«Der Rassemblement National ist eine Gefahr für unsere trinationale Region»
Frankreich wählt ein neues Parlament. Sollte der rechtsextreme Rassemblement National eine Mehrheit gewinnen, bedeutet das für die Grenzregion Basel nichts Gutes, wie SP-Grossrat Tim Cuénod im Interview sagt.
Kaum einer hat die Grenzregion Basel derart im Blick wie der SP-Grossrat Tim Cuénod: Er sitzt in der Regiokommission des Grossen Rats und war bis vor Kurzem Ratspräsident des Trinationalen Eurosidtrict Basel. Mit Bajour hat er über die Entwicklungen in unserem Nachbarland Frankreich gesprochen, wo am Sonntag der erste Wahlgang für die vorgezogenen Parlamentswahlen stattgefunden hat.
Herr Cuénod, wie lesen Sie das Resultat des gestrigen Tages?
Der Rassemblement National (RN) hat gute Chancen, mit Abstand stärkste Kraft zu werden – auch eine absolute Mehrheit ist nicht ausgeschlossen. Allerdings ist sein Sieg alles andere als sicher.
Sollte der RN kommenden Sonntag im zweiten Wahlgang eine Mehrheit für sich gewinnen, dürfte Jordan Bardella, der heutige Parteivorsitzende, Premierminister werden. Damit würde eine antieuropäische und putinfreundliche Kraft ein Schlüsselland der EU regieren. Was würde das für die Region Basel bedeuten?
Wir sprechen hier von einem Worst-Case-Szenario. Insgesamt würde Europa unsicherer und ein Sieg von Putin in der Ukraine wahrscheinlicher. Der RN ist aber auch eine Gefahr für unsere trinationale Region. Es ist mit Massnahmen zu rechnen, die sich unmittelbar negativ auf Frankreichs Grenzregionen auswirken. So wäre eine Verschärfung des Grenzregimes mit mehr Kontrollen und längeren Wartezeiten sehr wahrscheinlich. Eine Regierung Bardella wird zudem nicht das geringste Sensorium für ökologische Fragen haben. Klimawandel findet im RN-Parteiprogramm nicht statt. Die zaghaften Versuche in Frankreich, auf Erneuerbare zu setzen, würden abgewürgt.
Die liberalen Macronisten sind an dritter Stelle und klar geschlagen – auch wenn sie ebenso wie die konservativen Républicains (LR) etwas besser abgeschnitten haben als bei der Europawahl vor drei Wochen. Die Bäume der im «front populaire» vereinigten Linken sind nicht in den Himmel gewachsen. Allerdings wird sie in vielen Wahlkreisen im zweiten Wahlgang die einzige Gegenkandidatur zum Rassemblement National (RN) stellen – und daher im zweiten Wahlgang keine Mehrheit, aber viele Sitze erringen können. Die grosse Unbekannte ist aber, wie sich im zweiten Wahlgang diejenigen Wähler*innen verhalten werden, deren Wunschkandidat*in im ersten Wahlgang ausgeschieden ist oder sich zurückgezogen hat. Im benachbarten Elsass ist die Lage insofern anders als national, als dass die Linke mit Ausnahme von Strassburg nirgends im zweiten Wahlgang vertreten sein wird. Es kommt im zweiten Wahlgang zu Duellen zwischen bürgerlichen Kandidat*innen (Macronist*innen oder LR) auf der einen Seite und Kandidat*innen des RN auf der anderen Seite. Dabei haben die liberalen und konservativen Kandidat*innen etwas die besseren Karten als der RN, obwohl dieser im ersten Wahlgang fast überall vorne liegt.
Was passiert mit der Atomkraft, sollte der RN an die Macht kommen?
Auch die Regierungen von Präsident Macron haben auf Atomkraft gesetzt – aber eben auch auf Erneuerbare Enegien. Der RN setzt nur auf Atomenergie. In einem TV-Interview vor zwei Jahren hat die damalige Parteichefin Marine Le Pen gesagt, sie wolle Fessenheim wieder in Betrieb nehmen. Würde der RN gewinnen, ist mit einem Bau eines neuen Atomkraftwerkes im Elsass zu rechnen. Zudem würde die schweizerisch-deutsch-französische Freundschaft unter einer Regierung Bardella leiden.
