«Hätte ein schlimmer Unfall etwas geändert?»

Der Personalmangel in der Pflege spitzt sich zu, erste Spitäler schliessen Abteilungen. Was heisst das für die Patient:innen und das Personal? Vier Pflegefachfrauen erzählen.

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Dieser Artikel ist am 27.10.2022 zuerst bei der WOZ erschienen. Die Wochenzeitung gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Alexia Braeuchi (26)

«Als letztes Jahr die Pflegeinitiative angenommen wurde, glaubte ich, dass sich jetzt endlich etwas verändert. Inzwischen sind in der Schweiz etwa 3300 weitere Pflegende aus dem Beruf ausgestiegen, die nicht ersetzt werden können.

Pflegefachfrau Alexia Braeuchi
Alexia Braeuchi (26) (Bild: Florian Bachmann)

Ein schockierendes Beispiel für die Auswirkungen des Personalmangels erlebte ich in einer Langzeitinstitution, in der das Betäubungsmittelgesetz nicht eingehalten wurde: Mittel wie Morphin wurden von Pflegeassistent:innen und teilweise sogar von Praktikant:innen abgegeben. Dass dadurch Patient:innen gefährdet wurden, hat der Betrieb in Kauf genommen. Ursächlich für den Personalmangel sind primär die schlechten Arbeitsbedingungen. Aber auch die fehlende Wertschätzung und Unterstützung der Politik, die unsere Forderungen und Hilferufe seit Jahren nicht ernst nimmt. Notfalls wird halt ein wenig für die Pflegenden applaudiert.

Vom Pflegepersonal wird eine riesige Flexibilität erwartet, ebenso die Bereitschaft, den Beruf über das Privatleben zu stellen. Teilweise wusste ich fünf Tage vor Monatsende nicht, wann ich im nächsten Monat arbeiten muss. Das kurzfristige Übernehmen zusätzlicher Dienste wird als selbstverständlich erachtet, oft ohne Einhaltung der vorgeschriebenen Ruhezeiten. Der Druck ist immens und nimmt immer weiter zu. Und der Lohn steht in keinem Verhältnis zur Verantwortung, die man in diesem Beruf trägt – für Menschenleben. Er kompensiert auch nicht das Ausmass an psychischer und physischer Belastung.

Ändert sich nichts, werden immer mehr Pflegende aussteigen, und die Fälle von Burn-outs und anderen psychischen Erkrankungen werden weiter zunehmen. Auch ich habe dieses Jahr nach einem Burn-out den Pflegeberuf aufgegeben. Den Kampf für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen werde ich aber weiterführen – jetzt setze ich mich erst recht für die Pflegenden ein. Ich selbst würde nur in den Pflegeberuf zurückkehren, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern.»

Alexia Braeuchi war acht Jahre lang in der Pflege tätig, zuletzt in der Langzeitpflege mit Demenzerkrankten. Derzeit arbeitet sie in einer Kletterhalle und in der Gastronomie.

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Valérie Zaugg (30)

«Ich habe mit Leidenschaft als Pflegefachfrau gearbeitet. Ich wollte Menschen in schwierigen Situationen begleiten, ihnen zuhören, ihnen Raum für Hoffnung und Zuversicht geben. Doch in der Pflege ist alles der Logik von Effizienz und Profit untergeordnet, deshalb fallen immer mehr Pflegende mit Burn-outs oder anderen gesundheitlichen Problemen aus.

Pflegefachfrau Valérie Zaugg
Valérie Zaugg (30) (Bild: Florian Bachmann)

Wir machen kaum Pause, hasten durch die Abteilungen, versuchen, alle Aufgaben zu erledigen und gleichzeitig den Patient:innen Ruhe und Sicherheit zu vermitteln. Die Spitäler wollen trotz mangelndem und müdem Personal möglichst viele Patient:innen, um sich im Wettbewerb halten zu können. Wir können zwar mit Streik drohen, wollen aber nicht, dass die Patient:innen Schaden nehmen oder gar sterben. Den Preis bezahlen am Ende wir – mit unserer Gesundheit. Doch das ist uns selten bewusst, weil wir durch unseren Beruf lernen: Nein, wir sind für andere da. Und wenn wir doch für uns einstehen und mehr Lohn einfordern, wird gleich mit steigenden Krankenkassenprämien gedroht. Ständig wird nur darüber diskutiert, wie in diesem System Kosten eingespart werden können.

Nachtschicht. Ich bin alleine mit zwanzig Patient:innen. Es klingelt gleichzeitig in drei Zimmern. Ich schaue im ersten vorbei. Eine Patientin hat erbrochen und weint. Ich helfe ihr ins Bad, damit sie sich etwas frisch machen kann, sage ein paar tröstende Worte, husche ins nächste Zimmer zum nächsten Patienten. Seine frisch operierte Wunde blutet unerwartet stark. Ich klebe ihm provisorisch einen saugfähigen Verband. Sage ihm, dass ich gleich wiederkommen werde. Renne fast ins dritte Zimmer, sehe jedoch, dass die Patientin im ersten Zimmer wieder klingelt. Ich suche zuerst Patientin Nummer drei auf, die wegen extremer Schmerzen sofort ein Schmerzmedikament verlangt. Ich versuche, auch diese Patientin mit einem zuversichtlichen Kommentar zu beruhigen, düse ins Stationszimmer – während ich an die blutende Wunde und die klingelnde Patientin im Bad denke.

