassung oder die bisherige Gesetzgebung jemals die Biologie als einzige Dimension von «Geschlecht» definiert hätte. Ziemlich anmassend. Und dann ja, die Politik: Je nach Weltbild wird befürchtet, etwas zu verlieren. Obwohl es definitiv nur zu gewinnen gibt.

Was gibt es denn zu gewinnen?

Leider entbrannte durch die Berücksichtigung identitätspolitischer Begriffe im Gesetzestext die Diskussion darüber, wer denn nun wie benachteiligt und gegenüber wem gleichgestellt werden soll. Diese Diskussion halte ich nicht für produktiv. Die Frage ist nicht, wie viele Geschlechter oder Identitäten es gibt. Die Frage ist, wie Geschlecht auch noch betrachtet werden kann. Darin schlummert enormes Potenzial. 

Inwiefern?

Wenn mein Mannsein nicht mehr zwingend bedeutet, dass ich den gesellschaftlichen Erwartungen an das Mannsein gerecht werden muss, dann hilft mir das, meinen Lebensentwurf so zu gestalten, dass mir mein Leben eher entspricht. Dasselbe gilt für Frauen, non-binäre Menschen und alle andern auch. Es spielt dabei keine Rolle, wie ich mich identifiziere und ob es dafür eine identitätspolitische Schublade gibt. Die eigenen und die gesellschaftlichen Erwartungen an das Geschlecht zu reflektieren, hilft uns allen. Frauen gewinnen damit unter Umständen eine bessere gesellschaftliche Stellung, beispielsweise im Beruf, und Männer mehr Freiheit, weniger Herzinfarkte und im Idealfall ein längeres Leben. Sie sehen: etwas mehr non-binäres Selbstverständnis würde uns allen gut tun.

«Die Entgrenzung des Begriffs ‹Geschlecht› setzt den Gemütern arg zu.»
Johannes Sieber, GLP-Grossrat

Das sehen nicht alle so.

Ja, vermutlich, weil wir unfreiwillig in unseren Geschlechterrollen gefangen sind. Und vielen war ein Ausbrechen nie möglich. Sich ausserhalb der Normen zu bewegen, ist anstrengend, viele zerbrechen daran. Gleichzeitig zeigt die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, dass sich diese Rollenverständnisse verändern. Eine Frau in Anzug und Krawatte gilt heute als normal. Und dennoch: Würde ich in einem Kleid, roten Lippen und lackierten Fingernägeln in der Januar-Session aufmarschieren, wäre das doch eher ungewöhnlich. 

Was hindert Sie daran? 

Auf jeden Fall nicht die Biologie. Es sind die gesellschaftlichen Erwartungen an mein Geschlecht. Und die Entwicklung zeigt, dass diese Erwartungen weder biologisch determiniert sind, noch für immer so bleiben müssen. Das birgt Chancen für alle.

Queer
GLP-Grossrat Johannes Sieber: «Die Pionierarbeit von Frauenrechtlerinnen ist nicht nur die Pionierarbeit für die Gleichstellung von Frauen und Männern. Sie ist auch die Pionierarbeit der Gleichstellung von queeren Menschen.»

Die Revision geht zurück auf den Vorstoss von der ehemaligen Grünen-Grossrätin Nora Bertschi. Auch Sie haben jedoch massgeblich zur Gesetzesrevision beigetragen. Manchen dürfte es sogar etwas zu massgeblich gewesen sein…

Achja? Nun, ich habe beantragt, dass die Geschäftsprüfungskommission (GPK), deren Mitglied ich bin, einen Mitbericht schreiben kann. Das legitimiert sich durch die Geschäftsordnung des Grossen Rats, die der Kommission das Thema Gleichstellung explizit zugeteilt hat. Aber klar ging es mir auch darum, Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen zu können. Ich finde, es ist uns im Mitbericht der GPK-Mehrheit gut gelungen, zusätzliche wichtige Gedankengänge abzubilden. Wir unterstützen den Bericht der federführenden Justiz-, Sicherheits- und Sportkommission (JSSK) und bringen in ein paar Punkten wichtige Präzisierungen an. Gleichzeitig konnten die Konservativen im Mitbericht der GPK-Minderheit ihre Perspektive zum Ausdruck bringen. Ich finde das richtig.

Interessanterweise deckt sich die Haltung der Konservativen in weiten Teilen mit jener der Altfeminist*innen, die sich als Gruppe unter dem Namen Justitia ruft zusammengetan haben, um das Gesetz zu bekämpfen – mit dem grossen Unterschied natürlich, dass die Rechten der Gleichstellung insgesamt den Garaus machen wollen. Inwiefern ist die Pionierarbeit von Frauen wie Margrith von Felten Ihrer Meinung nach dennoch wertzuschätzen?

Obacht, ich habe mir sagen lassen, dass «Altfeministin» ein diskriminierender Begriff sei. Ich wusste das auch nicht, aber ich meine, das gilt es zu respektieren. 

Einverstanden, dann lassen Sie uns von Frauenrechtlerinnen sprechen.

Ja. Es gibt aber noch mehr Glatteis: Ich bin mir nun nicht ganz sicher, ob Margrith von Felten das gerne lesen wird, aber die Pionierarbeit von Frauenrechtlerinnen ist nicht nur die Pionierarbeit für die Gleichstellung von Frauen und Männern. Sie ist auch die Pionierarbeit der Gleichstellung von queeren Menschen. Wo denken Sie wären wir mit beispielsweise der Ehe für alle, wenn sich nicht vor uns Generationen von Frauen ihr Stimmrecht, ihren Platz in der Politik, Gesellschaft und der Landesregierung erkämpft hätten? Oder das erste Gleichstellungsgesetz erstritten? Nirgends! Der Wert dieser Pionierarbeit ist unbestritten. Doch das Verständnis von Geschlecht hat sich entwickelt und damit die Ansprüche an die Gleichstellungsarbeit. Dem gilt es jetzt Rechnung zu tragen. 

