Anders, als wenn Mama «mei mei mei» sagt
Was brauchen Jugendliche, um nicht kriminell zu werden? Ein Ansatz ist Aufklären und Sensibilisieren. Das macht der Verein «Gefangene helfen Jugendlichen» in Form von Workshops an Schulen. Bajour war dabei.
Dumme Mutproben und schlimme Jugendstreiche: In den vergangenen Monaten mussten sich Schulen und die Polizei im Raum Basel mit Amokdrohungen herumschlagen. Die Drohungen waren wohl alle nicht ernst gemeint. Die Vermutung liegt nahe, dass sie in Zusammenhang mit einer Tiktok-Challenge stehen, die Jugendliche dazu auffordert, Amokdrohungen zu machen.
Obwohl es in allen Fällen bei der Drohung blieb, gibt es jeweils schwerwiegende Konsequenzen. Jeder Vorfall muss von Schulen ernst genommen werden und die Polizei muss eine Gefährdungsanalyse durchführen. Es entsteht nicht nur ein grosser Aufwand für die Behörden, sondern schürt auch Angst und Verunsicherung unter Schüler*innen, Lehrpersonen und Eltern.
Dass eine solche Drohung ein Offizialdelikt ist und strafrechtliche Konsequenzen hat, ist vielen Jugendlichen nicht bewusst. In den vergangenen Monaten wurde rege darüber diskutiert, welche Strafen und Massnahmen angemessen sind. Vor allem aber stellt sich die Frage: Wie hält man Jugendliche davon ab, überhaupt straffällig zu werden? Eine von vielen Antworten darauf: Aufklärung und Sensibilisierung.
Ein realistischer Einblick
Beim gemeinnützigen Verein «Gefangene helfen Jugendlichen» ist der Name Programm: Er organisiert Gefängnisbesuche für Jugendliche und halbtägige Workshops an Schulen und Jugendheimen. In diesen Workshops erzählen ehemalige Häftlinge von ihrer kriminellen Vergangenheit, ihrer Zeit im Gefängnis und der Wiedereingliederung nach der Haft. Die Jugendlichen sollen verstehen, dass ein Leben in Kriminalität kein schönes ist, dass der Alltag im Gefängnis, anders als sie es aus Filmen und Musik kennen, nicht «cool» ist und dass die Konsequenzen nach dem Absitzen der Haft keineswegs vorbei sind.
Eltern, Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen sind dafür oft die falschen Absender*innen. Die Message kommt bei Jugendlichen eher an, wenn sie authentisch vermittelt werden kann. Hier kommen die Projektmitarbeiter ins Spiel: Sie haben eine delinquente Vergangenheit und können den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen. Vereinsgründerin Andrea Thelen betont, dass Abschreckung kein geeignetes pädagogisches Mittel ist. Deshalb setzt der Verein auf Aufklärung.
Das versucht auch der 36-jährige Shane Furrer. Der ehemalige Häftling ist im Januar zu Besuch an der Berufswahlschule Zürcher Oberland in Wetzikon.
Scheidung der Eltern, Kiffen, Dealen und Schlägereien: Shane Furrer stellt sich vor und erzählt von seiner Kindheit, seiner Jugend und den Anfängen seiner Kriminalität. Er gibt sehr intime und persönliche Einblicke in sein damaliges Leben. Er berichtet von schwierigen Zeiten, wie er immer wieder die Kurve gekriegt hat und danach doch wieder auf die schiefe Bahn geriet. Die Schüler*innen hören interessiert zu und stellen laufend Fragen.
Mit 15 begann Shane mit Gras zu dealen, um den eigenen Konsum zu finanzieren. Damit hat er während seiner Lehre als Automechaniker und anschliessender Ausbildung als Personal Trainer nicht aufgehört. In Kontakt mit härteren Drogen kam Shane mit Anfang 20. Damals war er verheiratet, lebte in Zürich und arbeitete in einem Fitnessstudio. Zuerst hat er das Kokain nur verkauft, begann aber mit seiner damaligen Frau selbst zu konsumieren. Nach seiner Scheidung rutschte er tiefer in die Kriminalität und kam in Kontakt mit internationalen kriminellen Organisationen.
Alles gipfelte in einer Wohnungsdurchsuchung und schweizweiter Fahndung. Shane tauchte ab. Er verbrachte ein Jahr auf der Flucht in der Schweiz und fünf weitere in den Niederlanden, wo er weiterhin in kriminelle Geschäfte verwickelt war. Er erzählt den Jugendlichen im Workshop von seinen ständigen Angstzuständen, von Depressionen und Heimweh. «Im Drogenbusiness hat ein Menschenleben keinen Wert.» Der Satz fährt den Schüler*innen ein – ein Raunen geht durch die Runde.
«Sobald du das Gefängnis betrittst, bist du fremdbestimmt.»Shane Furrer
Während Shanes Zeit auf der Flucht kam seine Tochter in der Schweiz zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt wurde er nicht nur von Schweizer Behörden gesucht, sondern stand auf der «Wanted»-Liste von Interpol. Fünf Monate später wurde Shane von einem Spezialeinsatzkommando (SEK) verhaftet. Er verbrachte fünf Jahre hinter Gittern, unter anderem in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, dem grössten Hochsicherheitsgefängnis der Schweiz.
