«Was bedeutet eigentlich Krieg?»
Annas Flucht war anstrengend. Jetzt ist sie in Basel. Doch sie hat «alle inneren Stützen verloren». Und sucht Erklärungen für den Terror.
«Ich wache von den Explosionen auf und sitze in meinem Bett. Was muss man eigentlich in so einem Fall machen?», – las ich in der Instagram Story einer alten Bekannten um 5 Uhr morgens am 24. Februar. Es nahm mich so stark mit, dass ich mich sogleich in sie versetzen konnte. Ich habe ihr sofort eine Nachricht geschrieben. Seitdem sind wir in ständigem Kontakt geblieben.
Anna befand sich an jenem Morgen in ihrem Bett in Charkiw, ich sass schockiert auf dem Sofa in Basel. Jetzt sitzt sie mit mir auf diesem Sofa in Basel und fragt mich, was Krieg eigentlich bedeutet. Wir sprechen lange und ich mache mir im Kopf Notizen, um später ihre Geschichte weitergeben zu können. Sie sagt:
«Bis zu jenem Tag hatte ich keine Ahnung, was das Wort ‹Krieg› überhaupt bedeutet. Und was man dabei machen soll. Ich habe meinen Bekannten angerufen, der im Militär in Kyiv ist. Er hat mich beruhigt, dass es gar nicht um Zivilisten geht. Laut ihm bedeutet Krieg Kämpfe zwischen militärischen Kräften auf beiden Seiten.
Am ersten Tag war es auch so. Ich dachte also, dass man uns bald evakuieren würde, damit wir unter diesen Kämpfen nicht leiden müssen. Aber schon am zweiten Tag haben die ersten Raketen Hochhäuser getroffen.
Ich war so ratlos, ich kann es dir gar nicht beschreiben. Ich sass einen Tag lang im Schock, wie eingefroren. Man trifft bewusst auch Häuser, in denen sich viele Menschen befinden. Wofür? Was haben diese Menschen den Russen angetan? Sogar einen alten Mann haben sie getötet. Lasst ihn eines natürlichen Todes sterben, nicht durch Raketen. Ist das der Krieg? Ich bin überzeugt, das sind Kriegsverbrechen! Ich lese die Bedeutung von Kriegsverbrechen und sehe nur das. Was die russische Armee teilweise macht, ist eine Liste von Kriegsverbrechen.»
Die ukrainische Schriftstellerin Eugenia Senik (35) lebt seit August 2021 in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Am 9. Mai erscheint ihr dritter Roman, «Das Streichholzhaus», auf Deutsch. Es wurde vom PEN Ukraine in die Liste der besten ukrainischen Bücher des Jahres 2019 aufgenommen.
Jetzt kann Anna endlich ausatmen und ihrem Frust Luft machen. Wie hat sie es geschafft, hierher zu kommen? Ihr Weg bis zur Schweiz war lang und anstrengend. Bis zu diesem Moment haben wir einander nur Nachrichten oder lange Voice Messages geschickt. Von nun an können wir uns persönlich unterhalten.
Anna braucht Zeit. Sie braucht viel Zeit, um zu verstehen, wo sie jetzt ist und was hinter ihr geblieben ist. Was sie durchmachen musste, um ruhig auf dem Sofa in Basel sitzen zu können. Dies zeigen alle Sprachnachrichten, die sie mir auf ihrem Weg schickte und mit deren Hilfe drehe ich die Zeit zurück, um Annas Flucht noch einmal zu verfolgen. Diese hat sie aus Charkiw geschickt:
«Wir sind schon im Zug. Wir konnten lange Zeit keinen Taxi finden, bis ich realisiert habe, dass man in der Taxi App den Preis erhöhen muss, damit wir von den Fahrern nicht ignoriert werden. Am Bahnhof waren tausende Menschen und Haustiere. Es war so furchtbar, stundenlang stehen zu müssen und zu wissen, dass uns zu jeder Zeit eine Rakete treffen könnte. Wir fühlten uns so ungeschützt und schauten immer in den Himmel.
Ich musste mich noch um meine Mutter kümmern, sie ist schon alt und noch ratloser als ich. Aber jetzt fahren wir endlich los. Ich würde es keine Woche mehr unter den Raketen und Explosionen aushalten. Ich würde einfach verrückt werden. So schrecklich ist dieses Gefühl, wenn die Raketen und Bomben explodieren. Wir konnten im Keller gar nicht schlafen wegen den systematischen Angriffen. Das Herz schlug so stark und der Körper zitterte. Man spürt es so stark…
Aber wohin sollen wir eigentlich fahren? Dieser Zug fährt nach Poltawa und dann weiter nach Lwiw. Wo sollen wir aussteigen?»
Ich empfahl Anna nach Lwiw zu fahren. Einfach so weit weg von Charkiw wie nur möglich. Obwohl es in Poltawa gewissermassen ruhig ist, weiss man nie, wo die Russen als Nächstes angreifen werden. Lwiw liegt viel westlicher und deshalb schien es mir dort sicherer für sie zu sein. Dort sind sie aber nur kurz geblieben und haben sich gleich entschieden, weiter nach Polen zu fliehen.
