Anzug sitzt, Urgese noch nicht

Der Freisinnige Luca Urgese will in den Regierungsrat. Den Support der Bürgerlichen hat er. Braucht er sonst noch was, um auch die breite Bevölkerung von sich zu überzeugen? Vielleicht Schwarznasenschafe?

Luca Urgese
Unter diesem Mantel trägt Luca Urgese einen perfekt sitzenden Anzug. (Bild: Michelle Isler)

In Anzug und Krawatte sitzt Luca Urgese vor versammelter Basler FDP. Hier im Löwensaal des Restaurants Löwenzorn soll er heute offiziell ins Rennen um den freigewordenen Regierungsratssitz geschickt werden. Neben ihm sitzt LDP-Erziehungsdirektor Conradin Cramer in ähnlichem Outfit. Sitz- und Stehplätze sind alle besetzt, ein paar stehen im Türrahmen, so voll ist der Raum.

Urgese vergleicht die Politik gerne mit Sport. «Wenn die Ergebnisse nicht stimmen, ist der Trainer der Erste, der gehen muss», sagt er. Man könnte meinen, dies müsste auch für seinen Rücktritt als Parteipräsident 2021 gelten: Während seiner Amtszeit wurde alt Regierungsrat Baschi Dürr abgewählt und seine Partei verlor fünf Sitze im Grossen Rat. Hier sollen diese Niederlagen aber keine Rolle gespielt haben. Er sagt: «Ich hatte sowieso vor, das Präsidium abzugeben. Nach fünf intensiven Jahren war bei mir auch eine gewisse Müdigkeit vorhanden und es war Zeit für neue Kräfte.»

Luca Urgese
Luca Urgese

ist seit 2002 Mitglied der FDP, 2008 übernahm er erstmals eine leitende Funktion als Präsident der Jungfreisinnigen. 2014 wurde er Vizepräsident der Mutterpartei und rückte nach dem Rücktritt von Elias Schäfer in den Grossen Rat nach. Von 2016 bis 2021 übernahm er das Parteipräsidium. Urgese hat Rechtswissenschaften an den Universitäten Basel und Zürich studiert und arbeitet seit 2018 bei der Handelskammer als Leiter Finanzen und Steuern. 

Bleibt man beim Vergleich mit dem Sport, ist der ausserordentliche Parteitag im Löwensaal Anfang Januar ein Heimspiel: Urgese spricht zwar nicht ganz frei, zwischendurch spickt er auf dem Zettel, der vor ihm auf dem Tisch liegt. Doch er bringt das Publikum zum Lachen, zum Beispiel als er aus seinem Lebenslauf zitiert: Das Militär habe er machen «müssen, sollen, dürfen», kurze rhetorische Pause.

Das Publikum im Löwensaal hat Urgese im Sack – bei der FDP herrscht Aufbruchstimmung. Statt Fragen kommen nach seiner Rede emotionale Supportzusicherungen: Als er gesehen habe, dass die vier bürgerlichen Parteien für diese Wahlen zusammenarbeiten, «hatte ich Tränen in den Augen», sagt ein Anwesender. Und eine zweite Träne habe er gehabt, als er merkte, dass es «unser Luca» ist, der antritt. Jetzt müsse man alles geben, damit das klappe.

Ausserordentlicher Parteitag FDP
Langer Applaus im Löwensaal: Urgese wird einstimmig zum Regierungsratskandidaten nominiert. (Bild: FDP Basel-Stadt)

Urgese hatte sich schon zu seiner Zeit als Parteipräsident für einen bürgerlichen Schulterschluss stark gemacht. Dass es diesen jetzt gibt, «dafür muss ich Johannes Barth (FDP-Parteipräsident, Anm. d. Red.) ein Kränzli winden», sagt Urgese einen Tag nach dem ausserordentlichen Parteitag. Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen vor seinem Cappuccino im Nomad, trägt einen blauen Anzug (ohne Krawatte) und eine grosse Uhr.

