Gedanken zum Gedenken

Kolumnistin Cathérine Miville füllt ihre Agenda fürs neue Jahr mit Geburtstagen und Terminen und gerät dabei ins Grübeln. Denn neben Feiertagen gibt es Gedenktage, die an dunkle Stunden erinnern. Bei all den neuen Krisen, fragt sich unsere Autorin, wie sie sich davor schützt, nicht zu relativieren, zu verdrängen oder zu vergleichen.

Lichter Gedenken Kolumne Miville
Zum Jahreswechsel beschäftigen Cathérine Miville vor allem die anstehenden Gedenktage. (Bild: Adobe Stock)

Auf dem Deckel des Joghurtbechers, den ich letzte Woche gekauft habe, stand 06.01.2026. Dieses Verfallsdatum machte mir schlagartig klar: Das Jahr geht zu Ende. Höchste Zeit, auf dem Heimweg ein Leporello für 2026 zu besorgen. Zuhause falte ich ihn auf und schon liegen 365 frische Tage auf unberührtem Papier vor mir. Was für ein Unterschied zu meinem aktuellen Kalender, der durch Markierungen und Querverweise das chaotische Bild eines bald vollständig gelebten Jahres zeichnet.

Die erste Eintragung kostet immer Überwindung. Aber Bleistift gespitzt und los geht’s mit den Geburtstagen der Familie und enger Freund*innen sowie den familiären Todestagen, gefolgt von den Terminen, die ich hinten in der alten Agenda für 2026 notiert habe. Soweit so fein, aber nun wird es komplexer, denn meine Wochenübersicht spiegelt mit der Schweiz und Deutschland zwei recht unterschiedlichen Welten ab, in denen ich lebe, denke und verwurzelt bin. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Gedenk- und Feiertagen, die mich beschäftigen.

Cathérine Miville
Cathérine Miville – Ma ville

Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.

In der Schweiz ist natürlich der 1. August zentral wichtig. Für mich ist er ein willkommener Anlass, dankbar zu sein. Dankbar dafür, dass wir hier nicht das Leid und den Schmerz kriegerischer Auseinandersetzungen ertragen müssen. Auch sind wir in der privilegierten Situation, dass von uns nicht wirklich Mut gefordert wird. Ich weiss nicht, ob ich krassem Druck wirklich Stand halten oder mich wegducken würde. 

Als nach der Wiedervereinigung in Deutschland ein gemeinsamer Nationalfeiertag gesucht wurde, fiel die Wahl auf den 3. Oktober, dem Tag, an dem die DDR der Bundesrepublik beitrat. 

Prädestiniert wäre wegen des Mauerfalls eigentlich der 9.11. gewesen, auch als bleibendes Zeichen für die Menschen, die wirklich Mut beweisen mussten, als sie in der damaligen DDR für ihre Freiheit auf die Strasse gingen. Davon unabhängig wurde am 9.11.1918 die erste deutsche Republik ausgerufen. 

Aber ein Nationalfeiertag soll ein fröhlicher Tag sein. Und dies verbietet sich am 9. November: Anlässlich der Reichspogromnacht wird an diesem Tag an die durch die Nazis ermordeten Jüd*innen gedacht. Vor einiger Zeit wurde die Foto-Ausstellung «Der gelbe Stern – Nie wieder!» in der Offenen Kirche Elisabethen gezeigt. Ich kam mit einer Frau ins Gespräch, ein Satz blieb mir hängen: «Ich kann es nicht mehr hören. Was soll das in Basel? Das ist doch nur ein deutsches Thema.» Leider nein. Übers Jahr stehen zahlreiche weitere Gedenktage direkt oder indirekt im Zusammenhang mit den Opfern des Naziterrors auf der ganzen Welt. Sie werden nicht ungern verdrängt, nicht allein in Deutschland. Auch hier.

Im November werden die Tage kürzer und traditionell wird der Verstorbenen gedacht, am Totensonntag, an Allerseelen. Da sind die Laternen der Kinder am Martinstag ein wunderbarer Lichtblick.

Meine Gedanken werden schwer, vielleicht nicht allein wegen der besonderen Daten, die ich in meinen Leporello 2026 eintrage. Ein bisschen liegt es sicher auch an der sogenannten dunklen Jahreszeit. Im November werden die Tage kürzer und traditionell wird der Verstorbenen gedacht, am Totensonntag, an Allerseelen. Da sind die Laternen der Kinder am Martinstag ein wunderbarer Lichtblick.

