«Es braucht Hartnäckigkeit»
Sie arbeiten seit 27 Jahren zusammen – und sind noch lange nicht fertig. Unbeirrbar reihen sie eine Performance-Produktion an die andere. Zu Besuch bei Clarissa Herbst, Dominique Rust und Michael Wolf, die am Dienstag im Museum Tinguely zu Gast sind.
6. März 2024 im Walcheturm auf dem Kasernenareal in Zürich: Von der Decke hängt ein kreisrunder Zylinder aus leicht durchsichtigem, weissem Stoff, umgeben von einem Stuhlkreis, weiter aussen ein dritter Kreis aus Notenständern. Auf diesen laufen Kassettenrekorder. Zu hören sind Aufnahmen aus einer Sammlung von Telefonbeantworterstimmen, die Clarissa Herbst und Dominique Rust von 1995 bis 2019 gesammelt haben.
Der Prolog zu «Speaking in Tongues», der neusten Produktion des Trios, ist eine Geisterbeschwörung, die unter die Haut geht. Die Sprecher:innen sind zwar abwesend, einige auch nicht mehr unter uns. Ihre Stimmen aber sind unheimlich präsent; das, was sie sagen, ist lapidar, mal spannend, mal witzig. Die Sätze, Fragen und Aufforderungen, bitte zurückzurufen, waren nicht für die Ewigkeit gedacht – und kehren nun Jahre später als Soundcollage mit Ewigkeitswert zurück.
Die Performance, die Rust und Wolf nach dem Verklingen der Stimmen hinter dem weissen Vorhang zeigen, kreist um die Frage, was von der Stimme eines Menschen bleibt; wie lange man sich an sie erinnern kann; und der leicht hypnotische Reigen der beiden Performer kreist auch um die Frage, ob die Stimmen von Verstorbenen hörbar sind, so wie es etwa die Vertreter und Aktionisten des «Electronic Voice Phenomenon» proklamieren. Im dritten Teil des Abends laden die Künstler Musiker:innen ein, das Thema wiederum mit ihren Mitteln zu bearbeiten. An diesem Abend war das die kasachisch-türkische Sängerin Saadet Türköz; an anderen die Musiker Martin Schütz oder Joke Lanz.
Am 14. Mai um 20 Uhr wird «Speaking in Tongues» im Museum Tinguely aufgeführt. Das Performance-Projekt besteht aus drei Teilen, die alle zusammen an einem Abend zu sehen und zu hören sind: Als Prolog eine Audio-Installation mit Aufnahmen aus unserer Sammlung von Telefonbeantworterstimmen von 1995-2019 – dann die Performance – und für den Epilog sind einzelne zeitgenössische Musiker:innen und Klangkünstler:innen eingeladen, die im Kontext zur Audio-Installation live improvisieren.
«Speaking in Tongues» enthält vieles, was die Arbeit von Herbst, Rust und Wolf ausmacht: Rauminstallation, Objekte, Performance, Video, Tonspuren, gesprochene Texte, Musik – hier komponiert von Martin Schütz. Und der Abend ist auch in anderer Hinsicht typisch für das Trio: Er ist sperrig und entwickelt trotzdem seinen ganz eigenen Sog.
Die Anfänge in den Achtzigerjahren
21. März 2024. Die oberste Etage in einem stilvollen Fünfzigerjahre-Bürohaus in Zürich-Seebach war früher die Chefetage von Oerlikon-Bührle. Nun heisst es auf dem Namensschild: Atelier-Institut C. Herbst/D. Rust.
Verhandelt wird an diesem Nachmittag hinter den immer noch bestehenden schalldichten Türen kein Waffendeal, sondern die Frage, wie die Performances des Trios entstehen. Herbst und Rust arbeiten seit 27 Jahren hier. Michael Wolf nimmt ebenfalls Platz am grossen Tisch in einem der lichten Räume dieses beeindruckenden Kunstortes.