Für die Wahl zum Regierungsrat braucht er aber nicht nur den Support der anderen bürgerlichen Parteien, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit. Diese kennt ihn nicht nur aus seiner Zeit als FDP-Parteipräsident, sondern auch als Wirtschaftsvertreter – seit 2018 leitet er den Bereich Finanzen und Steuern bei der Handelskammer beider Basel. Diese Themen, das weiss Urgese, sind «keine Gassenhauer». Er kenne auch die «Labels», die ihm zugeschrieben würden, sagt er. So hat ihn Primenews kürzlich als «nüchtern versteiften Pragmatiker» bezeichnet.

Schadet ihm dieses Image? Hat er vielleicht noch etwas in der Hinterhand, um bei der Bevölkerung zu punkten? Läggerli, Schwarznasenschafe?

Urgese lacht. «Nein, man darf sich da ja auch nicht verstellen», findet er. Zum Teil führt er sein Image auf die finanzlastigen Themen zurück, für die er bekannt ist. Es sei eine Challenge, dass diese für Durchschnittsbürger*innen nicht so greifbar seien. «Es ist zwar abstrakt, ob der Steuertarif bei 21,75 oder bei 21 Prozent oder wo auch immer ist», erklärt er, «aber ich versuche dann aufzuzeigen, was das bedeutet: Am Ende des Jahres hast du mehr Geld im Portemonnaie und kannst dir mehr leisten.» 

Wahlkampfkoordinator Edwin Tschopp

«Luca Urgeses fragwürdiger Wahlkampfkoordinator», titelte vergangene Woche Baseljetzt. Auslöser: Ein Foto eines Wahlkampfworkshops, bei dem unter anderem das frühere FDP-Vorstandsmitglied Edwin Tschopp am Tisch sass. Auf Anfrage bestätigt Luca Urgese, dass Tschopp für ihn ehrenamtlich als Wahlkampfkoordinator arbeitet. Aufgefallen ist Tschopp Baseljetzt aber mit Facebook-Posts zu Themen wie Impfen, Klima oder Gendern, bei denen er kein Blatt vor den Mund nimmt. Ein Beispiel: Tschopp postet einen Beitrag mit dem Titel «Wissenschaftler in Aufruhr: Studien widerlegen erneut menschengemachten Klimawandel» und kommentiert: «Etwas für Leute mit Hirn». Baseljetzt hatte Tschopp nicht mit seinen Posts konfrontiert. Gegenüber Bajour schreibt Tschopp, man dürfe doch Dinge wie die Coronapolitik hinterfragen, «zumal die Mainstream Medien das nicht oder nur selektiv tun». Auch beim Sturm auf das US-Kapitol 2021 sei einiges «unter den Teppich gekehrt» worden. Urgese selbst sagt zu Tschopps Facebookposts, er teile sie «weder im Inhalt noch im Stil», er sehe aber die Relevanz davon nicht: «Ede» Tschopp unterstütze die FDP «ehrenamtlich in der Kampagne administrativ und koordiniert beispielsweise Inserate- und Plakatbuchungen, was mit grossem zeitlichem Aufwand verbunden ist und wofür wir dankbar sind». Er sei dabei Teil eines Teams von mehreren Leuten und habe keine politische Rolle.

Urgese ist früh in die Politik eingestiegen. Mit 22 wurde er Präsident der Jungfreisinnigen Basel-Stadt, 2014 wechselte er zur Mutterpartei als Vizepräsident, kurz darauf rückte er in den Grossen Rat nach, 2016 – Urgese war damals 28 Jahre alt – schaffte er es auch bei der FDP Basel-Stadt an die Spitze. Einen Gegenkandidaten gab es nicht. Dafür kritische Stimmen: Ex-Präsident Urs Schweizer sagte in der «Schweiz am Sonntag», Urgese sei zu jung und schlecht vernetzt in der Wirtschaft. Gewählt wurde er trotzdem.

Er habe früh grosse Verantwortung erhalten, sagt er heute. «Ich hatte immer den Anspruch, zu zeigen, dass das Vertrauen in mich gerechtfertigt ist, den Erwartungen gerecht zu werden.» Das habe dazu geführt, dass er sich sehr aufs Inhaltliche konzentriert habe, vielleicht nicht so entspannt war. Auch das war wohl seinem trockenen Image nicht zuträglich.

