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Steuerpaket

Wer (nicht) zahlt, befiehlt

Die Bürgerlichen fürchten: Wer keine Steuern zahlt, fühlt sich weniger für den Staat verantwortlich. Das diskriminiere Menschen mit wenig Geld, kontern die Linken. Wer hat Recht? Wir haben bei Experten nachgefragt.

09/30/22, 03:13 AM

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In Basel profitiert auch der Mittelstand von einer tieferen Steuergrenze.

In Basel profitiert auch der Mittelstand von einer tieferen Steuergrenze. (Foto: KEYSTONE / PETER SCHNEIDER)

Gehen Menschen, die keine Steuern zahlen, leichtfertig mit dem Staatshaushalt um? Und ist es gerechtfertigt, demokratische Rechte an Einkommen und Vermögen zu knüpfen? Über diese Fragen ist in Basel ein Streit entbrannt. Kurze Antwort: Aus ökonomischer Sicht gibt es keine eindeutige Antwort auf die erste Frage. Und aus historischer Sicht keine Berechtigung für die zweite. 

Aber beginnen wir von vorne: Basler*innen sollen weniger Steuern zahlen. So hat es der Grosse Rat vergangene Woche beschlossen, voraussichtlich hat die Stimmbevölkerung das letzte Wort. Für 28 Prozent der Veranlagungen heisst das: Sie zahlen gar keine Steuern, weil sie zu wenig verdienen. Das sind 3'000 Veranlagungen mehr als vorher.

«Es ist staatspolitisch bedenklich, dass immer mehr Menschen keine Steuern zahlen.»

«Es ist staatspolitisch bedenklich, dass immer mehr Menschen keine Steuern zahlen.»

Luca Urgese, Grossrat FDP

Die Bürgerlichen tragen dies im Sinne eines Kompromisses mit. Luca Urgese (FDP) gab im Grossen Rat aber zu bedenken: «Wir finden es staatspolitisch schwierig, (...) dass immer mehr Menschen gar keine Steuern zahlen.» Denn: Auch Menschen, die keine Steuern zahlen, dürfen mitbestimmen, wie das Steuergeld ausgegeben wird. Eine Kritik, die man auch aus der LDP schon gehört hat. 

Pascal Pfister: «Das haut mir den Nuggi raus»

Richtig hitzig wurde die Diskussion dann zwei Tage später. Die BaZ griff das Argument auf und titelte: «Gratisbürger im Schlaraffenland». Der Autor Sebastian Briellmann insinuierte, die tiefere Steuergrenze käme Mittelstandsbürger*innen zugute, die mittels Subventionen ihre Steuern auf null runteroptimierten. Beispielsweise Eltern, die ihre Kinder in die Kita schicken: «Wer die Erziehung lieber dem Staat überlässt und sich um sein eigenes Wohl (und sein Konto) anstatt um den eigenen Nachwuchs kümmert: Der kommt in den Genuss von grosszügigen Steuerersparnissen. Anything goes.» 

Das wiederum haute dem linken Pascal Pfister «den Nuggi» raus, wie er sagte.

Die kantonale Wertschöpfung entstehe auch durch die Arbeit der Menschen, die wenig oder keine Steuern zahlten, sagt Pfister. Im Beruf genauso wie in der Sorge-Arbeit. «Das wird einfach negiert», findet Pfister.

Ausserdem sei es «klassistisch», Steuern und Demokratie zu verknüpfen. «Das erinnert an das Zensuswahlrecht aus dem 19. Jahrhundert.» In einem Zensuswahlrecht dürfen nur Menschen wählen, die genug verdienen, Immobilieneigentum oder anderes Vermögen haben.

«Die direkte Demokratie war Gift für die Einführung moderner Steuern.»

«Die direkte Demokratie war Gift für die Einführung moderner Steuern.»

Martin Lengwiler, Professor für Neuere Allgemeine Geschichte, Universität Basel

Politiker Luca Urgese und der BaZ-Redaktor Sebastian Briellmann wehren sich gegen den Klassismus-Vorwurf. Es gehe nicht darum, Menschen mit wenig Einkommen zu diskriminieren. 

