«Teile der CDU bewegen sich in Richtung SVP»
Am Sonntag werden in Deutschland ein neuer Bundestag und eine neue Regierung gewählt. Die Basler Politikwissenschaftlerin Stefanie Bailer ordnet ein, warum die vorgezogenen Neuwahlen einzigartig sind und weshalb das Ergebnis zentral für die Zukunft des Landes sein wird.
Frau Bailer, wie blicken Sie auf die Neuwahlen in Deutschland?
Für mich sind die Wahlen extrem spannend, weil vieles einzigartig ist. Zum einen sind es vorgezogene Wahlen. Das gab es bereits, aber es ist das erste Mal, dass eine Dreierkoalition auf nationaler Ebene gescheitert ist. Zum anderen ist auch die Ausgangssituation ungewöhnlich, denn es ist so unklar wie noch nie zuvor, ob acht oder fünf Parteien gewählt werden. Mit der FDP, der Linken und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bangen drei an der Fünf-Prozent-Hürde. Deren Wahlerfolg ist zentral, wenn es um die Koalitionsbildung geht. Je mehr Kleinparteien die Fünf-Prozent-Hürde nehmen, desto unsicherer wird eine Zweierkoalition zwischen CDU/CSU und der SPD. Eine solche grosse Koalition wäre wahrscheinlich stabiler und leistungsfähiger als die bisherige Ampelkoalition.
Stefanie Bailer ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Basel. Davor arbeitete sie an der ETH Zürich und den Universitäten in Zürich, Konstanz, Groningen und Ann Arbor. Sie widmet sich bis heute den Forschungsbereichen der Parlamentarismusforschung in Deutschland, Schweiz und Europa, Entscheidungsprozessen in der Europäischen Union, und der internationalen Verhandlungsanalyse. Im Rahmen dieser Forschungsthemen analysiert sie Entscheidungsprozesse politischer Akteur*innen, und die Art und Weise, wie ihre Entscheidungen von Institutionen beeinflusst werden.
Die Kanzerkandidaten sind so unbeliebt wie nie zuvor, wie Umfragen zeigen. Friedrich Merz und Olaf Scholz provozieren zudem mit Handlungen und Äusserungen.
Die beiden Kanzlerkandidaten machen tatsächlich keine gute Figur. Der grösste Fehler von Friedrich Merz war, dass er aufgrund einer symbolischen Abstimmung mit Stimmen der AfD riskiert hat, Glaubwürdigkeit zu verlieren. Olaf Scholz nutzt diese Situation nicht für sich, sondern blamiert sich, indem er den Berliner Kultursenator Joe Chialo als «Hofnarr» bezeichnet und sich nicht einmal für ein solches Fehlverhalten entschuldigt.
Wird der Anschlag in München Auswirkungen auf die Wahl haben? Es wurde erst eine Falschmeldung verbreitet, nach der der mutmassliche Täter ausreisepflichtig und kleinkriminell gewesen sei.
Das kann ich aus politikwissenschaftlicher Warte nur schwer beurteilen. Ich finde es aber sehr problematisch, wenn das Bayerische Innenministerium in einer so kritischen Phase des dynamischen und hektischen Wahlkampfs so lange eine Falschmeldung herausgibt und es Stunden dauert, bis diese revidiert wird.
«Merz hat sich hinreissen lassen, den Wahlkampf viel stärker auf Migration statt auf Wirtschaft zu konzentrieren.»Stefanie Bailer, Politikwissenschaftlerin
Glauben Sie, dass die AfD durch Merz’ Migrationskurs und aufgrund der jüngsten Ereignisse gestärkt wird?
Man bedient die AfD, indem man das Kernthema der AfD – das Migrationsthema – so hochspielt. Merz gelingt das aktuell wunderbar, indem er die Parolen der AfD aufgreift. Er hat sich hinreissen lassen, den Wahlkampf viel stärker auf Migration statt auf Wirtschaft zu konzentrieren. Dabei bietet sich ihm eine sehr gute Gelegenheit: Deutschland hat drei Jahre nacheinander ein sinkendes Wirtschaftswachstum und Merz könnte sich jetzt als der Retter aus dieser Krise darstellen. Durch seine jüngsten Aktionen hat er es seinen Gegner*innen nun aber sehr leicht gemacht und die Proteste zeigen, dass er auf viel Widerstand stösst.
Bei der Bevölkerung schon, innerhalb der Partei weniger.
Innerhalb der Partei gab es sicherlich einige, die gegen das Vorgehen von Merz waren. Allerdings ist die CDU eine extrem gut koordinierte Fraktion. Jetzt im Wahlkampf auszuscheren, das wäre politischer Selbstmord. Es ist aber beachtlich, wenn es gelingt, Hunderttausende Menschen so zu empören, dass sie im Winter auf die Strasse gehen. Das schadet der CDU sicherlich und andere Parteien wie die Linke profitieren von dieser Empörung. Trotz allem aber zeigen die Umfragen innerhalb der Bevölkerung, dass die Werte der CDU ziemlich stabil sind.