Unser Gespräch führt zurück in jene Zeit, als wir uns erstmals begegnet sind: Es waren die ausgehenden Achtzigerjahre in Zürich. 1988 bespielen Herbst und Rust die grosse Halle der Gessnerallee, als diese noch kein städtisches Theaterhaus war. «Das Innere der Sicht» ist ihre erste gemeinsame Arbeit, ein raumfüllendes, performatives Bodenbild. Das Paar interessiert sich damals bereits für die Ausweitung des Theaterbegriffes.
Clarissa Herbst, an der Kunstgewerbeschule Zürich, heute ZhdK, ausgebildet, beschäftigt sich schon früh mit dem Zusammenspiel von Räumen und Objekten. Als Kostümbildnerin ist sie Anfang des Jahrzehnts an den damals legendären Inszenierungen von «Die Hamletmaschine» und «Medea» beim Komedie Theater in der Roten Fabrik engagiert. Dominique Rust experimentiert bereits an der Schauspielschule mit performativen Miniaturen und Aktionen, «für die wir damals aber noch gar nicht den Begriff Performance verwendet haben», wie er sagt.
1991 gründen das Regieduo Christoph Frick und Jordy Haderek in Basel die Gruppe KLARA, die heute noch existiert. Inspiriert von bildender Kunst und Musik erproben sie die Möglichkeiten des Mediums Theater von dessen Rändern her. Clarissa Herbst ist als Bühnen- und Kostümbildnerin und als Grafikerin engagiert, Dominique Rust und Michael Wolf als Schauspieler.
«Das Credo war: Alles ist möglich, alles wird ausprobiert», erzählen die drei, und Clarissa und Dominique sind sich nicht ganz einig darüber, ob nun KLARA ihre Form der Performance mitgeprägt hat, oder ob es vielleicht nicht auch umgekehrt war.
Klar ist jedoch: 1997 starten Herbst, Rust und Wolf ihre eigenständige Kreation von Performances, gemeinsam mit dem Schauspieler Joey Zimmermann. Mit «Die Flecken der Giraffe», «Der Schaum der Tage» und «Kabine», alle produziert vom Theater der Roten Fabrik und alle im In- und Ausland gezeigt, beginnt die Entwicklung einer ganz eigenen Handschrift, die bis heute anhält.
Gefragt nach ihren Vorbildern oder Mentoren, antworten die drei vorsichtig. Ihr Weg sei eher eine organische Entwicklung aus dem traditionellen Theater heraus gewesen. Michael Wolf, wie Rust, Absolvent der klassisch ausgerichteten Schauspielschule Zürich, sagt: «Mich hat immer interessiert, über die Grenzen der Schauspielerei hinauszugehen.»
Dabei war die Beschäftigung mit Kunst ebenso wichtig wie damals entstehende, experimentelle Orte. Etwa das Schlotterbeck in Basel, die Shedhalle und die Rote Fabrik in Zürich oder das durch die Stadt tourende Kunsthaus Oerlikon. «Und sicher war die persönliche Verbindung zur entstehenden Techno- und Party-Szene ein wichtiges Element», erzählt Rust.
Clarissa Herbst gehört mit zu den Pionierinnen von Flyern und Plakaten für die damals aus dem Boden schiessenden Clubs. Kein Wunder, gehören Plattenspieler und andere Abspielgeräte seither zum festen Objektinventar der Gruppe.
Forschungsarbeit mit den Mitteln der Kunst
Basis für die Produktionen ist jeweils ein übergeordnetes Thema. Etwa das Erinnern und Vergessen in «Ghosts» (2006), die Unendlichkeit in «Topografie des Unendlichen» (2009), die Natur in «Das grüne Rauschen» (2012/13), das Feststecken und Scheitern in «Die Anatomie des Feststeckens» (2019). Vier Produktionen, in welchen der Musiker und Künstler Mario Marchisella zum künstlerischen Team gehörte.
«Im Grunde ist es Forschungsarbeit mit Mitteln der Kunst.»Clarissa Herbst, Bühnen- und Kostümbildnerin
In «Die Idee des Nordens» (2021) beschäftigte sich das Trio mit dem Werk des kanadischen Pianisten Glenn Gould, in «Mushroom Talk» (2023) mit der Welt der Pilze und dem Zufall. Zu beiden Performances steuerte der renommierte deutsche Musiker, Komponist und Videokünstler Frank Bretschneider den Sound bei. «Wir recherchieren jeweils über einen längeren Zeitraum zu den Themen, erstellen Mindmaps, definieren Assoziationsfelder», erklärt Clarissa Herbst. «Im Grunde ist es Forschungsarbeit mit Mitteln der Kunst.»
