Schande ist eine Erfindung, um uns klein zu halten

Die Geschichte eines Mordes, der 80 Jahre zurückliegt, aber heute noch ein ganzes Dorf beschäftigt, bewegte Michelle Steinbeck dazu, einen Roman über einen Femizid zu schreiben. Kulturjournalistin Esther Schneider redet mit der Schriftstellerin über Schande, Angst und Geisterjäger*innen.

Michelle Steinbeck
Das neue Buch von Michelle Steinbeck ist ein wilder Trip, eine Art feministischer Action-Thriller. (Bild: Yves Bachmann)

«Deine Mutter wurde ermordet!» Diese Nachricht kommt per Telefon und steht am Anfang des Romans «Favorita» von Michelle Steinbeck. Sie bringt die junge Romanheldin dazu, nach Italien zu reisen, um den Mörder ihrer Mutter zu suchen. Daraus wird ein wilder Action-Thriller zum Thema Femizid.

Wie schon in ihrem Debut «Mein Vater war an Land ein Mann und im Wasser ein Walfisch» finden sich auch hier surreale und phantastische Elemente. Sie gehören zum Stil von Michelle Steinbeck. Esther Schneider hat die Autorin zum Gespräch getroffen.

Zur Person

Die Schriftstellerin Michelle Steinbeck schreibt Prosa, Theater und Lyrik. Sie arbeitet auch als Journalistin und Kolumnistin für Magazine und Zeitungen. Zurzeit lebt sie in Basel. «Favorita» ist ihr zweiter Roman. Ihr Debutroman «Mein Vater war an Land ein Mann und im Wasser ein Walfisch» war ein Überraschungserfolg. Damit war sie nominiert für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis.

Michelle, was hast du für eine Beziehung zu Italien?

Ich habe wie meine Romanheldin eine italienische Grossmutter und ich habe wie sie ein seltsames Heimatgefühl für dieses Land.

Im Zentrum deines Romans «Favorita» steht der Femizid, der Frauenmord. Im Nachwort erwähnst du, wie du auf die Geschichte gekommen bist. Du seist zu Gast gewesen am Ort eines Verbrechens. Wo befindet sich dieser Ort?

Das ist eine Landvilla in den Hügeln der Toskana. Ich hatte ein Schreibstipendium bekommen und wohnte ein paar Wochen in dieser abgelegenen Villa. Schon bei der Anfahrt zur Villa, die durch einen Wald führt, hat man mir erzählt, dass da ein Verbrechen geschehen ist. Eine junge Frau war Mitte der 40er-Jahre beim Wasserholen in diesem Wald ermordet worden.

Was hat dich an dieser Geschichte so getriggert, dass du daraus einen Roman machen wolltest?

Sie hat mich nicht mehr losgelassen, weil sich viele Geschichten drumherum rankten. Einmal wurde mir gesagt, dass es seither in der Villa spukt, weil der Geist des Mädchens noch herumschwirre. Und dann ist der Mord, der ja jetzt schon über 80 Jahre zurückliegt, immer noch präsent bei den Leuten in den Dörfern. Auch bei den jungen Menschen. Vielleicht liegt es daran, dass bis heute nicht klar ist, wer den Mord begangen hat. Und da habe ich Lust gekriegt, der Sache nachzugehen.

«Mich hat erschüttert, wie wenig sich in der Berichterstattung über Femizide verändert hat.»
Schriftstellerin Michelle Steinbeck

Und was hast du da gefunden?

Viele Geschichten, Zeitungsartikel und ein Buch von einem Journalisten, der sich vor ein paar Jahren mit dem Fall beschäftigt hat. Er hatte Zugang zu Gerichtsakten des Prozesses. Sein Buch handelt aber vor allem von dem mutmasslichen Täter, der später freigesprochen worden ist. Mich hat erschüttert, wie wenig sich in der Berichterstattung über Femizide verändert hat. Ein Muster ist immer wieder erkennbar. Bald wird das Opfer diffamiert, oft mehr oder weniger implizit der Mitschuld bezichtigt. Auch das Sympathisieren mit dem Täter, die Rechtfertigungen, warum er es getan haben könnte. Wie die Geschichte in den Medien erzählt wurde und heute noch wird, wirkt wie eine Mahnung an alle Frauen und Mädchen, dass sie immer gefährdet sind.

In diesem Zusammenhang taucht der Begriff «Schande» auf. Frauen geraten aus verschiedenen Gründen in Schande. Die Schande der Frauen, ist das vielleicht die eigentliche Geschichte?

Das spielt auf jeden Fall mit. Die Vermutung, die im Raum stand, die junge Frau hätte sicher Schande auf sich geladen. Das müsse der Grund sein, dass sie ermordet wurde. Und genau dieses Denken ist gefährlich. Eine Figur im Buch sagt: Schande ist eine Erfindung, die uns klein hält. Das ist ein wichtiges Thema im Roman.

«Wie die Geschichte in den Medien erzählt wurde und heute noch wird, wirkt wie eine Mahnung an alle Frauen und Mädchen, dass sie immer gefährdet sind.»
Schriftstellerin Michelle Steinbeck

Eine zentrale Rolle spielen Geister. Sie tauchen in Träumen auf, huschen vorbei. In der Villa und im Wald spukt es. Glaubst du selber an Geister?

(lacht) Das werde ich jetzt immer gefragt. Damit habe ich nicht gerechnet. Ob ich an Geister glaube, nicht wirklich. Aber da in der Villa war es schon unheimlich, vor allem nachts. Da hätte ich mir gewünscht, ganz und gar nicht an sie zu glauben.

Wie haben sich denn die Geister bemerkbar gemacht?

Mich selber haben die Geister in Ruhe gelassen (lacht). Aber es gab viele Erzählungen von Leuten aus der Gegend über ihre Erfahrungen mit Geistern. Und diese waren furchterregend. Mir war es deshalb unheimlich, weil ich tagsüber mutig war und mir zu dem Fall Theorien zurechtgelegt habe und mehreren Figuren von damals auf der Spur war. Nachts hatte ich dann Angst, dass deren Geister mich aufsuchen, weil sie nicht wollen, dass ich etwas über sie herausfinde. Und die Gegend, war schon sehr abgelegen und spooky. Sie ist übrigens auch ein beliebtes Ziel für Geisterjäger.

Geisterjäger?

Ja, das ist sehr interessant. Die schwirren da herum mit Geisterjägergeräten, filmen sich dabei und stellen es auf Youtube.

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Esther Schneider spricht in ihrem Podcast «Literatur Pur» regelmässig mit Autor*innen. Wir von Bajour dürfen die Gespräche als schriftliche Interviews aufbereiten. Weil Literatur es wert ist. (Bild: MARA TRUOG)

Was es mit den Geisterjäger*innen auf sich hat, welche Rolle die Politik Italiens im Roman spielt und warum Michelle Steinbeck die Form des Kriminalromans gewählt hat, kannst du nachhören im Podcast LiteraturPur.

Hier geht es zum Podcast bei Apple Music und Spotify.

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Am Dienstag, 17. September 2024, findet um 19.00 Uhr eine Lesung von Michelle Steinbeck zu «Favorita» im Literaturhaus Basel statt. Mehr Infos gibt es hier.

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