Können Sie das erklären?
Die Zustimmung für die CDU ist auch eine Reaktion auf die unruhige Regierungszeit der Ampelkoalition und deren vorzeitigem Scheitern. In einem sehr hektischen Wahlkampf muss die Politik innenpolitisch reagieren, zum Beispiel nach solchen Taten wie in Aschaffenburg und München. Zusätzlich muss sie auch auf globalpolitische Entwicklungen reagieren und diese neu einordnen – gerade nach dem Amtsantritt von Donald Trump.
In ganz Europa ist ein Rechtsrutsch zu beobachten. Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Das ist eine umfassende Frage, für deren Beantwortung wir üblicherweise ein Semester einplanen. Aus meiner Sicht ist es ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Faktoren: Zum einen spielt die seit den 80er- und 90er-Jahren steigende Anzahl von Geflüchteten, die Richtung Europa kommen, eine Rolle. Dies wird begleitet von EU-Skeptizismus, der in den letzten 30 Jahren deutlich angestiegen ist. Hinzu kommen die Wirtschaftskrise und die Globalisierung mit ihren vermeintlichen Verlierern. Ob es einen Rechtsrutsch gibt, hängt zusätzlich immer auch davon ab, inwieweit es eine Partei schafft, sich gut aufzustellen, zu organisieren und eine rechtspopulistische, in manchen Fällen rechtsextreme, Position anzubieten.
An wen denken Sie da besonders?
In der Schweiz beispielsweise ist dies der SVP sehr gut und sehr früh gelungen. Sie gehörte zu den ersten, die bereits Anfang der 90er-Jahre auf migrationsfeindliche und EU-skeptische Themen gesetzt hat. Die AfD ist zuerst mit einem EU-Skeptizismus gestartet und hat sich erst radikalisiert, als sie in den Länderparlamenten vertreten war. Sobald sie ein bisschen fester im Sattel sass, hat sie viel stärker auf migrations- und ausländerfeindliche Positionen gesetzt, ähnlich wie FIDESZ in Ungarn und UKIP in Grossbritannien. Ein wichtiger Faktor ist auch das Wahlsystem.
Inwiefern?
Grundsätzlich ist es schwieriger für kleine Parteien in einem Mehrheitswahlsystem wie Grossbritannien ins Parlament einzuziehen, weil ein*e Kandidat*in ja die Mehrheit in einem Wahlkreis gewinnen muss. Deshalb gibt es auch kaum Vertreter*innen rechtsextremer Parteien im britischen Parlament. In einem Verhältniswahlsystem ist dies deutlich einfacher: So kann man beispielsweise in den Niederlanden schon mit 70’000 Stimmen einen Parlamentssitz erhalten, was dort zu einer grossen Anzahl von Parteien führt. Davor schützt man sich im Deutschen Bundestag mit der Fünf-Prozent-Hürde. Diese bringt jedoch das Problem mit sich, dass bis zu 20 Prozent der Wähler*innen nicht im Parlament vertreten sind, wenn nun möglicherweise drei Parteien an dieser Hürde scheitern.
Was halten Sie von einem Verbot der AfD, das immer wieder diskutiert wird?
Die AfD wird immer wieder überprüft, weil die Partei in bestimmten Bereichen tatsächlich rechtsextrem und verfassungsgefährdend agiert. Das zu beobachten, finde ich notwendig. Ob es machbar ist, diese mittlerweile recht starke Partei auf nationaler Ebene zu verbieten, ist im Grunde eine rechtliche Frage, birgt aber auch Risiken, weil diese Partei inzwischen so gross ist. Andere Parteien, die bisher verboten wurden, waren viel kleiner und die Konsequenzen absehbarer.
«Vom Parteiprogramm sind sich SVP und AfD sehr ähnlich, besonders bei Migrationsfragen.»Stefanie Bailer, Politikwissenschaftlerin
SVP-Bundesrat Ueli Maurer hat sich zu einer Wahlkampfveranstaltung der AfD zugeschaltet und dadurch Nähe symbolisiert. Vertreten SVP und AfD ähnliche Werte?
Vom Parteiprogramm sind sich SVP und AfD sehr ähnlich, besonders bei Migrationsfragen. Aber das Verhalten ist ein ganz anderes. Die SVP ist seit Jahren in die Regierung eingebunden, sie verhält sich weniger demokratiegefährdend und destruktiv als die AfD. Verschiedene SVP-Politiker*innen verhalten sich zwar auch zum Teil anti-demokratisch, aber nicht so umfassend wie die AfD. Vereinzelte Untergruppierungen oder Vertreter*innen der SVP wären sehr typische AfDler, aber das Gros der SVP ist nicht rechtsextrem – im Gegensatz zu ganzen Landesverbänden der AfD, wie zum Beispiel Sachsen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden und als «gesichert rechtsextrem» also anti-demokratisch gelten.
