«Uns geht es darum, die Leute weiterhin aufzurütteln»
Der Bundesrat will dem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Prozess der Klimaseniorinnen nicht folgen. Die Aktivistinnen sind «masslos enttäuscht» und rufen zu einer spontanen Protestkundgebung in Basel auf, wie Rita Schiavi Schäppi im Interview sagt.
Rita Schiavi Schäppi, Sie haben im April von einem «historischen Entscheid» gesprochen, als das Urteil vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefällt wurde. Haben Sie damit gerechnet, dass die Schweizer Regierung es ignoriert?
Nein. Das ist wirklich aussergewöhnlich. So verhalten sich eigentlich nur ganz problematische Staaten. Die Schweiz hat sich bisher immer mindestens bemüht, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen. Dass die Mehrheit der Räte immer wieder betont haben, es handle sich um reinen Aktivismus, das enttäuscht mich schon masslos.
Rita Schiavi Schäppi ist ehemalige Basler Grossrätin und aktive Klimaseniorin. Sie hat gemeinsam mit anderen Aktivist*innen das Urteil über den Klimaschutz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erstritten. Mit dem Urteil haben die Schweizer Seniorinnen im April 2024 Justizgeschichte geschrieben.
Was genau enttäuscht Sie?
Die Menschenrechte haben sich immer weiterentwickelt und es ist auch wichtig, dass sie das tun. Man kann heute nicht sagen, es fällt nur in die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs, was ursprünglich unter die Menschenrechte fiel. Die Zeiten haben sich geändert, das Klima spielt heute eine eminent wichtige Rolle. Es geht hier doch konkret um das Recht auf Leben und Gesundheit. Der Staat hat die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass es seinen Bürgerinnen und Bürgern gut geht.
Was hatten Sie sich denn konkret erhofft?
Der Bundesrat müsste viel ambitioniertere Ziele formulieren. Die Politik müsste viel dezidierter für Klima-Gesetze sein und erklären, warum sie wichtig sind. Zudem müssen die Gesetze viel sozialer ausgestaltet werden, damit die Stimmberechtigten sie akzeptieren.
Inwiefern?
Man kann die Bürger*innen nicht nur belasten. Es ist logisch, dass Vorhaben, die einzelne Personen viel Geld kosten, abgelehnt werden. Ich verstehe das auch. Viele Menschen, die aufgrund der Teuerungen ohnehin Mühe haben, um über die Runden zu kommen, haben Angst, Geld investieren oder sich verschulden zu müssen.
«Ich finde es tragisch, wenn Gesetze, die für das Klima absolut Sinn machen, aus Angst von den Leuten abgelehnt werden. »Rita Schiavi Schäppi, Klimaseniorin
Haben Sie da einen Lösungsansatz?
Ja, gerade Basel ist da ein gutes Beispiel, wenn wir an die Solarinitiative denken. Das ist eine gute Sache und da müsste die Politik schauen, dass das Obligatorium abgefedert wird.
Wie denn?
Man könnte sagen: Wer keine eigenen Investitionen tätigen kann oder möchte, der sollte sein Dach zur Verfügung stellen dürfen. Konkret hiesse das: Die IWB oder eine Genossenschaft übernehmen die Kosten für das neue Solardach und dafür gehört ihnen auch der Strom, der produziert wird. Das wäre doch überhaupt kein Problem und es würde viele Menschen entlasten, die sich ein Solardach selbst schlicht nicht leisten können.
Eine Förderung seitens des Staates reicht aus Ihrer Sicht also nicht aus?
Nein. Erstens ist die Förderung sehr minim. Zweitens habe ich als Klimaseniorin die älteren Menschen im Blick. Abgesehen vom finanziellen Aufwand wissen sie doch gar nicht, wie sie vorgehen sollen. Sie sind schlicht überfordert, und von dieser Last sollten sie befreit werden, indem sie ihr Dach der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen können. Ich finde es tragisch, wenn Gesetze, die für das Klima absolut Sinn machen, aus Angst von den Leuten abgelehnt werden. Gerade in Basel wäre das absurd.
«Es ist klar, dass der Klimawandel etwas kostet. Aber es wird noch viel mehr kosten, wenn man nichts macht.»Rita Schiavi Schäppi
Weshalb?
Wir haben hier überhaupt kein Geldproblem. Es ist klar, dass der Klimawandel etwas kostet. Aber es wird noch viel mehr kosten, wenn man nichts macht. Ich finde, der Überschuss, den der Kanton Basel-Stadt aus Steuergeldern erzielt hat, sollte ins Klima fliessen. Es könnte beispielsweise ein Klimafonds gegründet werden.
Verpasst die Schweiz mit der aktuellen Reaktion eine grosse Gelegenheit, etwas gegen den Klimawandel zu tun?
Natürlich! Das aktuelle WWF-Rating zeigt das doch klar auf. Basel-Stadt hat hier noch am besten abgeschnitten, erreicht die Klimaziele aber auch nicht, wenn es so weitergeht. Die Schweiz tut noch lange nicht genug.
Erhalten Sie nach wie vor grossen Rückhalt aus der Bevölkerung?
Das hoffen wir. Es wird sich auch heute Abend zeigen. Wir planen eine Protestkundgebung auf dem Marktplatz. Ich bin überzeugt davon, dass die Klimaseniorinnen immer noch eine grosse Rolle spielen können. Einerseits, weil wir dieses Urteil erstritten haben und andererseits auch, weil wir glaubwürdig sind.
Die Klimaseniorinnen protestieren spontan, zusammen mit der Klimabewegung, jüngeren und älteren Menschen, Männern und Frauen, gegen die heute geäusserte Haltung des Bundesrates. In einer Mitteilung schreiben sie: «Die Klimaseniorinnen werden weiterkämpfen mit allen politischen und rechtlichen Mitteln, um den Klimawandel zu stoppen und die Ziele des Pariser Abkommens einzuhalten.» Die Kundgebung findet Mittwoch, 28. August, um 18 Uhr auf dem Marktplatz in Basel statt.
Worin liegt ihre Glaubwürdigkeit?
Ich denke, wir sind schon aufgrund unseres Alters überzeugend. Wir gehören zu den stark Betroffenen des Klimawandels, allein aufgrund der Hitze. Aber wir treten auch für die kommenden Generationen ein. Ich bin Grossmutter und tue das alles auch für meine Enkelkinder und die folgenden Generationen. Es macht mir grosse Angst, zu sehen, in welcher Geschwindigkeit sich das Klima verändert.
Welche Möglichkeiten haben Sie, um auf den Beschluss des Bundesrats zu reagieren?
Leider haben die internationalen Gerichte keine Durchsetzungskraft. Wir können protestieren, anprangern und weiterhin aktiv sein. Das sehen wir als unsere Pflicht. Nun müssen die Menschen reagieren, indem sie Referenden bekämpfen, Initiativen lancieren oder auch mit zivilem Ungehorsam in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen. Uns geht es jetzt darum, die Leute weiterhin aufzurütteln. Die Zukunft liegt in unser aller Hand.