«Der Bericht der Aufsichtskommission ist eine Erleichterung»
Genugtuung, Überraschung, Kritik. So fallen die Reaktionen auf den Kontrollbericht über die Tätigkeit der Basler Staatsanwaltschaft aus. Bestätigt fühlt sich vor allem der Schweizer Israelitische Gemeindebund.
«Erleichterung». Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) mit Sitz in Zürich, fasst seine Gefühlslage mit einem Wort zusammen. Erleichtert sei er, nachdem er den Kontrollbericht der Aufsichtskommission über die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft (Stawa) gelesen habe. Der Bericht gibt seiner Einschätzung vom April 2021 gewissermassen recht.
Die Aufsichtskommission Staatsanwaltschaft Basel-Stadt hat am 14. September ihren jährlichen Bericht veröffentlicht. Darin kritisiert sie ungewöhnlich offensiv, dass die Basler Stawa einen Fall von Rassendiskriminierung und antisemitischer Hassrede «objektiv nicht mit derselben Dringlichkeit» behandelt habe wie die strafbaren Handlungen linker Demonstrant*innen. Der Fall geht zurück auf die bewilligte Pnos-Demonstration und die unbewilligte Gegendemonstration BaselNazifrei vom Oktober 2018.
Der Bericht der Kommission ist politisch brisant. Bajour hat ihn gelesen und die wichtigsten Punkte hier zusammengefasst.
Die Aufsichtskommission über die Tätigkeit der Basler Staatsanwaltschaft kommt in ihrem Bericht 2021 zum Schluss: Die Stawa verfolgt #BaselNazifrei-Demonstrant*innen mit mehr Dinglichkeit als rechtsextreme Pnos-Redner.
Der SIG-Generalsekretär Kreutner erzählt, er habe sich «als Vertreter der Jüdinnen und Juden in der Schweiz» mehrfach bei der Basler Staatsanwaltschaft darum bemüht, dass gegen den bekannten Rechtsextremen Tobias Steiger ein Strafbefehl wegen Hassrede ergeht. Ohne Erfolg. Schliesslich hat er sich «für meine Verhältnisse relativ klar positionieren müssen, damit sich bei der Basler Staatsanwaltschaft endlich etwas bewegt», sagt Kreutner heute. Seine Kritik wurde in einem Beitrag in der SRF-Flaggschiffsendung «10vor10» vom April 2021 ausgestrahlt. Die deutlichen Worte Kreutners: «Wenn man es nicht besser wüsste, müsste man denken, dass antisemitische Hetze bei der Basler Staatsanwaltschaft keine besonders hohe Priorität geniesst.»
Zwei Wochen danach verurteilte die Stawa Tobias Steiger per Strafbefehl wegen mehrfacher Rassendiskriminierung. Gegen den Strafbefehl wurde Einsprache erhoben, der Fall ist nun beim Strafgericht hängig.
«Das ist sehr untypisch für uns als SIG, dass wir uns so deutlich gegen eine Schweizer Justizbehörde richten», sagt Kreutner. «Aber der Bericht zeigt uns, dass wir damals richtig gelegen haben.»
«Wenn man es nicht besser wüsste, müsste man denken, dass antisemitische Hetze bei der Basler Staatsanwaltschaft keine besonders hohe Priorität geniesst.»Jonathan Kreutner, SIG-Generalsekretär im «10vor10»
Hat antisemitische Hetze bei der Stawa keine hohe Priorität? Der aktuelle Bericht der Aufsichtskommission über die Staatsanwaltschaft entkräftet den Vorwurf nicht. Er kommt vielmehr zum Schluss, dass die zuständige Staatsanwaltschaft für diesen Fall der Rassendiskriminierung das «Geschädigteninteresse» als «gering» betrachtete. Kreutner hatte ein Video der Rede von Tobias Steiger im Rahmen der Pnos-Demo 2018 gefunden – mit aus seiner Sicht klar antisemitischem Inhalt. Das Video schickte er der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt mit der Bitte, etwas zu unternehmen.
Dass bei der Behörde das Geschädigteninteresse dennoch als gering betrachtet wurde, bezeichnet er gegenüber Bajour als «krasse Fehleinschätzung».
Heute ist er erleichtert, dass die Behörde dieselben Punkte kritisiert und sieht es als Bestätigung, «dass die harsche Reaktion gewissermassen gerechtfertigt war», so Kreutner.
Die Staatsanwaltschaft schreibt auf Anfrage, sie orientiere sich in ihrer Strafverfolgungstätigkeit «streng an den einschlägigen gesetzlichen Regelwerken, namentlich dem Strafprozessrecht». Sie sei dabei «auf keinem Auge – mithin weder auf dem rechten noch dem linken – blind», sondern folge konsequent dem in der Bundesverfassung festgeschriebenen Gleichbehandlungsgebot.
