«Uns beschäftigt der hohe Stress der Kinder»

Die Praxis für Kindermedizin Youkidoc im Gundeli hat sich zu einem integrativen Gesundheitszentrum mit 50 Mitarbeitenden entwickelt. Im Interview erzählt Mitgründer Jan Bonhoeffer, was die Familien im Quartier am meisten belastet und wie Kinder künftig zu Hause statt im Spital betreut werden können.

Inti Bonhoeffer Gundelifest
Kinderarzt Jan Bonhoeffer kam bei unserer rosa Rakete am Gundeli Fest vorbei. (Bild: Franziska Zambach)

Herr Bonhoeffer, wie geht es den Kindern im Gundeli?

Wir haben da zwei unterschiedliche Perspektiven. Auf der einen Seite haben wir gesunde Kinder, die wir mit regelmässigen Untersuchungen begleiten dürfen, um die bestehende Gesundheit zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Kinder, denen es nicht so gut geht. Seit der Covidpandemie ist vieles durcheinander geraten. Infekte, die es sonst nur im Winter gab, gibt es jetzt auch im Sommer. Unser wichtigstes Thema ist aber die hohe Stressbelastung der Kinder.

Gibt es da Unterschiede zwischen den Quartieren?

Viele unserer regelmässigen Patient*innen wohnen auf dem Bruderholz und im Gundeli. In beiden Quartieren ist die Stressbelastung hoch, aber die Ursachen dafür sind unterschiedlich. In den einen Familien arbeiten beide Eltern 100 Prozent im Schichtbetrieb, bei den anderen Familien kommt immer wieder Stress auf, weil einer der Eltern lange Arbeitszeiten hat oder viel auf Geschäftsreise ist. Natürlich gibt es auch in beiden Quartieren eine Vielfalt unter den Familien. Es lässt sich nicht pauschalisieren. 

Was machen Sie im Youkidoc, um dieser Stressbelastung entgegenzuwirken? 

Wir haben einen speziellen Stresstest mitentwickelt, der hilft, die individuelle Reaktion des Körpers auf Stress zu klären. Und wir haben Möglichkeiten gefunden, mit natürlichen Mitteln, Nahrungsergänzungsmitteln und kleinen Verhaltensänderungen enorm viel zu bewirken und wieder ins neuro-biologische Gleichgewicht zu kommen. Wir arbeiten integrativ und beziehen das Umfeld der Kinder bei Bedarf mit ein. Im Heart Based Center – das in enger Verbindung mit dem Youkidoc steht – machen wir Beratungen und Coachings für Eltern, Erwachsene, Jugendliche und Fachpersonen wie Lehrer*innen. Unser Ziel ist es, in dieser schnelllebigen Zeit ein bisschen mehr Stabilität in die Familien zu bringen.

Sie haben 2018 sehr klein mit einer Praxis für Entwicklungspädiatrie in der Güterstrasse gestartet und jetzt arbeiten bei Ihnen 50 Mitarbeitende. Sie haben eine Notfallpraxis und viele weitere Angebote. Wie sind Sie so schnell gewachsen? 

Wir arbeiten bedarfsorientiert. Die Notfallpraxis ist entstanden, weil wir die Covid-Patienten von den gesunden Kindern trennen und die Qualität der Vorsorgen sichern wollten. Die Räumlichkeiten haben das hergegeben. Im Haus war gerade ein Fitnesscenter ausgezogen. Ein Messebauer, der wegen der Pandemie keine Arbeit hatte, hat uns dann über Nacht eine Notfallpraxis eingebaut. Mittlerweile behandeln wir pro Jahr 6000 Kinder und Jugendliche in der Notfallpraxis. Sie steht allen Kindern und Jugendlichen in der Region für Notfälle offen, nicht nur unseren regulären Patient*innen. So ähnlich ist es auch mit unseren anderen Angeboten abgelaufen. Inzwischen haben wir Fachpersonen aus der Psychotherapie, Ergotherapie, Physiotherapie und anderen Therapieformen. 

