«Man hätte auch mit dem Velo nicht durchfahren können»
In der Silvesternacht wurde ein Polizeiauto beim Hirscheneck am Lindenberg beschädigt. Die Kantonspolizei spricht von einem «unvermittelten» Angriff. Wie haben das Anwesende wahrgenommen?
Neues Jahr, neue Polizeidebatte. Während letztes Jahr die Polizei-Werbekampagne oder Einsätze an Demonstrationen zu reden gaben, ist es dieses Mal ein Vorfall während einer Silvester-Patrouillenfahrt, bei der ein Polizeiauto beschädigt wurde.
Was ist passiert? Gemäss der Kantonspolizei Basel-Stadt wurde eine Patrouille «am Lindenberg von mehreren hundert Personen bedrängt. Eine Polizistin und ein Polizist waren im Kleinbasel unterwegs, als sie unvermittelt von mehreren hundert, der linksextremen Szene zuzuordnenden Personen umringt wurden. Die Angreifenden», so die Kantonspolizei weiter, «beschädigten das Fahrzeug stark und bedrohten die beiden Polizeimitarbeitenden massiv.» Die Scheiben seien «zum Glück» nicht zu Bruch gegangen und die Polizist*innen hätten sich «dank ihrer besonnenen Reaktion» in Sicherheit bringen können.
Das klingt nach einem heftigen Angriff, 20 Minuten titelt: «Linksextremer Mob attackiert in Basel Polizeipatrouille». Was in der Meldung aber fehlt, ist der Kontext: Diese Szenen ereigneten sich vor dem Hirscheneck, wo mehrere Hundert Personen im und um das linke Kulturlokal Silvester feierten. Spricht man mit denen, die an diesem Abend den Vorfall beobachtet haben, ergibt sich nicht das Bild eines «Mobs», sondern das eines Polizeiautos, das sich einen Weg durch eine Menschenmenge gebahnt hat. «Da war alles voller Menschen am Party machen und am Tanzen», sagt zum Beispiel Meret*. «Man hätte auch mit dem Velo da nicht durchfahren können.»
War es also gar nicht möglich, zur Seite zu gehen, wie es Konstantin in unserer Frage des Tages zum Thema schreibt? «Rein physikalisch war einfach kein Platz», sagt er, das hätten schon viele Autos «eine Kreuzung weiter vorne realisiert».
Bei unserer Frage des Tages denkt die Mehrheit der Abstimmenden, die Gewalt gegen die Polizei gründe auf «Alkohol und Gruppendynamik». Diskutiert wurde aber auch über den Ablauf und die Wahrnehmung der Geschehnisse.
Die 18-jährige Lina* hat das anders wahrgenommen: «Es wäre sicher möglich gewesen, mehr Platz zu machen, aber es hatte wirklich viele Leute, die Strasse war voll. Ich habe nicht genau verstanden, wieso die Polizei da durchfahren musste, wo so viele im Weg stehen», sagt sie. Die Frage reichen wir weiter an die Polizei: Warum musste sie durch diese Menschenmenge fahren?
Mediensprecher Rooven Brucker schreibt zurück, dass um 1:40 Uhr bei der Fahrt durch den Lindenberg «aus der Ferne noch Personen erkennbar» waren, «einige davon auch auf der Fahrbahn. Allerdings war nicht ersichtlich, dass es sich auch noch um diese Zeit um eine derart grosse Menschenmenge handeln würde», so Brucker. «Das volle Ausmass der Situation am Ereignisort wurde der Polizistin und dem Polizisten erst klar, als sie mit ihrem Patrouillenfahrzeug unerwartet mitten in der Menschenmenge waren und unvermittelt angegriffen und bedrängt wurden.» Keine Patrouille, ergänzt der Mediensprecher, würde sich «bewusst in eine derartige Gefahrensituation begeben oder absichtlich durch eine Menschenansammlung fahren.»
«Keine Patrouille würde sich bewusst in eine derartige Gefahrensituation begeben.»Rooven Brucker, Mediensprecher Kantonspolizei Basel-Stadt
Kommen wir also zum «unvermittelten» Angriff. Es war offenbar so, dass die Menge das Polizeiauto nicht so einfach passieren lassen wollte. Der 16-jährige Samuel* sagt zum Beispiel, ein Kollege von ihm habe in der Menge vor dem Auto gestanden. «Ich glaube, er wollte auch nicht unbedingt weggehen», sagt er. «Das war vielleicht eine Provokation», gibt er zu, erwähnt aber auch das «dichte Gedränge», in dem «nicht alle sofort zur Seite gehen konnten».
