«Unsere Demokratie ist nicht in Gefahr»

Seit Montag gilt die Zertifikatspflicht. Jetzt werde der Impfgraben noch tiefer, fürchten einige Unternehmer*innen, Politiker*innen und Journalist*innen. Viele Menschen gehen auf die Strasse und Bundesrat Ueli Maurer posiert für die «Freiheitstrychler». Schwelt da ein Konflikt? Bajour hat bei Politologe und Friedensforscher Laurent Goetschel nachgefragt.

Corona-Proteste
Der Diktatur-Vergleich ist falsch, auch wenn die Demonstrant*innen – hier in Luzern am 11. September 2021 – anders sehen. Laurent Goetschel sagt: «Die Proteste selbst sind der Beweis, dass unsere Demokratie nicht in Gefahr ist.» (Bild: Keystone-SDA)

Laurent Goetschel, Sie sind Friedensforscher. Finden Sie, dass wir in der Schweiz noch in Frieden miteinander leben?

Ja, voll und ganz. Solange Spannungen und Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden können, dann kann man sagen, wir leben in Frieden. 

Und das ist in der Schweiz so? Als letzte Woche der Bundesrat die Zertifikatspflicht beschlossen hat, gab es Proteste. Manche Massnahmen-Gegner*innen sprechen diesbezüglich von Ausgrenzung, Diktatur und Faschismus. Macht Ihnen das nicht Angst?

Gegenwärtig wird oft von einer Spaltung gesprochen. Diese Wahrnehmung muss man ernst nehmen. Aber: Solange wir Wege finden, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Haltungen zu verkleinern und solange man sich frei äussern kann, dann funktionieren unsere Mechanismen. So gesehen sind die Proteste selbst der Beweis, dass unsere Demokratie nicht in Gefahr ist. 

Und wie ist es im Alltag? Ob man sich impfen lassen will, welche Massnahmen nützen und welche nicht, ob man sich an die Vorgaben halten soll – das kann Beziehungen, Freundschaften und Familien zum Implodieren bringen. Erleben Sie auch solche Situationen?

Ja, habe ich auch schon erlebt. Es gibt Menschen, mit welchen es keinen Sinn macht, zu diskutieren. Egal welche Argumente man bringt, sie fühlen sie sich in ihrer Haltung bestätigt. Übrigens gibt es Fanatiker*innen auf beiden Seiten.

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Zur Person

Laurent Goetschel ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung (swisspeace). Er war persönlicher Mitarbeiter der ehemaligen Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und forscht über Fragen der Friedens- und Konfliktforschung sowie die Aussenpolitikanalyse.

Wie meinen Sie das?

Manche haben das Bedürfnis nach Null-Risiko. Die Politik soll Regelungen verabschieden, die es quasi verunmöglichen, dass sich Personen mit dem Virus anstecken können. Das ist aber genauso eine Illusion, wie dass man ohne Impfung die Pandemie in den Griff bekommt. Übertriebene Erwartungshaltungen bringen uns nicht weiter. 

Warum löst die Impffrage solchen Widerstand aus?

Ganz ehrlich, ohne zu viel interpretieren zu wollen, ich denke nicht, dass es um die Impffrage geht.

Worum dann?

Es gibt sicherlich jene, die sich prinzipiell nicht impfen lassen wollen. Diese Menschen dachten auch vor der Pandemie so. Aber die allermeisten Menschen in der Schweiz würden die Starrkrampfimpfung wohl nicht ablehnen. Gegenwärtig geht es aber um grundsätzliche Fragen.

Was sind das für Fragen?

Es geht vielen Menschen um ihre gefühlte Freiheit. Inwiefern diese tatsächlich beschnitten wird, ist  irrelevant. Es geht um die Wahrnehmung. Wir können ohne Zweifel sagen, dass wir in der Schweiz in einem funktionierenden System leben, in welchem die persönliche Freiheit einen grossen Stellenwert einnimmt. Dennoch fühlen sich manche in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Das löst Abwehrreflexe aus.

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Warum? Wir können ja abstimmen und wählen. Über das Covid-Gesetz stimmen wir schon zum zweiten Mal ab im November.

In der Schweiz sind wir es gewohnt, über eingegrenzte Sachvorlagen zu debattieren, Kompromisse zu finden und darüber abzustimmen. Mal gewinnt man, mal verliert man. Und wer verliert, geht davon aus, dass die eigenen Argumente gehört und von der Mehrheit soweit wie möglich mitbedacht werden. 

Aber?