«Wir sind in Krakau am Bahnhof. Wohin sollen wir weitergehen?», – bekam ich ihre Nachricht an einem späten Sonntagabend. Sie mussten irgendwo übernachten und ich kontaktierte alle Bekannten in Polen und fragte, ob jemand Anna und ihre Mutter bei sich aufnehmen könnte. Gleichzeitig suchte auch Anna nach Freiwilligen, die den Ukrainern gleich am Bahnhof mit der Unterkunftssuche halfen. Von einem Hotelzimmer schickte sie mir eine sehr lange Sprachnachricht.
«Es war die schrecklichste Reise, die ich je erlebt habe. Der Zug von Charkiw nach Lwiw war so gut, dass wir uns für die Reise nach Polen auch für den Zug entschieden haben. Es war aber ein riesiger Fehler. Wir mussten fast zehn Stunden stehend in einer engen Menschenmenge warten, bis wir dann in den nächsten Zug durften.
Und der Zug… Es war eine alte elektrische Eisenbahn. Die Menschen sassen überall auf dem Boden in den Gängen. Aber das war nicht das Schlimmste. Nach kurzer Fahrt bremste der Zug und stand auf den Schienen stundenlang in einem Feld. Wir kannten den Grund nicht und alle wurden mit jeder Stunde nervöser. Es gab fast keine Luft zum Atmen, keine Klimaanlage, kein Wasser in der Toilette. Den Menschen ging es schlecht. Eine Katze neben uns ist in den Händen ihrer Besitzerin gestorben. Und der Zug fuhr nicht los.
Wir standen die ganze Nacht im Feld. Am Morgen sind Freiwillige mit Wasser gekommen, weil wir alle schon am Verdursten waren. Man hat unsere Flaschen genommen, um sie nachzufüllen, aber dann bekamen wir die Flaschen von jemandem anderen zurück, weil es zu chaotisch war.
Jemand ist zum Lokführer gegangen, um nach dem Grund zu fragen, warum wir eigentlich stehen. Wir mussten stehen bleiben, weil an der Grenze eine grosse Schlange von Zügen wartete. Man konnte unseren Zug gar nicht empfangen. Ich wollte weg. Ich wollte das Taxi rufen und nach Lwiw zurückfahren. Aber dann fuhren wir endlich los. Bis zur Grenze zu Polen.»
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin Eugenia Senik ihre Gedanken, Sorgen und Ängste für Bajour aufgeschrieben. Du kannst sie als Podcast hören, Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.
Anna war froh, endlich eine Weile in Ruhe in Polen bleiben zu können, aber ihre Mutter wollte so bald wie möglich weiter zu ihren Verwandten nach Georgien fahren. Sie machten ab, sich in Krakau einige Wochen zu erholen, doch nun ging es Annas Mutter plötzlich schlecht. Ihr Blutdruck stieg so hoch, dass man sie ins Krankenhaus bringen musste. Nach diesem Anfall sagte die Mutter, dass sie sofort abfliegen und keinen Tag mehr unter fremden Menschen bleiben will. So musste auch Anna mitfliegen, um ihre kranke Mutter zu begleiten.
Sie blieb in Tbilissi und war wieder so ratlos, wie noch vor kurzem. Ich empfahl ihr mehrere Male, in die Schweiz zu kommen, nur traute sie sich lange nicht.
«Ich habe doch keine Arbeit und die Preise in der Schweiz sind zu hoch. Ich warte vielleicht, bis alles zu Ende ist und fahre zurück nach Charkiw. Es muss doch bald ein Ende geben, oder?»
Ich hatte leider keine Antwort auf diese Frage. Ich wünschte aber, es wäre so. Doch nach einigen Wochen Hoffen und Warten hat sich die Lage in Charkiw nicht gebessert. Anna kaufte das Ticket nach Basel.
Schon im Auto vom Flughafen und dann später bei uns auf dem Sofa teilte sie ihre tiefen Gedanken mit mir.
«Ich habe alle meine Stützen verloren. Alle inneren Stützen. Was macht man in so einer Situation? Ich habe keine Ahnung. Keine meiner Lebenserfahrungen helfen mir damit. Die Welt fällt einfach auseinander. Wohin gehen? Was tun? Ich war noch nie so ratlos wie jetzt.
Alles, was ich so hart und sorgfältig während meines Lebens aufgebaut und gepflegt habe, ist auf einmal zerstört. Jetzt will ich nur Ruhe haben, nichts anderes. Ich will mich nicht mehr bewegen. Einfach an einem Ort bleiben, bis ich zurück nach Charkiw darf. Das ist alles, was ich will.»
Leider muss Anna noch einmal umziehen, bis sie eine feste temporäre Unterkunft in der Schweiz haben wird, da bei uns meine Schwester und Nichte wohnen. Sie will auch sofort mit der Arbeitssuche anfangen. In Charkiw hat sie als Grafik Designerin in einer Firma gearbeitet. Am 24. Februar wurde die Firma jedoch geschlossen und Anna ist nicht sicher, ob ihr ihre Arbeitsstelle nach dem Krieg erhalten bleiben wird. Gleichzeitig suchen wir für sie einen sicheren und ruhigen Ort, wo sie bis Ende des Krieges bleiben darf.
Gerade heute denkt Anna an ihre eigene Angst am Bahnhof zurück, während sie die Nachrichten über die getöteten Menschen am Bahnhof in Kramatorsk liest.