Beim weiteren Vorgehen ist ein Aspekt zentral: Alle verwendeten Elemente sind dramaturgisch gleichberechtigt. Also Raum, Objekte, Licht, Text, Musik, Bewegung. Seit Antonin Artauds programmatischer Schrift «Theater der Grausamkeit» aus dem Jahr 1931 ist diese Gleichberechtigung der Mittel eine oft zitierte Forderung an die Bühne. Nur nehmen sie wenige wirklich ernst. Tut man es konsequent, betritt man eine Terra inkognita – und genau die ist das Feld von Herbst, Rust und Wolf.
Das Trio entwickelt aus Improvisationen Bewegungsmuster, Abläufe und Situationen im Raum, den Clarissa Herbst durch ihre Bildvorgaben, aber vor allem auch mit ihren Objekten prägt. An diesen müssen sich die Performer erst einmal «abarbeiten», bis eben der viel beschworene gleichberechtigte Dialog entsteht.
«Es geht auch darum, Zustände auszuhalten, bis man weiterkommt.»Dominique Rust, Schauspieler und Performer
Michael Wolf: «Wir nennen das ‹möbeln›, was bedeutet: Wir geben uns in Verbindung mit Clarissas Objekten Improvisationsaufgaben, die alles andere als theatral sind. Wir denken vorerst nicht an das Szenische und improvisieren in einem gänzlich offenen Prozess mit Gegenständen und Materialien. Und das ist oft richtig schwer. Ein Objekt wie einen Stuhl, einen Baumstamm oder ein Netz nicht als Objekt, sondern als gleichberechtigtes ‹Wesen› auf der Bühne zu begreifen, ist harte Arbeit.»
Dominique Rust: «Es geht auch darum, Zustände auszuhalten, bis man weiterkommt. Wenn ich mir die Aufgabe stelle, mich 15 Minuten lang in einen Pilz hineinzuversetzen, dann liegt das Scheitern natürlich nahe. Aber je nach Konstellation entwickelt sich eben Überraschendes, Unerwartetes.»
Clarissa Herbst wiederum definiert ihre Aufgabe so: «Mich interessiert, wie ich mit dem Raum und Objekten die Performer inspirieren kann.»
Training im Atelier
Herbst wird dadurch zur Mitspielerin, auch wenn sie selbst nie auftritt. Aber im Probeprozess greift sie durch ihre Materialien szenisch ein. Obwohl Probeprozess hier das falsche Wort ist, da es an «Theater» assoziiert. Die drei haben eine Arbeitsweise entwickelt, die mehr an ein Atelier erinnert, in dem laufend kreiert und verworfen wird. Um diese Vorgehensweise quasi zu trainieren, haben sie jüngst mit dem Musiker Martin Schütz begonnen, offene Sessions abzuhalten, an welche alle vier Beteiligten ihr Material einbringen – ohne das Ziel, je etwas davon aufzuführen.
«Das Ziel dieses offenen Prozesses ist die Fragilität des Moments».Michael Wolf, Schauspieler und Performer
Ein weiteres Merkmal ihrer Arbeitsweise: Haben sie früher noch Künstler:innen als externe Berater zugezogen, arbeiten sie heute ohne «Auge von aussen». Sie sind sich gegenseitig Regisseur und Mitspieler; was im klassischen Theater als Vorgehen mit hoher Absturzgefahr bezeichnet würde. Aber Herbst, Rust und Wolf haben, so erzählen sie, mittlerweile einen sehr intuitiven Verständigungscode entwickelt.
In einem rund zweimonatigen Atelierprozess, oft mit Unterbrüchen, entsteht so eine Schichtung von Materialien. Anders als im Theater wird jedoch nicht bis zur Perfektion an diesen Elementen geschliffen.