Ist es auch ein bisschen der Akademiker in ihm, der zu diesem Bild beiträgt? Der studierte Jurist Urgese nickt. «Ja, so ein bisschen verkopft und immer beweisen, dass man Recht hat, das mag sein.» Sagt er und schiebt mit dem Zeigefinger seine Brille zurück. Er erinnert sich, wie er früher am Familientisch manchmal den Duden hervorgeholt hatte, um zu zeigen, dass er in einer Streitfrage recht lag. Heute sei das anders, findet er, seit er das Parteipräsidium abgegeben habe, sei er entspannter unterwegs.

«Luca ist derjenige der Freisinnigen, der am meisten an unsere Anlässe kommt.» – Jonas Lüthy, Präsident Jungfreisinnige Basel-Stadt

Von den Jungfreisinnigen wird ihm jedenfalls der «volle Support» zugesichert. Man spüre bis jetzt, dass Urgese auch einmal Präsident der Jungfreisinnigen gewesen sei, sagt Jonas Lüthy, der aktuelle Präsident. «Luca ist derjenige der Freisinnigen, der am meisten an unsere Anlässe kommt», so Lüthy. Er setze sich auch für ihre Anliegen ein, zum Beispiel mit einer Interpellation zur politischen Bildung, die von der Jungpartei ausgegangen war. Urgese habe immer ein offenes Ohr.

Von Seiten der politischen Konkurrenz hält man sich derzeit mit öffentlichen Aussagen zu Urgese eher zurück – schliesslich ist Wahlkampf. Hinter vorgehaltener Hand wird ihm attestiert, er sei kompetent und arbeite genau, im persönlichen Gespräch sei er ein eher zurückhaltender Typ, der nicht ungefragt drauflos redet. Auch gilt er als machtbewusster Verbandsfunktionär, der eher den wirtschaftsliberalen statt den sozialliberalen Flügel innerhalb der FDP vertrete. Zur durchaus wirtschaftsliberalen No-Billag-Initiative im März 2018 fasste seine Partei zum Beispiel die Nein-Parole – Urgese hingegen war Teil des Initiativkomitees.

Jo Vergeat

«Ich war positiv überrascht, wie er diese kompromissfindende Rolle im Vizepräsidium wahrgenommen hat.» – Jo Vergeat, Grossrätin Grüne

Die Grüne-Grossrätin Jo Vergeat hat von Februar 2019 bis November 2021 die Spezialkommission Klima präsidiert – mit Urgese als Vizepräsident. Ihre Zusammenarbeit mit ihm in der Kommission sei «sehr gut» gewesen, sagt sie. «Unsere Aufgabe war, herauszufinden, wie weit wir gemeinsam im Grossen Rat gehen können und ich war positiv überrascht, wie er diese kompromissfindende Rolle im Vizepräsidium wahrgenommen hat.» Inhaltlich habe er «natürlich eine ganz liberale Position vertreten», da seien ihre Meinungen oft «sehr weit» auseinander gegangen.

Wenn der 37-Jährige im März gewählt würde, müsste er sich voraussichtlich weder hauptverantwortlich dem Klima- noch dem Finanzthema annehmen: Urgese will ins Erziehungsdepartement, das Conradin Cramer anlässlich der Ersatzwahl  gegen das Präsidialdepartement eintauschen will. Passt das zu Urgese? 

Luca Urgese Conradin Cramer
Schulter an Schulter: Luca Urgese und Conradin Cramer (Bild: Valerie Wendenburg)

Bildungspolitiker ist er nicht, obschon er 2014 bis 2017 in der Bildungs- und Kulturkommission sass. Als Erziehungsdirektor stünden ihm aber auch Diskussionen um Budgets und Finanzen bevor, so muss zum Beispiel der Leistungsvertrag mit der Universität Basel neu ausgehandelt werden. Weil der Uni Geld fehlt, müssten aus ihrer Sicht die beiden Trägerkantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt in die Bresche springen. Besonders aus den Reihen der Baselbieter Bürgerlichen kommen Stimmen, die über eine Budgetkürzung nachdenken. Für diese Verhandlungen sähe sich Urgese gerüstet: «Ich glaube, dass mir die Arbeit bei der Handelskammer hier einen Vorteil verschafft. Diese arbeitet ja bikantonal, deshalb beschäftige ich mich auch heute schon mit Baselbieter Politik und bin gut vernetzt.»

