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Seriously?

Candy Crush, Pralinen und Winkewinke im Grossen Rat

Was es nicht alles gibt in diesem Basler Parlament. Bajour-Praktikantin ist – ähm – erstaunt.

12/18/20, 10:28 AM

Aktualisiert 12/18/20, 12:11 PM

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Verborgen hinter getönten Scheiben sitze ich im zum Grossratssaal umfunktionierten Congress Center und schau auf ganz viele Politiker*innen-Rücken. Es ist Mittwoch, der 16. Dezember, und ich darf zum ersten mal eine Grossratssitzung live miterleben. (Meine Chefin hat «Grosses» mit mir vor, sagt sie immer. Disclaimer: Diesen Satz hat sie mir reinredigiert).

Die Fenster zwischen der Dolmetscher*innenbox, wo wir Journalist*innen sitzen, und dem Saal sind verspiegelt. Darüber bin ich aber ehrlich gesagt froh, denn ein wenig Ehrfurcht habe ich schon vor diesen Grossrät*innen.

Einzige Verbindung zum Saal sind die Kopfhörer, die vor mir liegen. Es sind nur wenige Journalist*innen da, die meisten erwarten wohl, dass der grosse Aufreger – die Motion von Joël Thüring bezüglich der Wiedereinführung des Bettelverbots – erst am Donnerstag diskutiert wird. Vielleicht schauen sie sich die Übertragung aber auch einfach auf dem Youtube-Stream an, Corona und so.

Eigentlich habe ich die offizielle Erlaubnis, aus der Dolmetscher*innenbox in den Grossen Rat zu marschieren, um einen Schnappschuss zu machen. Aber ich zögere. Schliesslich sitzt da unten die gesamte Politlandschaft von Basel. «Hä, mach doch», sagt Kollegin Adelina, die zusammen mit mir die Sitzung verfolgt. Fuck it, denke ich, und laufe erhobenen Hauptes vor den gesamten Grossen Rat. Mache ein Foto, bekomme ungefähr fünf schräge Blicke und einen lauten Lacher, auf den ich mit Schulterzucken reagiere, und trete meinen Rückweg an. 

Naja, ganz vorne war ich dann auch nicht, aber immerhin...

Naja, ganz vorne war ich dann auch nicht, aber immerhin...

Dann geht's los. Jetzt wird's spannend, denke ich. Durch die Kopfhörer höre ich zunächst Salome Hofer, Präsidentin des Grossen Rats. Sie eröffnet die Sitzung. Sowieso läuft hier gar nichts ohne ihre Zustimmung, das merke ich schnell. Salome Hofer erteilt das Wort, beendet Debatten und ermahnt Ratsmitglieder. Sie ist der Big Boss des Grossen Rates.

Jetzt erklingt eine andere Stimme. Ernüchtenderweise geht es noch um die Budgetdebatte, die am Morgen nicht beendet werden konnte. (Nach diesem Satz glaubt meine Chefin doch nicht, dass aus mir etwas wird. Ihr Kommentar: Money is power, baby.) Innerlich hatte ich mich natürlich schon auf die hitzige Bettler*innen-Debatte gefreut.

«Wir sehen sehr wichtig aus.» Valerie und Adelina verfolgen in der Dolmetscher*innenbox die Grossratsdebatte.

«Wir sehen sehr wichtig aus.» Valerie und Adelina verfolgen in der Dolmetscher*innenbox die Grossratsdebatte.

Wer redet da überhaupt? Gar nicht mal einfach zu erkennen, wenn man nur auf Hinterköpfe starrt und ein kleines, rot leuchtende Mikrofon der einzige Anhaltspunkt ist. Während ich also meine Dehnübungen in der Dolmetscher*innenbox mache, um, leicht gestresst, das rote Mikrofon zu finden, taucht unter uns eine winkende Hand auf. Das Zeichen der Politiker*innen: Ey yo, ich will auch was sagen. Salome Hofer macht dann ein Zeichen und notiert sich, wer noch zu Wort kommen will. 

Say what? Keine*n interessierts

20 Minuten nach Sitzungsbeginn holt SVP-Grossrat Heinrich Überwasser zu einem ersten Schlag gegen die linken «Gutmenschen» aus. Ich schaue zu Sarah Wyss. Aber die SP-Grossrätin scheints nicht gross zu interessieren. Sie ist damit beschäftigt, Pralinen und Weihnachtskarten an ihre Fraktionskolleg*innen zu verteilen.

What? Denke ich mir, und bewundere das bunte Treiben im Saal. Da wird Zeitung gelesen, mit Sitznachbar*innen getratscht und über Bänke geklettert, wenn man seine Ratskolleg*innen nicht aufscheuchen möchte – ah, und da redet ja auch immer noch wer. Aber der*dem Redenden wird kaum zugehört. Ich habe zwar im Vorhinein schon geahnt, dass die meisten Grossrät*innen ihren Kolleg*innen nicht immer mit voller Aufmerksamkeit zuhören werden. Aber dieses Ausmass hatte ich nicht erwartet. 