Die ganze Nacht ging es so weiter. Es gibt in jedem Beruf mal Stress, aber solche extremen Schichten kommen in der Pflege viel zu häufig vor. Das ist kaum jahrelang oder gar bis zur Pensionierung durchzustehen.»

Valérie Zaugg hat von 2016 bis im Sommer 2021 in verschiedenen Pflegebereichen gearbeitet, zuletzt bei der Spitex. Nach ihrer Mutterschaftspause hat sie sich entschieden, sich wieder auf ein davor begonnenes Psychologiestudium zu konzentrieren.

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Alin Leibundgut (27)

«Es ist kurz vor sieben Uhr morgens. Die Beatmungsgeräte zischen, die Monitore an den Betten piepsen, die Kaffeemaschine in der Personalküche läuft auf Hochtouren. Die Tagesschicht auf der Intensivstation beginnt. ‹Zwei Pflegende haben sich krank gemeldet. Ich weiss nicht, wie wir das heute schaffen sollen›, sagt die Schichtverantwortliche der Nachtwache beim Übergaberapport. Die Stimmung ist angespannt. Jede:r im Team weiss: Es wird wieder ein anstrengender Tag.

Pflegefachfrau Alin Leibundgut
Alin Leibundgut (27) (Bild: Florian Bachmann)

Seit rund zweieinhalb Jahren arbeite ich auf der Intensivstation. Es ist kräftezehrend – physisch und psychisch. Mit der Pandemie hat sich der Personalmangel verschärft. Viele Intensivpflegende sind erschöpft und haben gekündigt. Die Krankheitsausfälle haben zugenommen, erfahrene Mitarbeiter:innen haben sich umorientiert. Trotzdem sollen möglichst viele Betten zur Verfügung gestellt werden. Betten haben wir meistens genügend, jedoch kein Personal. Schlechte Tage kann ich mir nicht leisten, denn ich will keine Fehler begehen oder etwas Wichtiges übersehen, was lebensgefährliche Konsequenzen für meine Patient:innen haben könnte. Wenn wir ausfallen, haben wir immer unsere Kolleginnen und Kollegen im Hinterkopf, die dann viel mehr zu tun haben.

Auf der Station liegen schwerkranke Menschen, hochkomplexe Fälle. Oft kommen Dinge zu kurz, die mir essenziell erscheinen: ein einfühlsames Gespräch, um die Bedürfnisse der Hospitalisierten zu erfassen; mit den Patient:innen samt Gerätschaft an die frische Luft gehen. Während strenger Dienste wird etwa auch die Mobilisation von Patient:innen auf ein Minimum reduziert, obwohl diese für die Genesung wichtig ist. Auch die Begleitung von Studierenden leidet. Qualität geht verloren. Viele Pflegende sind unbefriedigt und haben das Gefühl, den Patient:innen nicht gerecht zu werden.

Während der Pandemie wurde für uns applaudiert, man hat über uns berichtet. Nun ist wieder Ruhe eingekehrt, und geändert hat sich wenig. Trotz allem brenne ich nach wie vor für meinen Beruf. Ich bin stolz darauf, was wir tagtäglich leisten. Stolz auf mein interdisziplinäres Team, das mit grosser Leidenschaft Spitzenmedizin ausübt. Stolz darauf, dass ich als Expertin Intensivpflege einen Beruf habe, der einen gesellschaftlichen Mehrwert bringt. Und ich gehe nach jeder Schicht im Wissen nach Hause, etwas Sinnvolles geleistet zu haben.

Die Frage ist nur, wie lange dieses Feuer in mir brennen wird, wenn kein Holz mehr nachgeworfen wird.»

Alin Leibundgut arbeitet seit zweieinhalb Jahren Vollzeit in der Intensivpflege.

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Loredana D’Ambrosio (27)

«Als diplomierte Pflegefachfrau habe ich in den letzten Jahren viele temporäre oder befristete Stellen angenommen. Ich wollte einen Ort mit gerechten Bedingungen für die Pflegenden und die Pflegeempfänger:innen finden. Ich motivierte mich immer wieder neu und wurde von den Zuständen in den Spitälern oder Heimen immer wieder neu enttäuscht. Ich habe mich oft beschwert, aber in einem profitorientierten System sind auch den Leitenden die Hände gebunden.

Pflegefachfrau Loredana D’Ambrosio
Loredana D’Ambrosio (27) (Bild: Florian Bachmann)

Ich wurde oft gefragt, wieso ich weiterhin einen Job mache, der mich nicht glücklich macht. Es macht mich glücklich zu kämpfen. Für bessere Bedingungen muss gekämpft werden. Aber ich bin müde. Es macht mich müde, dass ich mich für Fehler rechtfertigen muss, immer wieder Überstunden leiste und in meiner Freizeit angerufen werde, ob ich am nächsten Tag einen zusätzlichen Dienst übernehmen könne.