Weiter mach ich mit Tagen, die durch Ereignisse in jüngerer Zeit weltweit im Kalender stehen:

Über Bilder hat sich der 11. September eingeprägt. Er steht für die islamistischen Attentate auf das World Trade Center und das Pentagon. Diese Bilder bleiben. Einige Zeit danach wurden in Folge der Anschläge orange Overalls so nachhaltig gebrandet, sodass das Trump-Kunstwerk «Saint or Sinner» des britischen Künstlers Mason Storm der Basler Kunstmeile in der Rümelin-Passage internationale Aufmerksamkeit bescherte. Am Wochenende begegnete ich in der Eisengasse seit sehr langer Zeit mal wieder einem kleinen Züglein, das orange gekleidet, gemächlich das Hare-Krishna-Mantra singend durch die Stadt zog. Vor einer total friedlichen Bewegung hin zu staatlich verübtem Unrecht – so können Farben ihre Prägung in unserer Erinnerung wechseln.

Die letzten Jahre waren besonders reich an Tagen, an denen sich die Welt veränderte, nicht zu ihrem Besseren: Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022, das Massaker an israelischen Zivilist*innen sowie die Geiselnahmen durch die radikal-islamistische Hamas in deren Folge der Krieg in Gaza entbrannte am 7. Oktober 2023, aber auch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten am 5. November 2024 sind Tage, an denen die Lage weltweit noch bedrückender, aggressiver und bedrohlicher geworden ist.

Die Einschläge kommen dichter. Und jedes neue unvergessliche Datum drängt ein anderes Thema, eine andere Krise in den Hintergrund. Das überfordert mich. 

Natürlich erhebe ich bei diesen absolut subjektiv ausgewählten Beispielen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mir wird jedoch deutlich: Die Einschläge kommen dichter. Und jedes neue unvergessliche Datum drängt ein anderes Thema, eine andere Krise in den Hintergrund. Das überfordert mich. 

Wie schütze ich mich davor, zu relativieren, zu verdrängen, zu vergleichen? Gedenken verbietet den Vergleich. Ich überlege, fokussiere ich meinen Blick zur Orientierung eher auf Vergangenes, Lehrreiches oder besser auf das, was heute die Gesellschaft beschäftigt, irritiert und herausfordert? Vielleicht ist ja gerade das Erinnern an das, was uns heute wichtig erscheint, schon Teil einer historischen Erzählung – im besten Fall einer, die unsere Zukunft positiv mitgestaltet. Es gibt im Kalender ja auch reichlich Tage positiver gesellschaftlicher Errungenschaften. Es sind Tage der Freude. Wir schulden den vielen starken Menschen, die entschlossen für unsere Werte der Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie gekämpft haben, hohen Respekt.

Einen Moment innehalten

Begleitet von ambivalenten Gedanken füllt sich mein Leporello. Er lässt jedoch noch genügend Raum für neue Begegnungen und Aktivitäten. Eines wird bleiben. Ich werde weiter auf der Mittleren Brücke bei der zweiteiligen Gedenktafel für die Opfer der Hexenverfolgungen einen Moment innehalten. Sie ist für mich beispielgebend für das Verbinden von historischem Bewusstsein und aktueller Verantwortung: «Basel gedenkt der Menschen, die in früheren Jahrhunderten der Hexerei bezichtigt, verfolgt, gefoltert und getötet worden sind», steht auf der einen Tafel und daneben: «Heute ist dies ein Ort, der uns ermahnt, anderen Menschen ohne Vorurteile zu begegnen und sie nicht auszugrenzen.» 

Dem ist nichts hinzuzufügen.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Miville Kolumne Theater Basel

Cathérine Miville am 07. Oktober 2025

Erinnerung an wilde Theaterjahre

Wie war das damals, als ein neues Stadttheater gebaut und mit ihm eine neue Theaterkultur in die Stadt einzog? Kolumnistin Cathérine Miville, damals fürs Theater Basel tätig, sah die Sprengung des alten Baus mit eigenen Augen und war zunächst nicht begeistert vom neuen «Betonklotz».

Weiterlesen
kunst miville ma ville

Cathérine Miville am 15. September 2025

Ist das Kunst oder kann das … übergestrichen werden?

Von ihrem Balkon aus beobachtet Kolumnistin Cathérine Miville das bunte Treiben in der Hebelstrasse. Als sie sieht, wie ein Graffito übermalt wird, stellt sie sich die grosse Fragen: Was ist Kunst? Und wo ist die Grenze von Street Art?

Weiterlesen
Luca Urgese Kolumne-1

Luca Urgese am 28. Juli 2025

Der Staat ist nicht der bessere Banker

Die Basellandschaftliche Kantonalbank befindet sich aktuell im Auge eines politischen Sturms. Es droht gar eine parlamentarische Untersuchungskommission. Für Kolumnist Luca Urgese ist das ein Beispiel dafür, dass es nicht gut ist, wenn Banken dem Staat gehören.

Weiterlesen
Cathérine Miville

Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.

Kommentare