«Ich habe mich einfach gefragt, wieso sie jetzt hier durchfahren müssen», sagt Meret. Auch sie spricht von Provokation – auf beiden Seiten: Man habe es «definitiv als Provokation wahrgenommen», dass das Polizeiauto durch die Menschenmenge fahren wollte. «Und es war auch ein bisschen eine Provokation, dass man nicht zur Seite gegangen ist.»
«Ich hätte in dem Moment im Auto sicher Angst gehabt.»Samuel
Das Auto habe nicht angehalten und den Kollegen vor sich her geschoben, beschreibt Samuel die Szene weiter. Das haben auch andere beobachtet, mit denen Bajour gesprochen hat. Eine Person, die Rudi* genannt werden will und zu diesem Zeitpunkt gemäss eigenen Worten neben dem Polizeiauto stand, beschreibt das Weiterfahren der Polizei als «nicht vorsichtig», die Person vor dem Wagen habe sich «in Sicherheit bringen müssen, um nicht angefahren zu werden». Aus seiner Sicht habe das die Umstehenden «wütend gemacht», weshalb sie begannen, auf das Auto zu klopfen und zu schlagen. Verschiedene Augenzeug*innen berichten von sieben bis zehn Personen, die an diesem Angriff beteiligt waren.
Samuel hat dann gesehen, wie eine Flasche geflogen sei und das Nummernschild abgerissen wurde. Kurz sei ein Gefühl von Eskalation da gewesen. «Ich hätte in dem Moment im Auto sicher Angst gehabt», sagt er. «Bei einem normalen Auto wäre sicher die Scheibe zu Bruch gegangen.» Das ganze habe «vielleicht so drei, vier Minuten» gedauert.
«Ich habe mich einfach gefragt, wieso sie jetzt hier durchfahren müssen.»Meret, war an Silvester im Hirscheneck
Aus Sicht der Kantonspolizei sind die Vorwürfe von Rudi und Samuel «stark überzogen». Während des Einsatzes habe sich die Situation so rasch entwickelt, «dass eine Rückwärtsflucht für die Patrouille unmöglich wurde», erklärt Brucker. «Das umsichtige und besonnene Vorgehen der Einsatzkräfte, die sich entschieden, im Schritttempo einen Weg nach vorne zu bahnen, verhinderte Schlimmeres.»
Lina und Meret beobachteten den Vorfall unabhängig voneinander aus etwas mehr Distanz. Auch Meret denkt, der Vorfall sei für die Polizei bedrohlich gewesen, «aber gefährlich war es nicht», sagt sie. Lina fand die Stimmung «schon aufgeheizt, aber jetzt nicht mega schlimm», sagt sie.
Alle Personen, mit denen wir gesprochen haben, bestätigen, dass die Polizei nicht gerade auf Wohlwollen der feiernden Menge stiess. Es seien auch antifaschistische Parolen gerufen worden. «Dann hat man gemerkt: Die Polizei ist nicht so beliebt hier», erinnert sich Meret.
Nicht so beliebt hat sich auch Kultkino-Co-Chefin Gini Bermond gefühlt. Sie bezeichnet sich selbst als «Hirschi-Stammkundin» und auch sie passierte die Menge in einem Auto um 1 Uhr nachts, noch vor dem Polizeiauto-Vorfall. Bei unserer Frage des Tages schreibt sie, die Menschen seien nicht zur Seite gewichen.
«Ich fuhr also extrem langsam auf die Gruppe zu und dann fingen einige an, auf mein Auto zu hämmern.» Politisch sei sie «zwar in der gleichen Ecke einzuordnen», aber dieses «selbstgefällige und asoziale Verhalten» könne sie nicht verstehen. «Es reichte aus, dass ich mit dem Auto unterwegs war, um mich als Feind abzustempeln. Sehr befremdlich.» Sie habe «richtig Angst» gehabt in diesem Moment.
«Es reichte aus, dass ich mit dem Auto unterwegs war, um mich als Feind abzustempeln.»Gini Bermond, fuhr um 1 Uhr beim Hirschi vorbei
Dass die Menge auch andere Autos nicht einfach so passieren lassen hat, bestätigen die Anwesenden. «Da hat man sich immer ein bisschen in den Weg gestellt», sagt Meret. Samuel hat einen Fall beobachtet, wo «ein bisschen auf das Auto geklopft worden sei, «aber das war eher ein bisschen humorvoll gemeint und hatte aus meiner Sicht überhaupt nichts Bedrohliches.» Das sei nicht vergleichbar mit dem Vorfall mit der Polizei, sagt er.
Die Kantonspolizei hat gemäss Medienmitteilung ein Strafverfahren eingeleitet. Ob und mit welchen Massnahmen der Vorfall indes intern aufgearbeitet wird, liess Mediensprecher Brucker unbeantwortet.
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