Auf einer Bettenabteilung beobachtete ich ein gewisses Konkurrenzverhalten unter den Pflegenden. Ich kam meistens kurz vor Arbeitsbeginn auf die Abteilung. Da war das Büro immer bereits voll mit Pflegenden. Mir widerstand es, jeden Morgen eine Viertelstunde gratis zu arbeiten. Es widerstand mir, weil man dafür nichts zurückbekommt. Du musst meistens um deine Znünipause kämpfen und machst am Ende des Tages auch noch Überstunden. Ich hörte oft – und das meine ich mit Konkurrenz –, dass man halt schon besser dran sei, wenn man früher komme. Es wurde verglichen, wer den besseren Pflegebericht schreibt und wessen Fachwissen alltagstauglicher ist. Ich dachte mir jeweils: ‹Ja, klar! In einem System, das keine guten Arbeitsbedingungen, Ausbildungen und Löhne bieten kann, werden die Pflegenden gegeneinander ausgespielt.›

Es passierten oft Fehler. Einen ganz bestimmten werde ich nicht so schnell vergessen. Es war ein stressiger Tag, es gab Krankheitsausfälle, wir übernahmen zusätzliche Patient:innen. Irgendwann rief mich meine Chefin in ihr Büro. Sie sagte: ‹Du hast Frau Müller [Name geändert] ins falsche Zimmer gestellt, ihr nicht einmal die Klingel in die Nähe gegeben, und zu trinken hat sie auch nichts!› Ich betreute an diesem Tag sechs anspruchsvolle Patient:innen, Frau Müller war mir im ersten Moment nicht einmal mehr präsent. Die Chefin fragte mich, meiner Meinung nach etwas zynisch, ob es mir zu viel werde. Ich antwortete, dass es natürlich zu viel sei. Der Fehler sei das Resultat von zu wenig Personal für zu viele Patient:innen gewesen. Das kam leider nicht so gut an. Es ist psychisch schwer auszuhalten, wenn man weiss, dass wegen des Stresses immer etwas Fatales passieren könnte.

Mir geht es in erster Linie um die Patient:innen. Unter den heutigen Umständen ist eine sichere Pflege nicht gewährleistet. Ein gutes Beispiel dafür finde ich das Wundliegen: Wird der Patient oder die Patientin nicht oft genug umgelagert, riskiert man einen sogenannten Dekubitus, eine offene Hautstelle. Das passiert leider oft. In einem Heim, in dem ich arbeitete, musste man Patient:innen, die klingelten, teilweise ewig warten lassen. So kam es zu Stürzen. Im selben Heim habe ich beobachtet, dass einer etwas anstrengenden Bewohnerin einfach die Klingel abgestellt wurde, ohne dass auf ihre Anliegen eingegangen wurde.

Ein letztes erschreckendes Praxisbeispiel, wieso endlich etwas passieren muss, ist folgendes: Ich komme am Morgen ins Bewohnerzimmer und bemerke den Geruch von Urin. Sehe, dass der Urinsack einer Patientin offen ist, der Inhalt ist unter das Bett geflossen. Dann rieche ich Rauch. Entdecke, dass der Urin unter dem Bett mit einem alten angeschlossenen Stromkabel in Kontakt gekommen ist, das zu qualmen begonnen hat. Die Nachtwache vor mir hatte den offenen Urinsack wohl übersehen. Kein Wunder: Sie war während ihres Dienstes alleine für drei Stockwerke zuständig.

Ich frage mich oft, was passiert wäre, wäre ich eine Stunde später ins Zimmer gekommen. Wenn etwas passiert wäre, hätte das etwas an der heutigen Situation in der Pflege verändert? Ich wollte den Vorfall genauer mit der Abteilungsleitung besprechen. Sie sagte nur: ‹Der Vorfall wurde weitergemeldet – was willst du mehr?›

Irgendwann bekam ich selbst gesundheitliche Probleme. Niemand erkundigte sich nach meinem Befinden. Stattdessen fragte man mich, ob es in Ordnung sei, wenn mir die Ferientage aufgrund des krankheitsbedingten Fehlens nicht ausbezahlt würden. Ich finde es bemerkenswert, wie weit gegangen wird, um noch irgendwo irgendetwas einzusparen. Die Abgangsquote in der Pflege macht mir Angst. Wer pflegt uns, wenn wir alt sind? Man hört oft, dass die Pflegefachleute sich nicht trauen würden, einfach zu streiken, weil sie dadurch Menschenleben gefährden könnten. Aber es ist nicht der Streik, der die Patient:innen gefährdet, sondern unser System: Eine Studie zeigt, dass durch den Personalmangel in der Schweiz jährlich 243 Patienten sterben. Dass immer mehr Pflegepersonen ihren Beruf verlassen, ist der stille Protest dagegen.»

Loredana D’Ambrosio ist nach der obligatorischen Schule in den Pflegeberuf eingestiegen. Seit letztem Sommer konzentriert sie sich auf ihre Leidenschaft, das Tanzen. Sie weiss noch nicht, ob sie in den Pflegeberuf zurückkehren wird.

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