Inwiefern?
Der französische Zentralstaat wird kaum Verständnis für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit haben. Die neue Logik wäre eine nationalistische, welche die Grenzregionen nicht im Blick hat. Wichtig wäre nur noch, was die innere Stärke Frankreichs erhöht. Mehr noch als heute würden die nationalen Regeln über allem stehen. «Extrawürste» für Grenzregionen wären unerwünscht. Dass es wichtig ist, im Elsass den elsässischen Dialekt und den Deutschunterricht zu fördern, um die Arbeitnehmer-Mobilität zu erhalten: dafür wird eine «patriotische» Regierung in Frankreich kein Musikgehör haben.
«Die schweizerisch-deutsch-französische Freundschaft würde unter einer Regierung Bardella leiden.»Tim Cuénod, SP-Grossrat
Was ist mit Verkehrsprojekten, wie die sozialdemokratischen Parteien im Dreiland sie in ihrem grenzübergreifenden Papier Ende Mai gefordert haben?
Auch da sähe es nicht gut aus. Die geplante Bahnanbindung des Euro-Airports ist eines der Projekte, das einer verstärkt nationalen Logik zum Opfer fallen könnte. Es ist unrealisistisch, dass die Schweiz die Kosten vollständig selbst übernimmt. Die Realisierung grenzüberschreitender ÖV-Projekte wird auch sonst kaum zu den Prioritäten der Regierung Bardella gehören. Das Erstarken einer souveränistischen Logik ist auch ein Risiko für den Bestand unseres binational geführten Flughafens.
Wie steht es um die geforderten Sharing-Modelle?
Die Kompetenzen für derartige Projekte dürften bei den Kommunen liegen. Velospot gibt es mittlerweile auch in Huningue, das Projekt hat sich zu einem grenzüberschreitenden Angebot entwickelt, was toll ist, aber immer noch ausbaufähig. Viele Pendler*innen kommen mit dem Auto über die Grenze. Mit leistungsfähigen E-Bikes liesse sich das verringern, da bin ich überzeugt. Aber es bräuchte auch einen Ausbau des ÖV-Angebots, bessere Buslinien, die auch am Sonntag fahren, bessere grenzüberschreitende Tramverbindungen. Aber eben: Das hängt alles vom Wahlergebnis ab.
Im Elsass hängen vor allem RN-Plakate, die Unterstützung hier scheint gross zu sein.
Bei den letzten Parlamentswahlen 2022 war von den 89 Sitzen, die der RN gemacht hat, kein einziger im Elsass. Der RN hat vor allem in alten Industrieregionen und auf dem Land gut abgeschnitten, also dort, wo viele Menschen den sozialen Abstieg befürchten. Bei den jüngsten Europawahlen war der RN zwar auch in der Agglomeration stärkste Kraft, aber er liegt hier immer noch unter dem nationalen Schnitt. Die Menschen, die in unserer trinationalen Region leben, wissen oft, dass ihr Wohlergehen und ihre Perspektiven von offenen Grenzen abhängen. Sie wissen, dass zu stark nationales Denken ihre Chancen mindert. Schon am Rand der Agglomeration und erst recht im Sundgau sind die Ergebnisse des «RN» sehr, sehr stark.
Wieso glauben Sie, ist der RN so stark geworden?
Es gibt in Frankreich nach den liberalen Macron-Jahren eine Sehnsucht nach einem starken Staat – nach einem Gendarm, der mit Missständen aufräumt. Zum Teil kann man das verstehen. Der Staat garantiert zu wenig Sicherheit. So ist der Zustand der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Frankreich in der Zwischenzeit desolat – auch in der Notfallversorgung. Wirtschaftlich geht es Frankreich zwar gut, aber viele Menschen haben stark an Kaufkraft verloren. Jene, die mit Macron unzufrieden sind, haben auch den RN gewählt, weil die Alternativen wenig glaubwürdig wirkten. Die Konservativen sind implodiert. Und die Linke war lange zu zerstritten.
«Wenn das so weitergeht, ist auf Dauer das friedliche Zusammenleben in Europa bedroht.»Tim Cuénod, SP-Grossrat
Der Badischen Zeitung haben Sie Ende Mai gesagt, Sie sähen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit als existenzielle Bedrohung. Inwiefern?