2025-08-04 Frage des Tages Pharma-USA-1 (1)
Was braucht das Gundeli?

Vom 29. bis zum 31. August 2025 findet das Gundeli Fest im Quartier statt. Wenn wieder Konzerte auf dem Tellplatz stattfinden und das Quartier sich feiert, wollen wir nicht fehlen. Wir verlagern unsere Redaktion mitten ins Festgeschehen und sind mit unserer rosa Rakete vor Ort. Wir wollen der Quartierbevölkerung auf den Zahn fühlen: Was macht das Gundeli aus, von was braucht es mehr und von was weniger?

Darüber diskutieren wollen wir nicht nur vor Ort, sondern wie gewohnt auch digital bei unserer Frage des Tages.

Zur Frage des Tages

In der Region und in der ganzen Schweiz wird händeringend nach Kinderärzt*innen gesucht und Ihre Praxis scheint ohne Mühe zu wachsen. Wie geht das? 

Wir stellen uns die Frage selbst häufig. Wir haben tatsächlich jeden Monat mehrere Bewerbungen, sowohl von medizinischen Praxisassisten*innen als auch von Ärzt*innen. Darüber sind wir sehr glücklich. Ich glaube, dass wir eine gute Teamkultur geschaffen haben, die für ein Miteinander und Füreinander steht. Und wir haben Arbeitsbedingungen, die vereinbar sind mit modernen Familienmodellen. 

Dadurch, dass wir weder eine Klinik noch eine Einzelpraxis sind, ist Teilzeit gut möglich, wir können uns gegenseitig vertreten und der Lohn ist so gut wie es irgendwie geht. Und das spricht sich herum. 

Nimmt Youkidoc dadurch nicht den medizinisch schlechter versorgten Regionen, etwa im Baselbiet die Kinderärzt*innen weg? 

Im Gegenteil. Wir setzen uns immer sehr dafür ein, dass die Praxen, denen die Schliessung droht, weiter betrieben werden und bieten personelle Unterstützung an. Es geht uns nicht um unseren eigenen Profit, sondern um eine gute Versorgung der Kinder in der Region. 

Was kann Youkidoc zurzeit noch nicht leisten?

Ein Projekt, das wir gerade angehen, ist Hospital at Home. Das kennt man aktuell eher für ältere Menschen. Ich glaube aber, dass die Pädiatrie sich optimal für Hospital at Home eignet. Wir haben gerade ein Pilotprojekt erfolgreich abgeschlossen. Wir durften die ersten zwei Dutzend Kinder spitaläquivalent zu Hause betreuen.

Welche Form der ärztlichen Begleitung brauchten die Kinder aus dem Pilotprojekt?

Das waren chronisch kranke Kinder, die eine akute Situation hatten. Das heisst, wir haben bereits eine sehr gesundheitskompetente Familie, mit der wir uns getraut haben, den Versuch aufzubauen. Es geht aber nicht um die grundsätzliche Versorgung chronisch kranker Kinder zu Hause, das ist etwas ganz anderes. Es geht beispielsweise um ein Kind mit chronischem Asthma, das wegen einer akuten Erkrankung erneut ins Spital müsste. Durch die neue Medizintechnik ist Heim-Monitoring viel einfacher möglich. So können Eltern und Ärzt*innen zum Beispiel die Werte via App beobachten und wir werden im Notfall informiert. Das Problem ist aber, dass es keinen adäquaten Tarif für diese Art der Arbeit gibt, also auch keine Bezahlung. Wir machen das im Moment quasi ehrenamtlich. 

Warum haben Sie Youkidoc ausgerechnet im Gundeli gegründet?

Wir haben uns damals überlegt, wo viele junge Familien mit Kindern leben und wo es an Kinderärzt*innen fehlt. Hier haben damals zwei Praxen geschlossen. Der Bedarf war also gross. Das Quartierleben im Gundeli ist toll, wir sind hier unglaublich gut aufgenommen worden. Und wenn wir etwas dazu beitragen können, dass hier eine neue, gesunde und glückliche Generation heranwächst, sind wir sehr froh.

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