Briellmann sympathisiert mit einer Kopfsteuer von zum Beispiel fünf Franken: «Wenn ich als 18-Jähriger dem Staat einen Fünfliber hätte zahlen müssen, wäre ich wohl interessierter gewesen, was der Staat mit Steuergeldern macht. Mir ist es um die Idee eines verbesserten Demokratieverständnis gegangen.»

Bajour wollte wissen: Stimmt es, dass Menschen sich weniger um Staat und Demokratie kümmern, wenn sie keine Steuern zahlen? 

Aus historischer Perspektive ist diese These «ein bisschen polemisch», sagt Martin Lengwiler, Historiker an der Universität Basel. «Das allgemeine Wahlrecht ist nicht an die moderne Steuerpflicht gebunden», sagt er mit Blick in die Vergangenheit. Das Verhältnis zwischen Bürgerrecht und Steuerpflicht sei historisch ein sehr widersprüchliches. Sowohl die modernen demokratischen Verfassungen als auch die Steuerpflicht – als Ablösung der Feudalabgaben – entstanden im 19. Jahrhundert. Die progressive Einkommenssteuer sei ein goldener Schlüssel gewesen, um mit dem Kapitalismus das gerechteste Steuersystem zu kreieren. Zudem habe man gemerkt, dass durch Steuereinnahmen ein Staat wachsen könne. Lengwiler: «Da wollten alle hin.»

Zensuswahlrecht-Vergleich verfängt nicht

Auf dem Weg zu modernen Steuern sei aber die direkte Demokratie alles andere als hilfreich gewesen, fährt Lengwiler fort. Im Gegenteil: «Die direkte Demokratie war Gift für die Einführung moderner Steuern im 19. Jahrhundert!» Lengwiler illustriert dies an einem Vergleich der beiden Basel. Der Kanton Basel-Landschaft hatte zwar eine moderne Verfassung, «kriegte es aber bis 1928 nicht hin, eine progressive Einkommenssteuer einzuführen», so der Historiker. 

Der Grund: «Breite Bevölkerungsschichten wehrten sich gegen neue Steuern.» Alle Versuche scheiterten an der Urne. Im Kanton Basel-Stadt war es umgekehrt. Als erster Kanton führte er im 19. Jahrhundert die progressive Einkommenssteuer ein. Aber das kam nicht vom Volk, denn es durfte gar nicht mitbestimmen, sondern von der führenden Elite rund um Gewerbler, Handelstreibende und Vermögende. Hier haben die Bürgerlichen recht: «Wenn sich die Elite findet, dann fühlt sie sich durch das Bezahlen von Steuern für den Staat verantwortlich», sagt Lengwiler. «Aber, und das ist der Punkt: Das geschah in einer altständischen Gesellschaft, nicht unter einer modernen Verfassung.» 

Daher verfängt auch Pfisters Zensuswahlrechts-Vergleich nicht. Die konservativen Eliten haben im 19. Jahrhundert mit dem Zensuswahlrecht zwar ein undemokratisches Gesellschaftsmodell untermauert. «Aber Pfister übersieht, dass es dieselben Eliten waren, die in Basel mit der progressiven Einkommenssteuer 1840 ein zukunftsweisendes, solidarisches Steuermodell schufen.»

Alois Stutzer

«Idealerweise hängen die Steuern von der Höhe der Staatsausgaben ab. So wird ein klarerer Zusammenhang zwischen Leistungen und Steuern geschaffen als bei einer Kopfsteuer.»

Alois Stutzer, Professor für Politische Ökonomie, Universität Basel

Fazit: Mit demokratischem Verantwortungsgefühl hat also die Steuerpflicht historisch nichts zu tun. Und aus ökonomischer Sicht? Gehen Menschen, die keine Einkommenssteuern zahlen, leichtfertig mit dem Staatshaushalt um?