Ein unsicheres Europa hat natürlich auch Auswirkungen auf die Schweiz. Im Moment können wir uns darauf verlassen, dass die Länder um uns herum miteinander verbündet sind, wir leben inmitten eines sicheren Raums. Aber wenn das so weitergeht, ist auf Dauer das friedliche Zusammenleben in Europa bedroht.
Mit Giorgia Meloni wird in Italien bereits die Pressefreiheit eingeschränkt und der Staat umgebaut, damit sie mehr Macht erhält.
Die Innenpolitik von Frau Meloni ist alles andere als erfreulich. Aussenpolitisch gibt es aber einen grossen Unterschied zwischen den Fratelli d'Italia von Meloni und dem RN: die Haltung zu Putin-Russland. Ich würde sagen: Le Pen ist deutlich putinfreundlicher als Meloni. Und in diesem Sinne: radikaler. Kommt hinzu, dass Frankreich mehr Gewicht hat als Italien. Und es ist kein Geheimnis, dass es das Ziel von Le Pen ist, die nächste Präsidentin Frankreichs zu werden.
Wieso hat der amtierende Präsident Emmanuel Macron diese Neuwahlen fürs Parlament überhaupt ausgerufen?
Ich finde es verheerend, es gibt keinen vernünftigen Grund zu erwarten, dass die Grundtendenz eine andere sein wird als bei der Europawahl. Vielleicht hat Macron die Hoffnung, dass sich der RN an der Macht entzaubern wird, was Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen schaden sollte. Er hofft wohl, als Präsident eine gewisse Kontrolle zu wahren – und den RN spätestens bei den Präsidentschaftswahlen 2027 zurückdrängen zu können.
«Es gibt einen breiten Grundkonsens, dass grenzüberschreitende Zusammenarbeit wichtig ist.»
Wir sorgen uns um die Entwicklungen in unseren Nachbarländern. Aber auch Politexponent*innen aus Deutschland und Frankreich befürchteten nach den Wahlen 2023 in der Schweiz, dass wir uns weiter abschotten könnten. Waren diese Befürchtungen berechtigt?
Man kann den Wähleranteil der SVP von knapp 28 Prozent bei den Nationalratswahlen nicht mit einer Mehrheit des RN in der französischen Nationalversammlung vergleichen. Das französische Wahlsystem ist viel krasser. Mehrheiten für eine Partei sind sehr gut möglich. Hierzulande sind die Anpassungen graduell. Natürlich habe auch ich den Rechtsruck bedauert, aber das Schweizer System zeichnet sich durch viel Stabilität aus.
Die Zusammenarbeit in den Grenzregionen ist ohnehin kantonal geprägt. Und in den beiden Basel geniesst diese grosse Unterstützung, würden Sie sagen: über die Parteigrenzen hinweg?
Es gibt einen breiten Grundkonsens, dass grenzüberschreitende Zusammenarbeit wichtig ist. Ich würde sagen: Die Zusammenarbeit hängt vor allem davon ab, wie viele Akteur*innen vorhanden sind, die eine regionale Brille tragen. Bei den sozialdemokratischen Parteien hat die Zusammenarbeit historische Gründe. Die Arbeiterbewegung, aus der sie entstanden sind, war international: am 1.Mai hat man ab 1890 überall für den 8-Stunden-Tag demonstriert. Sie arbeiten auch heute über die Grenzen hinweg zusammen – das zeigt ja auch unser Papier. Und ihre Akteure wirken seit Jahrzehnten aktiv in grenzüberschreitenden Gremien mit.
Aber es waren Akteure aus dem bürgerlichen Lager, die in den 1960er- Jahren die Regio Basiliensis, eine Vereinigung für eine starke Region Basel/Nordwestschweiz, gegründet haben.
Sicher. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg haben auch viele Unternehmer*innen und bürgerliche Politiker*innen genau verstanden, dass man in der Region und in ganz Europa über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten muss – und haben entsprechend gehandelt. Auch heute noch haben viele in den Wirtschaftseliten eine grenzüberschreitende «Regio»-Brille an, das ist sehr erfreulich. Leider gibt es aber auch viele, die nicht über ihren Tellerrand hinausschauen – und die Lektionen der Geschichte entweder vergessen oder nie gelernt haben.