«Wenn Identitätspolitik, dann richtig.»
Johannes Sieber, GLP-Grossrat

Wenn Ihnen die diversen Perspektiven auf das Thema so am Herzen liegen, wieso haben Sie mit Justitia ruft denn nie das Gespräch gesucht? Und sie davon zu überzeugen versucht, dass eben auch Frauen von einer queeren Gleichstellung profitieren würden?

Sie lesen in den Kommissionsberichten, dass unter anderen auch Justitia ruft angehört wurde. Ihre Position ist ja nun auch mit Anträgen im Bericht der GPK-Minderheit abgebildet. Ich hegte den naiven Gedanken, dass dieser Applaus von Rechts die ehemals progressiven Frauenrechtlerinnen zum Umdenken bewegt haben könnte und versuchte nach der Publikation der Berichte eine Brücke zu bauen. Das war ein spannender Austausch über einige Kaffees und noch mehr Emails. Ich hätte es sehr schön gefunden, wenn der Zwist zwischen den Justitia ruft und den Queers mit einem gemeinsam unterstützten Änderungsantrag in der Grossrats-Debatte ein versöhnliches Ende hätte finden können. Doch obwohl ich mir einbilde, auf ein paar Kritikpunkte wirklich gute Vorschläge gebracht zu haben, stiess ich auf wenig Begeisterung. Also kein Stunt für mich am Mittwoch. Wirklich schade.

Während Justitia ruft mit dem Gesetz auf keinen grünen Zweig zu kommen scheint, hat die «habs queer basel» als wichtige Player*in innerhalb der queeren Community Anfang Jahr eine Medienmitteilung verschickt: Sie empfiehlt den Grossrät*innen, den Anträgen der Justizkommission mit den Präzisierungen des GPK-Mehrheitsberichts zu folgen. Überrascht Sie das, nachdem im Gesetzgebungsprozess viel Unmut auch von dieser Seite zu spüren war aufgrund einer angeblich zu wenig inklusiven Geschlechtsdefinition?  

Die Geschlechterdefinition war meiner Erinnerung nach nicht das Problem. Das Gesetz nimmt die verschiedenen Dimensionen von Geschlecht auf, nämlich Biologie, Identität, Ausdruck und die Zuschreibung. Das ist sehr im Sinne der Queers. Aus queerer Perspektive war auch die Vernehmlassung-Version des umstrittenen Zweck-Artikels perfekt. Die Diskriminierung war da aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung festgehalten, ohne das Geschlecht mit identitätspolitischen Begriffen weiter auszuführen. Der Unmut entbrannte, als auf Druck der Frauenrechtlerinnen im Ratschlag zwar die Begriffe «Frau» und «Mann» eingeführt wurden, nicht jedoch die non-binären Personen. Da war natürlich zurecht Feuer im Dach. Also wenn Identitätspolitik, dann richtig. Die GPK-Mehrheit hat die Anliegen der «habs queer basel» offenbar am besten im Gesetz umgesetzt. Sie nennt Frauen und Männer und erfüllt, wie eine Umfrage ergeben hat, die Erwartungen der Community.    

«Ich habe gelernt, dass die Nennung von ‹Frauen› ein Dealbreaker ist und uns dieses Gesetz abstürzt, wenn darauf nicht eingestiegen wird.»
Johannes Sieber, GLP-Grossrat

War denn diese Diskussion um Begrifflichkeiten letzten Endes nötig? Ich meine, so verliert man doch das Wesentliche aus den Augen – und riskiert einen Kompromiss?

Ich hätte die Diskussion nicht gebraucht. Mit ‹Diskriminierung aufgrund von Geschlecht und sexueller Orientierung› ist meinem Verständnis nach alles gesagt. Denn aufgrund von was sind Frauen diskriminiert, wenn nicht aufgrund des Geschlechts? Doch ich habe gelernt, dass die Nennung von «Frauen» ein Dealbreaker ist und uns dieses Gesetz abstürzt, wenn darauf nicht eingestiegen wird. Die Diskussion um Begrifflichkeiten war wichtig, um nun ein Gesetz zu verabschieden, in dem sich alle vertreten sehen.

Also ist das Gesetz ein breiter Kompromiss? Oder hat man in der queeren Community einfach realisiert, wer die echten Feinde der Gleichstellung sind und zeigt sich nun lieber kompromissbereit, als am Ende mit leeren Händen auszugehen?

Das Ergebnis der Detailberatung am Mittwoch wird ein Kompromiss sein, der auf einem aufwändigen und fair geführten demokratischen Prozess ausgearbeitet wurde. Sollte das Gesetz dann auch die Schlussabstimmung machen, hoffe ich, dass sowohl die queeren Organisationen als auch Justitia ruft damit leben können. Entscheidend ist sowieso, was dann bezüglich Gleichstellungsarbeit tatsächlich geleistet wird. Darauf werden alle weiter ein Auge haben. 

Zu guter Letzt noch ein anderes Thema: Wollen Sie eigentlich Präsident der Basler GLP werden? (falls das Gesetz durchkommt)

Sie meinen, weil ich nach dem Gesetz die Zeit dafür hätte? Nun, ich habe ja noch ein paar andere Baustellen. Medienförderung, Kulturpolitik. Ich muss sehen, wie es mit mir weitergeht. Es mag Sie überraschen, aber ich habe noch ein Leben ausserhalb der Politik.

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Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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