Kopfsteuer wenig sinnvoll

Der Basler Ökonom Alois Stutzer wägt ab. Allem voran weist er darauf hin, dass alle Menschen in der Schweiz Steuern zahlen, zwar keine Einkommens-, doch aber eine Mehrwertsteuer auf Güter und Dienstleistungen. Diese macht rund einen Drittel aller Staatseinnahmen aus. Stutzer findet zudem, dass Bürger*innen sich nicht in erster Linie für den Staatshaushalt interessieren, weil sie Steuern zahlen, sondern weil sie eben mitentscheiden können. 

Könnte eine Kopfsteuer dieses Verantwortungsbewusstsein dennoch stärken? «Ja, das ist nicht auszuschliessen. Idealerweise hängen die Steuern jedoch von der Höhe der Staatsausgaben ab. So wird ein klarerer Zusammenhang zwischen Leistungen und Steuern geschaffen als bei einer Kopfsteuer.» Es gebe indes sinnvollere Lösungen, beispielsweise eine regelmässige Zahlung einer Einkommenssteuer – auch einer tiefen.

Der Lausanner Ökonomieprofessor Marius Brülhart bezweifelt, dass eine fünffränkige Kopfsteuer mehr demokratiepolitisches Bewusstsein schaffen würde. «Zudem stände wohl auch der Verwaltungsaufwand in keinem Verhältnis zu allfälligen Wirkungen einer solchen Massnahme.» 

Eine Kopf- oder Personalsteuer gibt es zum Beispiel in den Kantonen Zürich und Luzern. Aber ob sie das demokratische Verantwortungsgefühl nährt, ist fraglich. Die Stimmbeteiligung zwischen 2011 und 2022 lag durchschnittlich bei 47 Prozent,  in Basel-Stadt bei 50.3 Prozent.

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Brühlhart sind auch keine Studien bekannt, die den Zusammenhang untersuchen. Sicher ist lediglich: «Leute mit tiefem Einkommen haben einen wirtschaftlichen Anreiz, stärker für hohe progressive Steuern zu stimmen als Leute mit hohem Einkommen.» Er gibt aber zu bedenken: «Ein grosser Teil der Nicht-Steuerzahler*innen sind dies ja nicht lebenslänglich.» Man denke an Junge in Ausbildung, Leute, die vorübergehend erwerbslos sind (sei es freiwillig oder unfreiwillig), oder Ältere mit kleiner Rente. Menschen, die ihr Leben lang nie Einkommenssteuern zahlen, sind wohl in der Minderheit. Das Finanzdepartement hat dazu leider keine genauen Zahlen. 

«Diese Art von Steueroptimierung ist gewollt»

Der Zusammenhang zwischen Steuernzahlen und Demokratieverständnis ist also komplex – sowohl aus ökonomischer, als auch aus historischer Sicht. Dies zeigt die wissenschaftliche Einordnung.

Nicht zuletzt ist der «Genuss von grosszügigen Steuerersparnissen», wie es die BaZ formuliert, von Staates wegen gewünscht, wie der Historiker Martin Lengwiler anmerkt. Es gehe darum, gesellschaftlich sinnvolle Anreize zu schaffen und nicht nur die Leute nach ihrem Einkommen zu taxieren und so Einnahmen für den Staat zu generieren. «Das Steuersystem hat durchaus sehr gewollt sozialpolitische Entlastungen geschaffen, die wir alle nutzen.»

Er zählt ein paar Beispiele auf: steuerliche Abzüge, Einzahlungen in die zweite oder dritte Säule, bei Wohneigentum oder wenn wir in unsere Bildung investieren. «Man nennt das auch ‘versteckter Wohlfahrtsstaat’, und das haben wir in der Schweiz.» 

So sei gute Bildung letztlich eine Armutsvorsorge. Und wer Wohneigentum besitze, habe im Alter eine günstige Wohnsituation und sei nicht auf Ergänzungsleistungen angewiesen. «Diese Art von Steueroptimierung ist nicht nur toleriert», sagt der Historiker, «sondern sie ist gewollt und sie zielt sehr bewusst gleichermassen auf den Mittelstand wie auf die einkommensschwachen Bevölkerungsteile.»

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