Heisst das in der Konsequenz, dass man die AfD auch mehr einbinden sollte?
Die AfD lässt durch ihr bisheriges Verhalten nicht vermuten, dass sie sich durch eine Einbindung in eine Regierung in ihren Ansichten oder antidemokratischen Verhaltensweisen mässigen lässt.
Erkennen Sie eine Nähe der CDU zur AfD?
Ich habe eher das Gefühl, dass Teile der CDU sich in Richtung SVP bewegen.
Warum?
Einige der Ansichten des rechten Flügels der CDU sind sehr nahe an der SVP.
«Das BSW ist ein sehr spannendes Experiment, wir werden sehen, ob das Bündnis es schafft, in den Bundestag einzuziehen.»Stefanie Bailer, Politikwissenschaftlerin
Wenn man diesen Rechtsrutsch in vielen Ländern Europas sieht: Wie können sich linke Parteien behaupten?
Die linken Parteien haben zwei Möglichkeiten und sind unterschiedlich erfolgreich damit. Entweder bilden sie die klassische Linke ab und geben sich solidarisch mit ärmeren Bevölkerungsgruppen am Rande der Gesellschaft. Die Linke hat mit ihrer klassisch kommunistischen Linie gar keine schlechten Chancen, mit ihrem Programm über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. Auf der anderen Seite gibt es das neue Modell des BSW, das ökonomisch links und kulturell rechts ist. Ganz nach dem Motto: Ich will Sozialdemokratie, aber nicht für Migrant*innen. Da sind BSW und AfD in ihren Positionen nicht so weit voneinander entfernt. Das BSW ist ein sehr spannendes Experiment, wir werden sehen, ob das Bündnis es schafft, in den Bundestag einzuziehen. Mit Sahra Wagenknecht hat es eine gescheite Politikerin an der Spitze, die sich gut verkauft und die Leute mitzieht. Sie hat anderen Kandidat*innen einiges voraus.
Wie kann es den linken Parteien gelingen, beim Thema Migration etwas entgegenzusetzen?
Die Linken haben es hier nur auf den ersten Blick einfach. Sie können sagen: Wir sind solidarisch und helfen den Migrant*innen, die jetzt im Fokus stehen. Das Problem ist aber, dass es grosse Anstrengungen und viel Geld benötigt, um die Personen zu integrieren und sie psychologisch zu betreuen. Viele Bürger*innen sind im Moment aber nicht bereit, dieses Geld dafür einzusetzen.
Warum?
Sie möchten das Geld für sich, für ihre Infrastruktur, die Bildung ihrer Kinder oder das Gesundheitswesen. Es gibt in Deutschland zurzeit massive Probleme bei Infrastruktur, Renten- und Gesundheitssystem. Mit ihrer Solidarität wird die Linke keine Mehrheiten bekommen, aber ihre Existenz ist wichtig. Es würde viel verloren gehen, wenn die Linke im Parlament nicht regelmässig Anfragen stellen würde, in denen sie sich zum Beispiel nach Gewalttaten gegen Ausländer erkundigt.
Trotzdem müssen sie die unzufriedenen Wähler*innen überzeugen. Wie kann die Linke das auch beim Thema Wirtschaft schaffen?
Ich denke nicht, dass die Linke das schafft. Zum Teil sind ihre Positionen so extrem in punkto Besteuerung, dass sie damit keine Mehrheit erreichen wird.
Deutschland ist innerhalb der EU eines der grössten und mächtigsten Länder. Welche Konsequenzen könnten die Neuwahlen für die EU und für die Verhandlungen mit der Schweiz haben?
Keine. Die parteipolitische Orientierung hat ganz wenig Auswirkungen auf das tatsächliche Verhandeln in den EU-Verhandlungen, weil sich alle dafür einsetzen, was am besten für die deutsche Wirtschaft ist. Solange man keine extreme Partei wie jetzt die AfD oder die Linke im Parlament hat, merkt man das bei der Gesetzgebungsarbeit in der EU nicht. Und auch zu den Beziehungen der Schweiz kann ich mir überhaupt keine Änderungen vorstellen, weil keine deutsche Regierung Interesse hat, der Schweiz eine Sonderrolle zu gewähren. Warum denn auch? Ich sehe weder bei der CDU noch bei der SPD irgendein Bedürfnis, der Schweiz entgegenzukommen.
Vielen Dank für das Gespräch.