Raymond, was macht eigentlich ein Dendrochronologe?

In der Schweiz gibt es nur ein knappes Dutzend Dendrochronolog*innen. Der Basler Raymond Kontic (62) ist einer von ihnen. Er kann verbautes Holz jahrgenau datieren – und entdeckte so zum Beispiel Erstaunliches über das Chorgestühl im Basler Münster

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(Protokoll von Simone Krüsi)

Meine Arbeit verdanke ich eigentlich dem «Waldsterben». Damals, in den Achtzigern, war ich am Ende meines Biologie-Studiums, als der Zustand des Waldes plötzlich in aller Munde war. Über ein Forschungsprojekt im Wallis kam ich zur Dendrochronologie und machte mich kurz darauf selbstständig.

Seit 38 Jahren untersuche ich nun Jahrring-Proben. Die entnehme ich unter anderem verbautem Holz, um Häuser aufs Jahr genau zu datieren. Die ältesten Proben weisen etwa 14‘000 Jahre zurück, meine Spezialität aber ist das Spätmittelalter und die Neuzeit. Es sind meist die Ämter für Denkmalpflege und Archäologie, die mich anfragen. 

Die Jahrringe eines einzelnen Baumes erzählen mir vieles und dadurch im Grunde nichts. Wenn ein Ring eines Baumes dünner ist als derjenige vom Vorjahr, weiss ich nicht, ob der Baum kahl gefressen wurde oder ob es einfach zu trocken war. Vielleicht war es auch ein Fruchtjahr und er steckte darum weniger Energie in den Zuwachs. Es gibt eine Unmenge von Faktoren, die hineinspielen können.

«2003 haben nahezu alle Bäume in Mitteleuropa einen engen Jahrring gemacht.»
Raymond Kontic, Dendrochronologe

Zum Glück gibt es die Weiserjahre. In Jahren mit markanter Witterung machen alle Bäume der gleichen Art dasselbe, haben ein identisches Zuwachsmuster. Das heisse und trockene 2003 war ein klassisches Weiserjahr, da haben nahezu alle Bäume in Mitteleuropa einen engen Jahrring gemacht. Auch 2018 dürfte sich als eines erweisen. 

Wenn ich die Jahrringe einer Weisstanne mit den bereits vorhandenen Daten von Weisstannen vergleiche, weiss ich, wann der Baum gelebt hat und wann er gefällt wurde. Mit grosser Wahrscheinlichkeit kenne ich dann auch schon das Baujahr, denn Bauholz wurde früher in aller Regel sofort, in frischem Zustand, verarbeitet. 

«Bei meiner Arbeit gehe ich vor wie ein Detektiv.»

Ich brauche den jüngsten, also den äussersten Jahrring, die «Waldkante», um mit Sicherheit zu sagen, wann der Baum gefällt wurde. Das heisst, ich muss eine Stelle suchen, an der wenigstens ein Rest der Rinde noch dran ist. Das gestaltet sich nicht immer ganz einfach. Mit Leitern steige ich in die verborgensten Ecken hoch und muss mich schon mal im Taubendreck wälzen. Früher mochte ich die Kletterei, mittlerweile finde ich es eher anstrengend.

Bei meiner Arbeit gehe ich vor wie ein Detektiv. Bevor ich mit meinem Handbohrer Proben vor Ort entnehmen kann, muss ich wissen: Was war ganz am Anfang? Ich muss den Bau eines Gebäudes Schritt für Schritt nachvollziehen können. Will ich herausfinden, aus welchem Jahr ein Haus stammt, darf ich natürlich kein Holz erwischen, das schon anderswo verwendet oder erst bei einer Renovation eingebaut wurde. Einen guten Hinweis liefert der Mörtel. Wenn an einem Balken Mörtel klebt, ist klar, dass das entsprechende Mauerwerk nachträglich verbaut wurde – vielleicht Stunden, vielleicht Jahrhunderte später.

«Als ich das Chorgestühl im Basler Münster datierte, war das schon eindrücklich.»
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Das Chorgestühl im Basler Münster. (Foto: Peter Schulthess, Basel)

Der Wald bedeutet mir viel. Im Prinzip geht es mir aber weniger um die Bäume, als vielmehr um die gesamte Biologie. Ich sehe gerne den Zusammenhang von allem. Eine Strategie zu haben, ist bei meiner Arbeit wichtig. Die nutze ich auch privat, ich bin siebenfacher und amtierender Online-Scrabble-Schweizermeister. Wenn man im Internet spielt, kann man alle Wörter, die zu legen möglich sind, nachschlagen. Weniger die Sprache steht im Vordergrund, sondern taktische Überlegungen. Bei den letzten Zügen zu wissen, dass mein Gegenüber noch ein V übrig hat und dieses nicht mehr wird verwenden können – das ist es, was mich interessiert.

Oft sind es Details, die mir in Erinnerung bleiben. Klar, als ich das Chorgestühl im Basler Münster datierte und sich dabei herausstellte, dass es 1362 – also nur sechs Jahre nach dem grossen Erdbeben – erbaut wurde, war das schon eindrücklich. Aber mich berühren auch einfache Dinge. Zum Beispiel, wenn ich in einer alten Kommode in der hintersten Ecke der Schublade doch noch eine Waldkante finde. 

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