Das Thema Bildung interessiert ihn aber auch aus einer freisinnigen Optik. Ein gutes Bildungssystem mache «sehr vieles möglich» für jede*n Einzelne*n, so dass jede*r die eigenen Wünsche und Bedürfnisse erfüllen könne. In den letzten Jahren habe die Schule aber sehr viele Ansprüche übernehmen müssen, die «das System überfordert» hätten. «Man sieht jetzt, dass die Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen beim Rechnen, Lesen und Schreiben abnehmen», sagt Urgese. «Das ist ein Alarmsignal für mich.» Das sei nicht nur schlecht für die Wirtschaft, sondern auch für die «Integrationsmaschine» Schule.

«Man sieht jetzt, dass die Fähigkeiten der Schüler und Schülerinnen beim Rechnen, Lesen und Schreiben abnehmen. Das ist ein Alarmsignal für mich.»

Eine der «ganz grossen» Aufgaben als möglicher Erziehungsdirektor sieht er darin, wieder «Ruhe ins Schulzimmer» zu bringen, damit sich die Lehrpersonen «auf das Unterrichten» fokussieren könnten. Damit ist Urgese voll auf FDP-Linie: Die Partei macht sich zum Beispiel in der Diskussion um die Integrative Schule stark für Förderklassen. Auch plädiert sie für eine Durchlässigkeit im Schulsystem, so dass es zum Beispiel auch jemand aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt an die Uni schaffen kann. Luca Urgese ist dafür ein Vorbild aus den eigenen Reihen.

Er sei «der erste Akademiker in der Familie», bestätigt Urgese. Das ist auch Thema am Parteitag: Seine Grosseltern waren in den 50er-Jahren aus Italien in die Schweiz eingewandert. Er habe sie schon oft gehört, die Geschichte wie sein Grossvater sich vom Tellerwäscher zum Hauseigentümer hochgearbeitet hat, sagt Urgese im Löwensaal zum Schluss seiner Rede. Das habe ihn geprägt, auch in seiner politischen Arbeit. In Zukunft wolle er seinen Enkeln dann nicht nur erzählen, was er selbst alles erreicht hat, sondern auch, dass seine Politik anderen ebenfalls ermöglicht habe, etwas aufzubauen und darauf mit Stolz zurückzublicken.

In die gleiche Richtung zielt er auch im Gespräch im Nomad, wenn er auf seinen grössten politischen Erfolg zu sprechen kommt: Das Steuerpaket, das letztes Jahr vom Stimmvolk angenommen wurde. «Da haben wir wirklich über Jahre hinweg daran gearbeitet, bei der Handelskammer Grundlagen dazu erarbeitet und politischen Druck aufgebaut», sagt er nicht ohne Stolz. Seine Motion hatte die Steuersenkungen, die letztes Jahr an der Urne angenommen wurden, ins Rollen gebracht.

Steuerpaket
Mit Steuerpaketli in den Händen: Die Befürworter*innen des Steuerpakets (v.l.n.r.: Niggi Rechsteiner, Lorenz Amiet, Pascal Pfister, Andrea Knellwolf, Annina von Falkenstein und Luca Urgese) (Bild: Ina Bullwinkel)

Und was, wenn es jetzt nicht klappt mit der Wahl? Lässt er sich dann im Herbst für die Gesamterneuerungswahlen aufstellen? Er sagt zwar nicht, «jetzt oder nie». Man müsse offen sein für neue Möglichkeiten. Über allfällige Pläne für den Herbst mag er jetzt aber noch nicht sprechen. Er konzentriere sich auf den aktuellen Wahlkampf und versuche zwischendurch, sich etwas Zeit für seine Freunde, seine drei Göttikinder oder fürs Lesen zu nehmen.

Wieder einmal will Luca Urgese hohen Erwartungen gerecht werden. Wie das herauskommt, zeigt sich am 3. März.

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