In Bezug auf den Pnos-Anlass, habe die Stawa sehr wohl die notwendigen strafrechtlichen Ermittlungen an die Hand genommen und – wie der Aufsichtskommission im Februar und damit noch vor der medialen Berichterstattung im April angekündet innert der prognostizierten Frist – zu einem Abschluss gebracht. Die Aufsichtskommission komme auf das Gleichbehandlungsgebot blickend in ihrem Bericht selbst zum Schluss, dass sie «keinen Anlass [habe,] anzunehmen, dass Angehörige der Staatsanwaltschaft mutmassliche Täter aus der rechtsextremen Szene nicht verfolgen würden».
«Die Linke soll aufhören, die Staatsanwaltschaft oder die Strafjustiz generell zu verpolitisieren, wie sie das seit Monaten versucht.»Luca Urgese, FDP-Grossrat
Von bürgerlichen Politiker*innen wird der Bericht als Zeichen dafür gelesen, dass die Kontrollinstanz Aufsichtskommission funktioniert und «nicht davor zurückschreckt, den Finger in die Wunde zu legen», sagt FDP-Grossrat Luca Urgese. «Es ist jetzt an der Stawa den Bericht ernst zu nehmen und die Verbesserungen, die angemahnt wurden, umzusetzen.»
Das sei nun ein Prozess zwischen Aufsichtskommission und Staatsanwaltschaft, sagt Urgese. «Die Linke soll aufhören, die Staatsanwaltschaft oder die Strafjustiz generell zu verpolitisieren, wie sie das seit Monaten versucht.» Die Politik sei erst dann gefragt, wenn die vorgeschrieben Aufsichtsgremien versagten. Aber das sei hier, Urgese verweist nochmals auf den aktuellen Bericht, klar nicht der Fall.
«Es ist ein Hinweis an Frau Eymann, gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft die Schwerpunktsetzung bei der Strafverfolgung im Kontext von Demonstrationen generell zu besprechen und allenfalls anzupassen.»Christian von Wartburg, SP-Grossrat und Anwalt eines Nazifrei-Angeklagten
SP-Grossrat und Anwalt Christian von Wartburg fühlt sich dagegen vom Bericht der Aufsichtskommission bestätigt. Er sei «positiv überrascht» von der Deutlichkeit. Von Wartburg hatte im April eine Interpellation eingereicht, in der er die Basler Regierung unter anderem nach der Prioritätensetzung bei der Strafverfolgung befragte. In der Antwort der zuständigen Regierungsrätin Stephanie Eymann (LDP) vom 26. Mai 2021 betonte diese, die Regierung könne lediglich die Schwerpunkte der Kriminalitätsbekämpfung für die Staatsanwaltschaft festlegen. «Weisungen im Einzelfall betreffend Einleitung, Durchführung und Abschluss eines Verfahrens seien allerdings ausgeschlossen», sagte Eymann.
Von Wartburg ist als Anwalt eines angeklagten Gegendemonstranten in den BaselNazifrei-Prozessen gewissermassen Partei und keine objektive Instanz. Vor Gericht hatte er, wie andere Anwält*innen auch, die Akribie und den Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaft gegen Demonstrierende moniert, die sich seiner Meinung nach, ausser der Teilnahme an der Demonstration, gar nichts zu Schulden haben kommen lassen.
Die Aufsichtskommission gebe dieser Kritik ein Stück weit Recht, sagt von Wartburg, indem sie empfehle, «die Prioritätensetzung bei der Verfolgung von Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern zusammen mit dem Regierungsrat zu überprüfen».
Wie ist dieser Satz aus seiner Sicht gemeint? Von Wartburg: «Das ist meines Erachtens ein Hinweis an Frau Eymann, gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft die Schwerpunktsetzung bei der Strafverfolgung im Kontext von Demonstrationen generell zu besprechen und allenfalls anzupassen.»
Im «Regionaljournal» nimmt Regierungsrätin Eymann Stellung zum Bericht. Sie sagt: «Der Bericht scheint mir sehr fundiert und umfassend. Und auch kritisch im Einzelfall dieser Demo und Gegen-Demo. Als Schlusskonsequenz scheint mir wichtig festzustellen, dass aus dem Bericht rauskommt, dass kein systematisches Problem bei der Staatsanwaltschaft vorliegt. Einfach zu sagen, die Stawa sei auf dem rechten Auge blind, das ist im Bericht nicht bestätigt.» (*)
Die Stawa gelobt, den Bericht ernstzunehmen: «Als lernende und für Kritik offene Organisation nimmt die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt auch den diesjährigen Bericht der Aufsichtskommission interessiert zur Kenntnis.» Sie werde auch in diesem Jahr «die Anregungen und Empfehlungen bedenken, intern besprechen und – wo nötig – umsetzen mit dem Ziel, die Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrags als unabhängige Strafverfolgungsbehörde laufend zu verbessern». Wie sie das machen möchte, lässt sie in ihrer Antwort offen.
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(*) Die Stellungnahme von Regierungsrätin Stephanie Eymann wurde nach Publikation dieses Artikels ergänzt.
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