Ab und zu steigern sich Vorlagen zu Grundsatzfragen über die Freiheit des Landes oder des Einzelnen. Dann wird es sehr emotional und sachliche Argumente treten in den Hintergrund. Das Vertrauen der Minderheit in die Mehrheit schwindet. Ich denke, dass dies im Falle der Abstimmung über das COVID-19-Gesetz auch der Fall sein wird. Dass wir bereits zum zweiten Mal darüber abstimmen, gehört zum demokratischen Prozess: Der Kontext verändert sich laufend, entsprechend könnten sich auch Mehrheiten verschieben.   

Und weil der Staat so eingreift, lässt man sich aus Trotz nicht impfen?

Was in allen Gesellschaften beobachtet wird, ist eine gewisse Skepsis gegenüber Dingen, die man nicht gänzlich versteht und die neu sind. Bei technologischen Entwicklungen ist das typisch. Diesbezüglich haben eine urbane Schweizer Impfgegnerin und ein Bauer aus Westafrika mehr gemeinsam, als man denken würde. Ob es sich um die Covid-Impfung oder um die 5G-Technologie handelt, manchen Menschen fehlt das Vertrauen in technologische Errungenschaften, sie schenken auch wissenschaftlichen Erkenntnissen über deren Unbedenklichkeit keinen Glauben und wehren sich erstmals.

«Spannungen arten dann aus, wenn viele Menschen im Land nicht mehr bereit sind, die geltenden Spielregeln zu akzeptieren. Das ist in der Schweiz bisher nicht der Fall.»

Mit der Impfung gewinnt man aber eher Vertrauen zurück, nicht?

Es ist eine vergleichsweise neue Impfung, die nicht bereits seit Jahrzehnten angewendet wird. Das finden manche Menschen problematisch. Beim Zertifikat wird befürchtet, dass der Staat damit personalisierte Daten sammelt. Diese Sorgen können Misstrauen auslösen.

Trotzdem: Als die Pandemie die Schweiz erreicht hat, schienen alle solidarisch sein zu wollen, Junge kauften für die Senior*innen ein, die Politiker*innen verschiedener Parteien zogen an einem Strang. Jetzt, wo sich eine Lösung abzeichnet, gibt es schrille Töne. Wie kommen wir wieder zu einem konstruktiven, solidarischen Umgang zurück? Dem Frieden zu Liebe nicht darüber reden, wie es viele in Familie oder Freundeskreis tun?

Auch wenn das Ziel, nämlich die erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie, unbestritten ist, gilt dasselbe nicht für den Weg dorthin: Für eine Mehrheit der Bevölkerung ist dies eine Steigerung der Impfquote in Verbindung mit weiteren Massnahmen, für eine Minderheit ist die Impfung keine Option oder sie wollen zumindest nicht, dass der Staat Ihnen diese Option allzu vehement nahelegt. Sicher bleibt der Dialog darüber sinnvoll. Wie immer werden die an den Extremen positionierten Personen ihre Meinung deswegen aber kaum ändern.  

Wann arten die Spannungen in offene Konflikte aus?

Der Ton der Debatte ist zum Teil gehässig, aber das kann es in Demokratien geben. Spannungen arten dann aus, wenn viele Menschen im Land nicht mehr bereit sind, die geltenden Spielregeln zu akzeptieren. Das ist in der Schweiz bisher nicht der Fall. Ausserdem wirken sich gerade diese Spielregeln auch als Korrektiv aus.

«Unsere Mechanismen, um solche Konflikte zu verhindern, funktionieren.»

Nämlich?

Nehmen Sie den Bundesgerichtsentscheid zur Demonstrationsfreiheit. Das Bundesgericht hat festgestellt, dass auch während einer Pandemie ein faktisch absolutes Demonstrationsverbot unverhältnismässig ist. Diese Feststellung ist wichtig, weil sie die gefühlte Willkür des Staates korrigiert. Der Föderalismus ist auch wichtig. Dass die Kantone viel selbst regeln können, führt manchmal zu einem Flickenteppich, aber es ist im Grunde richtig, denn die Situation ist nicht immer überall dieselbe. Zudem können so auch die kantonalen Parlamenten einbezogen werden, womit die Partizipationsmöglichkeiten grösser werden. Man kann nicht mehr sagen, die in Bern machen, was sie wollen.

Hand aufs Herz: Machen Sie sich wirklich keine Sorgen um die Stimmung im Land? 