«Sobald du das Gefängnis betrittst, bist du fremdbestimmt», sagt er. Dort war Shane – abgesehen von einer Stunde Hofgang – den ganzen Tag in seiner Zelle weggesperrt. Die restliche Zeit verbrachte er umgeben von Schwerverbrechern: Mörder, Folterer, Vergewaltiger und Pädophile. Shane berichtet von einer Schwere in der Luft und einer stets unangenehmen Atmosphäre. Mord und Suizid sind allgegenwärtig. «Du darfst nicht du selber sein, du darfst nicht glücklich sein, du kannst niemandem trauen.» Auch Expert*innen warnen vor den psychischen Folgen einer solchen Isolation.
Auch die Angehörigen leiden
Selbst die Zeit im Hof bleibt Shane negativ in Erinnerung. Wer sich romantisiert vorstellt, dass man den ganzen Tag pumpen kann, irrt: Shane erzählt, dass die Fitnessgeräte spärlich sind und es darum ständig verbale und körperliche Auseinandersetzungen gebe. Auch der Blick in die Luft machte ihn traurig: «Im Gefängnis hat der Himmel vier Ecken.»
Shane sehnte sich nach seiner Tochter – Besucher*innen unter 12 Jahren sind im Gefängnis Pöschwies nicht erlaubt. Das letzte Mal hatte er sie mit fünf Monaten gesehen, bei seiner Entlassung war sie schon fünf Jahre alt und die KESB hatte das Mädchen zuerst in einem Heim, dann bei Shanes Mutter platziert. Shane erzählt, wie ihm bewusst wurde, dass nicht nur er, sondern auch sein Umfeld unter seiner Kriminalität gelitten hatte. Dass seine Tochter unschuldig in eine schlechte Situation geboren wurde, dass seine Beziehungen in die Brüche gingen, dass seine Mutter in ständiger Sorge leben musste. Sie sagte zu Shane, die Verhaftung sei das Beste, das ihm passieren konnte. «Vor deiner Verhaftung wartete ich jeden Tag auf den Anruf, dass mein Sohn tot aufgefunden wurde.»
«Ich bin mir sicher, dass Shane mich vor so Einigem bewahrt hat, dafür bin ich dankbar.»Schüler
Während des ganzen Workshops hören die Schüler*innen aufmerksam und gespannt zu – kein Kichern, kein Tuscheln. Untypisch für einen Haufen 15- und 16-Jähriger. Das Thema berührt sie. Ein Schüler zeigt seine Arme und sagt: «Ich hatte den ganzen Morgen Gänsehaut. Das Thema hat mich richtig bewegt, das hätte ich nicht gedacht, als ich heute zur Schule kam.» Der Workshop habe ihm gezeigt, dass sich Kriminalität nicht lohnt. Was er heute gehört habe, werde er sein Leben lang nicht vergessen. «Ich bin mir sicher, dass Shane mich vor so Einigem bewahrt hat, dafür bin ich dankbar.» Weitere Schüler*innen berichten, dass sie sich von Shane gut abgeholt gefühlt haben. «Es war nicht, als würde ein Lehrer oder meine Mutter ‹mei mei mei› sagen, das hat mir gefallen.»
An der Berufswahl- und Weiterbildungsschule Zürcher Oberland wird der Workshop bereits zum dritten Mal durchgeführt. Mit Erfolg – Schulleiterin Bettina Gemperli berichtet: «Ehemalige Schüler*innen erzählen mir immer wieder, dass der Workshop sie nachhaltig geprägt hat.» Sie findet, alle Schulen mit Jugendlichen hätten Bedarf, ihre Schüler*innen zum Thema Kriminalität zu sensibilisieren.
«Unterbewusst geschieht bestimmt jedes Mal viel in meinem Kopf.»Shane Furrer
Auch Shane ist zufrieden: «Es war eine tolle Klasse und sie haben viele interessante Fragen gestellt.» Für ihn sind diese Workshops eine Art Verarbeitung und intensives Auseinandersetzen mit seiner Vergangenheit. Er erzählt, es sei ein Gemisch aus positiven und negativen Gefühlen, obwohl die negativen mit jedem Workshop nachlassen. «Unterbewusst geschieht bestimmt jedes Mal viel in meinem Kopf», erzählt er. Aber das Positive überwiegt: «Ich mache es gerne für die Jugendlichen. Wenn sie aus meinen Fehlern lernen können, dann hat es sich gelohnt.»
Heute lebt Shane in seiner eigenen Wohnung, arbeitet neben seinem Engagement beim Verein als Personal Trainer und hofft, bald eine Ausbildung zum Sozialarbeiter machen zu können. Seine Tochter wohnt noch bei Shanes Mutter, wird aber innerhalb des nächsten Jahres zurück zu ihrem Papa ziehen. Darauf ist er besonders stolz.