Liebe Eltern, bitte hört auf mit dem Gender-Gaga
Babys denken nicht an pink oder blau, aber Eltern können gar nicht genug davon kriegen. Sascha plädiert für eine genderneutrale Erziehung.
Guten Tag, ich bin soeben auf die Welt gekommen, ich bin gut in: schreien, schlafen, sabbern. Meine Gedanken: Hunger! Durst! Aua! Liebe! Schlafen! zzzZ
Nicht meine Gedanken: oHmEiNgOtT ich habe 1 Penis, aber mir wurde 1 rosa Käppli vom Gotti Monika aufgesetzt, weil sie das als Baby trug und jetzt denken alle ich bin ein Mädchen!!1!11!
Die allermeisten Eltern haben hart eins an der Klatsche, find ich. Sie gendern ihre Kinder bis in den letzten Flicken ihrer kleinen Strampelanzüge und legen ihnen damit ein Regime an Regeln und Erkennungssymbolen auf, das die Kinder sehr schwer aufbrechen können.
Wenn sie queer sind, leiden sie später im schlimmsten Fall an einer höheren Suizidrate als cis Menschen. Weil wir in einer Gesellschaft aufwachsen, die eine deutliche Präferenz für eindeutig voneinander zu unterscheidende Geschlechter hat (und zwar zwei!), die unterschiedlich behandelt werden sollen.
Strumpfhosen für den Adel – Geschlecht ist gemacht
Diese klare Unterscheidung hat sich erst mit der Entstehung des Bürgertums so richtig entfaltet. Zu Zeiten der Feudalherrschaft war man in Europa entweder Untergebene oder gehörte zum Adel. Und dort tanzten alle Bessergestellten gleichermassen in Strumpfhosen und gepuderten Perücken umher – oder ackerten eben auf dem Feld.
Erst mit der Entstehung des Bürgertums wurde die Frau typischerweise zu häuslicher Arbeit verdammt. Gleichzeitig begann der Herr, drinnen Patriarch seiner Kernfamilie zu sein und draussen im Anzug einem Beruf nachzugehen.
Dieser stark verdichtete Rückblick in die Geschichte zeigt auf: Geschlecht ist einerseits konstruiert. Und andererseits: Geschlecht verändert sich. Heute ist eine Frau ja auch dann eine Frau, wenn sie arbeitet und einen Anzug trägt. Genauso wie heute ein Mann auch Kinder erziehen darf.
Dennoch: Tun wir bitte nicht so, als dürften Mädchen problemlos Anzüge tragen und Knaben Care-Arbeit mögen.
Gegenüber Neugeborenen sind die strikt binären Erwartungen besonders auffällig. Die erste Frage lautet immer noch: Junge oder Mädchen? Intergeschlechtliche Menschen oder non-binäre Menschen denken wir bei der Geburt gar nicht erst mit. Was zählt: Kinder anhand ihrer primären Geschlechtsmerkmale in die Kategorien «weiblich/männlich» einzuteilen und das allen eindeutig und prompt mitteilen. Und dann folgt logischerweise, die Kinder entsprechend dieser primären Geschlechtsorgane zu behandeln.
Ballern bis die Windel brennt – Der Fall USA
Ein Bilderbuchbeispiel dafür: In den USA feiert man sogenannte «gender-reveal Parties» zur Bekanntgabe des Geschlecht eines Ungeborenen. Dabei wird alles mögliche zerballert. Bis blaue oder rosa Konfetti rausfliegen und alle ausflippen. Es gibt hunderte von Videos solcher Partys auf Youtube, die Konfetti sind immer. Rosa. Oder. Blau.
Cringe: Ich habe eine solche Konfettibombe für eine flotte Einbaslerung dieser irren Parties kürzlich im Manor in der Greifengasse gesehen. Brace yourself, winter is coming.
In akademischen Kreisen wird das als Rückschluss von «Sex auf ➡ Gender» bezeichnet. Sex bedeutet das biologische Geschlecht, und Gender das soziale.
Eine biologische Disposition sollte also nach dieser Handlungsmaxime darüber bestimmen, ob ich mich als Kleinkind mehr über einen Bagger als über ein pinkes Einhorn freuen soll?
Das ist Quatsch, es sind die Eltern, die diese Einteilung wollen, nicht die Kinder.