Nein, ich mache mir grundsätzlich keine Sorgen. Weil unsere Mechanismen, um solche Konflikte zu verhindern, funktionieren. Ausserdem denke ich, dass es eine Frage der Zeit ist. In fünf Jahren werden wir rückblickend die Umstände viel nüchterner beurteilen.

Was ist mit der grossen Solidarität, die 2020 von vielen Menschen ganz konkret gelebt wurde? Bajour erlebte mit Gärngschee eine Explosion von Hilsfbereitschaft, die in anderen Kantonen viel Nachahmer*innen fand. Ist es damit vorbei?

Das sind zwei unterschiedliche Situationen: Im ersten Fall kam es zu vielen humanitären Härtefällen, und da spielte die gesellschaftliche Solidarität. Jede und jeder konnte vom Virus befallen werden. Nun gibt es Möglichkeiten, sich vor der Krankheit zu schützen. Nicht alle sind jedoch gewillt, den Schutz der Impfung in Anspruch zu nehmen. Damit kann sich die Bereitschaft reduzieren, Opfern Hilfe zu leisten. Zugleich kritisieren die Impfgegner*innen die Massnahmen, die Ihnen der Staat aufzwingt. Sie bekämpfen das, was sie als Privilegien der Geimpften wahrnehmen. Somit haben wir es nicht mehr mit einer Gesellschaft zu tun, die sich als Ganze einer Pandemie gegenübersieht, sondern mit unterschiedlichen Risikogruppen, die sich gegenseitig der Diskriminierung oder der Fahrlässigkeit bezichtigen. Das macht spontane Solidaritätsaktionen schwieriger.

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Hierzulande wird über eine dritte Impfung – die Booster-Impfung – diskutiert. In Afrika sind weniger als zwei Prozent der Bevölkerung geimpft. Ist das fair?

Impfungen sollten meines Erachtens dort eingesetzt werden, wo sie den grössten Mehrwert erzielen, also die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs am stärksten reduzieren. Sollte die Abgabe einer dritten Impfung in Europa in direkter Konkurrenz zur Möglichkeit stehen, Menschen in Afrika eine erste Impfung zu verabreichen, würde für mich die Priorität klar zugunsten der Impfstoffe im Süden liegen.    

Wie soll man darauf reagieren? Es gibt Menschen, die die Impfung bei sich selbst ablehnen, weil es global gesehen ungerecht ist, dieses Privileg anzunehmen. Ist das eine Lösung? 

Das ist eine völlig absurde Haltung. Jede geimpfte Person hilft der Bekämpfung der Pandemie und reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Virus weiter verändern und ausbreiten kann. Unser persönliches Leiden hilft den Menschen in weniger bevorzugten Weltgegenden nicht. Wenn schon sollten wir uns dazu aufraffen, aktiv etwas für sie tun. Das können wir besser machen, wenn es uns selber gut geht und wir vor allem gesund sind. 

Sind Sie zuversichtlich für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft? Wie können wir als Einzelpersonen täglich etwas für Frieden und Solidarität tun?

Ich finde den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr hoch. Es geht uns allerdings auch verhältnismässig gut, was diesen Zusammenhalt erleichtert. Jede Person kann auf ihre Art und Weise etwas für Frieden und Solidarität unternehmen, sei dies über den Zusammenhalt in der Familie, im Freundeskreis oder im Quartier, im eigenen beruflichen Umfeld, oder über ehrenamtliche Einsätze oder Spenden. Natürlich schliesst das eine das andere nicht aus. Man braucht nicht Mediator*in zu sein, um einen Beitrag zum Frieden zu leisten. Weltweit gelten Diskriminierungen und Ungleichheiten als wichtigste Konfliktursachen. Jede Person kann sich selber überlegen, was sie zu deren Reduktion leisten kann.

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Bei Bajour als: Redaktorin

Hier weil: Lokaljournalismus ein Zukunftsmodell ist und wir es den Grossen zeigen werden

Davor: Hier und da als Freie, dann in die Lehre bei der SRF Rundschau und später lange bei der Schaffhauser AZ

Kann: Dinge herausfinden

Kann nicht: sie wieder vergessen

Liebt an Basel: Am frühen Morgen im Drämmli sitzen und der Stadt zusehen, wie sie aufwacht.

Vermisst in Basel: muss ich noch herausfinden.

Interessensbindungen: 

  • Mitglied bei investigativ.ch, Syndicom, Öffentlichkeitsgesetz, humanrights
  • Im Vorstand des Vereins «50 Jahre Frauenstimmrecht Schaffhausen»
  • Im Verwaltungsrat der Schaffhauser AZ

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