Plötzlich taucht SVP-Grossrat Joël Thüring in der Dolmetscher*innenkabine neben uns auf. Wir winken ihm zu, er winkt zurück. Schön bizarr, denke ich mir. Kurz später verschwindet er wieder und kehrt in den Ratssaal zurück. 

Sowieso ist ständig ein Geläuf. Ich weiss manchmal gar nicht, wo hinschauen. Kaum ein*e Grossrät*in war die vollen drei Stunden von Beginn bis Ende der Grossratssitzung im Saal, wage ich zu behaupten. Manchmal führt das zu lustigen Szenen: Wenn nämlich Politiker*innen zu den Abstimmungsgeräten an ihren Plätzen rennen, um noch mitbestimmen zu können. Trust me, das ist wirklich so passiert. Und ich hatte vorher noch Hemmungen, in den Saal zu laufen und ein Foto zu machen. Haha.

Wir haben keine Hemmungen.

Ein paar Anzüge werden mit zwei Sätzen abgehandelt – das sind dann diese Formalitäten, die man immer etwas anders formulieren muss, damit es nicht gleich tönt wie beim letzten Anzug – und dann ... dann kommt die langersehnte, die heiss umstrittene Motion von Joël Thüring zur Wiedereinführung des Bettelverbots. Die Spannung steigt, man kann die Luft förmlich knistern hören. Es melden sich viele, die ihren Senf dazugeben wollen. Die Debatte nimmt Fahrt auf.

Big Boss Salome Hofer muss einschreiten

Es wird mit Begriffen wie «Bettelorgie», «Rassismus» und «Hetze» um sich geworfen. Es ist die Rede von «naiven Ideologien», jede*r scheint selbst Umfragen gemacht, Studien herausgesucht, den Bettelboss gesucht und vermeintlich sogar gefunden zu haben.

Als Beat Leuthardt von der BastA! dann den Begriff «braune Sprache» verwendet, zieht Salome Hofer die Notbremse. Der Grossrat soll seine Wortwahl mässigen. Als er sich wehren will, sagt sie: «Machen sie doch bitte einfach, was ich Ihnen sage». Bääm, Big Boss Salome Hofer hat gesprochen. 

People are on fire hier – aber nicht ganz alle

Während sich die Politiker*innen gegenseitig  in Rage reden, hat Raoul Furlano offensichtlich genug von der Folklore. Der Liberale stellt einen Ordnungsantrag. Das wird ihm hier viel zu emotional. Schade, jetzt wo es langsam richtig abging. 

Aber nicht alle Politiker*innen waren mit vollem Herzen bei der Debatte dabei. Direkt vor unserer Dolmetscher*innenbox beobachte ich LDP-Grossrat Alex Ebi beim Candycrush spielen. Das nenn ich mal Prioritätensetzung.

Sarah Wyss hat währenddessen das Pralinenverteilen wieder aufgenommen. Heimlich hoffe ich, dass sie auch uns hier oben noch einen Besuch abstattet. Aber wohl kaum – schliesslich sind wir noch immer hinter den verspiegelten Scheiben versteckt. Schluchz.

Die meisten anderen Politiker*innen sind aber Feuer und Flamme. Richtig Ruhe kehrt erst nach der Abstimmung wieder ein. Die Motion wird an den Regierungsrat zur Stellungnahme überwiesen. Puh, jetzt alle mal durchschnaufen!

Abstimmung geschafft! Jetzt widmen sich die Politiker*innen wieder ihren Zeitungen, den E-Mails oder sie packen schon mal ihre sieben Sachen. Das war wohl genug Adrenalin für heute.

Ende Gelände

Um punkt Sechs beendet Salome Hofer die Sitzung. Die meisten Politiker*innen machen sich direkt auf den Heimweg. Wenige bleiben auf einen kurzen Schwatz noch vor dem Saal stehen. 

Irgendwie hatte ich etwas anderes erwartet vom Grossen Rat. Etwas mehr Interesse, wahrscheinlich. Ein bisschen mehr... Würde vielleicht? Da soll mir jetzt noch einer sagen, die heutige Jugend ist nicht politikinteressiert. So ein Quatsch aber auch. Im Vergleich zu gewissen Politiker*innen ist meine Generation sehr engagiert! Nächstes Mal habe ich auf jeden Fall weniger Ehrfurcht, vor diesem Grossen Rat. 

PS: Falls du genauer wissen möchtest, wie die Debatte rund um die Motion von Joël Thüring verlaufen ist, kannst dus hier nachlesen. Bajour-Reporterin Adelina Gashi hat für dich die wichtigsten Aussagen und Aufreger zusammengefasst. 

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