Frisch und überraschend
Dominique Rust sagt: «Wir lassen das Material lieber roh, damit es auch für uns überraschend und frisch bleibt.» So schält sich nach und nach eine Art Partitur heraus, deren Elemente und Abläufe zwar definiert sind, aber immer Raum für Improvisation lassen. Clarissa Herbst: «Zu diesem offenen Prozess gehört auch, dass wir möglichst lange warten mit der Festlegung des definitiven Ablaufs – meist bis kurz vor der ersten Aufführung.» Michael Wolf beschreibt das Ziel dieses offenen Prozesses als «Fragilität des Moments».
Was er damit meint, ist beispielsweise an Szenen der Produktion «Die Idee des Nordens», die Hommage an Glenn Gould, ablesbar. Der Pianist sass jeweils auf einem nur 30 Zentimeter hohen Stuhl. Clarissa Herbst hat diesen nicht nachgebaut, sondern den beiden Performern ein zusammensetzbares Ikea-Modell vorgesetzt. Während Wolf versucht, Teile zusammenzubringen, stülpt sich Rust die Stuhlelemente über Arme, Schultern und Kopf, verheddert sich darin, tanzt mit diesem seltsamen Kleid, während Wolf ihn beobachtet. Beide versuchen, auf den Stuhlbruchstücken Platz zu nehmen, dann klingelt aber das Telefon und die Stimme des Viel-Telefonierers Gould leitet zur nächsten Szene über.
Solche Abläufe hätten eigentlich hohes Komik-Potenzial. Aber Rust und Wolf spielen dieses selten aus. Wolf sagt dazu: «Es gilt immer die Devise, dem offensichtlich Komischen, dem Spektakulären auszuweichen, es zu unterlaufen und in etwas anderes zu verwandeln?. Es gilt: keine Routine, keine Absicherung.»
So kommt es, dass Humor zwar immer präsent ist wie ein fernes Echo, aber nie wirklich im Vordergrund steht. Die Tücke des Objekts wird bei Rust und Wolf nicht zum Sketch, sondern in absurde Poesie überführt – was wiederum diese prägnante Mischung aus Sperrigkeit und Fluidität hervorbringt, die ihren Performances innewohnt.
«Letztendlich ist es ein Geschenk»
Dem Trio ist klar, dass es seit 27 Jahren konsequent eine Nische bespielt. Veranstalter dafür zu begeistern, wird auf Dauer nicht einfacher, deshalb mieten sie ihre Räume oft gleich selbst – obschon sie immer wieder von Institutionen oder Festivals eingeladen werden.
Genauso behalten sie auch alle anderen Produktionsmittel in ihrer Hand: von der Autorenschaft, über die Grafik von Clarissa Herbst, das Fundraising von Dominique Rust bis zur Kommunikation. Diese Kontrolle über alle Produktionsmittel ist die Basis für maximale künstlerische Autonomie.
Michael Wolf sagt: «Die Frage nach der Resonanz oder, wenn man so will, dem Erfolg, stellt sich natürlich immer wieder. Aber wenn ich, wie für ‹Das grüne Rauschen› einen Monat im Wald recherchieren und arbeiten kann, ist das doch schon ein Privileg – oder wenn man so will, ein Erfolg.»
Ungewohnte Assoziationsräume öffnen
Clarissa Herbst meint zu diesem Thema: «Eigentlich ist es doch wunderbar, wenn man nicht immer alles gleich versteht. Es geht uns ja genau darum, ungewohnte Assoziationsräume zu öffnen. Und bisher war da auch immer ein Publikum, das sich darauf einlässt.»
Dominique Rust: «Natürlich diskutieren wir über Lesbarkeit – und entscheiden uns meist dafür, keine Zugeständnisse an das Publikum oder an gängige dramaturgische Formen zu machen. Und manchmal ist das schon ein echter Kampf, vor dem Publikum zu stehen und zu merken: Denen gefällt das nicht unbedingt. Letztendlich ist es jedoch ein Geschenk, diese Arbeit über so viele Jahre machen zu können. Es ist ja auch Lebenszeit, die wir gemeinsam verbringen dürfen. Aber natürlich bekommt man das alles nicht geschenkt. Es braucht schon eine gewisse Hartnäckigkeit, um entgegen allen Zweifel dranzubleiben.»