Ein prägnantes Beispiel dafür ist das Baby-X-Experiment: Hier wurden Säuglingen geschlechtlich stereotypisierte Kleider angezogen, allerdings nicht passend zu ihren primären Geschlechtsmerkmalen, sondern in entgegengesetzter Richtung. Die Eltern, die in der Studie mit den Kindern spielen sollten, griffen automatisch zu Buben-Spielzeug, wenn sie dachten, mit einem Buben zu spielen – und umgekehrt. Weil sie davon ausgingen, dass die Kinder diese Spielsachen spannender fanden. Am Ende waren sie überrascht, dass das gar nicht ein Bub bzw. ein Mädchen war, mit dem sie gespielt hatten.
«Aber wie sollen wir das den Tanten und Göttis erklären?»
Ich habe mit einigen Freundinnen (es waren alles cis Frauen) gesprochen, die Mütter geworden sind. Einige haben gesagt: «Weisch ich find das scho mega krass mit däm Gendermainstreaming, aber mir döi üses Chind denn möglichscht gschlächtsneutral erzieh.»
Und ich habe gefragt: «Ok, aber warum gibst du dem Kind dann nicht einen geschlechtsneutralen Namen? Warum verwendest Du keine geschlechtsneutralen Pronomen bis das Kind sich entscheidet: Hej ich bin entweder das. Oder das. Oder das. Oder etwas, von dem ihr noch gar nichts wusstet, ha!», worauf mir die Freundinnen antworteten: «Wir haben uns das überlegt, aber es ist ein bisschen schwierig, weisst Du. Wie bringen wir das den Grosseltern bei? Den Tanten und Göttis?»
Das ist schwierig, indeed, aber nur, wenn wir unseren Kindern die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, erziehen wir sie frei. Nicht indem wir denken, dass eine genderneutrale Erziehung ein Regime von Non-binarys sei. Es geht drum, dass mir ein Kind unabhängig von seinen Geschlechtsmerkmalen sagen kann: «Ich möchte nicht mehr, dass ich Eli heisse, was ein geschlechtsneutraler Name ist. Sondern ich möchte Fabian heissen und ich möchte, dass man ‹Er› sagt.»
Ich wünsche mir, dass uns das allen bewusster wird. Und dass wir die Zeit auf uns nehmen, das auch den Grosseltern und Tanten und Göttis zu erklären.
Zur Fotografin
Die Fotos dieser Serie sind Arbeiten der freiberuflichen Fotografin Anne Gabriel-Jürgens. Sie lebt und arbeitet in Zürich und Hamburg und begleitet Sascha für ein Langzeitprojekt mit dem Titel «Outbetweeninside». Die Fotografin beschreibt die Arbeit als visuellen Dialog mit Sascha. Alle Bilder dieser Artikelserie sind Teil dieser Zusammenarbeit.
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Vor einem Jahr und genau zwölf Kolumnen hat Sascha Rijkeboer für Bajour die erste Kolumne geschrieben. «Ich bin Sascha – kein er, kein sie – Sascha». Die Texte haben uns auf der Redaktion – und auch euch, liebe Leser*innen, Freude bereitet und herausgefordert. Das konnten wir an den überdurchschnittlichen Klickzahlen für Sascha-Kolumnen, sowie an den Kommentaren und teils entrüsteten Mails ablesen.
Saschas Kolumne hat für Bajour den Horizont erweitert und eine wichtige Stimme in den Diskurs dieser Stadt hineingetragen. In eine Welt, die in Sachen Geschlechtlichkeit immer noch an zwei Hälften denkt, anstatt an ein Spektrum. Sascha setzt sich als nonbinary dafür ein, diese behauptete Normalität aufzubrechen und leistet dafür wichtige Vorarbeit für jüngere Queers, Nonbinaries und Transmenschen.
Die Kolumne geht mit dieser zwölften Ausgabe zu Ende. Sascha wird allerdings weiterhin sichtbar sein, denn auf Saschas Instagram-Account ist immer schwer was los. Sascha schreibt Kolumnen beim queerfeministischen Missy Magazin aus Berlin. Und Sascha wird Bajour als freie*r Mitarbeiter*in erhalten bleiben. Darüber freuen wir uns sehr.
In diesem Sinn: Kein Adieu, sondern auf weitere Texte aus Saschas spitzer Feder: Wir lesen uns!