«Eine Eskalation ist für die Menschen dort verheerend»

Der Konflikt in der Ostukraine spitzt sich zu. Der russische Präsident Putin hat Truppen in das Donbas-Gebiet entsandt. Wie geht es den Ukrainer*innen und Russ*innen in Basel dabei?

Ukraine Flagge
(Bild: Max Kukurudziak / Unsplash)

Die Personen in diesem Text wurden am 23. Februar. befragt, bevor der Einmarsch begonnen hatte.

Die Menschen in der Ostukraine leben seit 2014 in kriegsähnlichen Zuständen. Inzwischen hat sich die Lage verschärft. Der russische Präsident Wladimir Putin entsandte vor drei Tagen Truppen in die Donbas-Region. Aus kriegsähnlichen Zuständen könnte offiziell Krieg werden. Der Diaspora bleibt hingegen nichts anderes übrig, als angespannt aus der Ferne zuzuschauen. Wie geht es Basler*innen aus der Ukraine und Russland damit?

Wir haben mit vier von ihnen gesprochen. Zum Beispiel vertraut Zarema vom Verein Russkij Basel Präsident Putin. Sie ist zuversichtlich, dass eine friedliche Lösung gefunden werden kann.

Zuversichtlich zu sein, das versucht auch der Ukrainer Alexander. Er und seine Familie hoffen, dass sie diese Sommerferien wieder zu Besuch in die Heimat fahren können.

Die ukrainische Autorin Eugenia blickt hingegen sorgenvoll in die Zukunft. Aber sie weiss immerhin, dass sie ihre Familie in die Schweiz holen könnte, käme es darauf an.

Wenn Denis die Wahl hätte, würde er am liebsten wieder zurück in die Ostukraine, wo er aufgewachsen ist. Weil er und seine Familie dort aber keine Perspektive hatten, zogen sie 2000 nach Basel. Denis, der eigentlich anders heisst, aber anonym bleiben möchte, sieht beide Länder in der Verantwortung, eine konstruktive Lösung zu finden und eckt bei anderen Ukrainern mit seiner Haltung an.

Eugenia

studiert seit letztem Herbst Literaturwissenschaften an der Universität Basel und arbeitet als Autorin. Schweren Herzens verliess sie letztes Jahr ihre ukrainische Heimat und zog in die Schweiz. Sie sorgt sich um die Sicherheit ihrer Familie, die noch dort lebt:

«Meine Schwester hat schon einmal alles verloren. Ich will nicht, dass sie das nochmals durchmachen muss. 2014 floh sie mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann aus Luhansk und begann nochmals von null. Sie glaubt nicht, dass es zu einer Ausweitung der Kämpfe ausserhalb Donbas kommen wird. Aber ich habe das Gefühl, dass sie es einfach nicht wahrhaben möchte. Ich habe ihr angeboten, dass sie wenigstens ihre zehnjährige Tochter zu mir nach Basel schickt. Das ist das einzige, was ich für meine Familie und Freunde zurzeit tun kann. Und das einzige, das mich beruhigt: Zu wissen, dass ich sie unterstützen kann und sie in die Schweiz holen kann, wenn es sein muss. Ich bin in der Ostukraine aufgewachsen, letzten Sommer zog ich für mein Master-Studium nach Basel.

Viele Menschen im Westen verstehen nicht, dass die Ukrainer ihr Land eigentlich nicht verlassen wollen. Das ist ihre Heimat, sagen meine Freunde, sie wollen nicht weg von dort. Wie mein Vater – er starb vergangenes Jahr in Luhansk, wo er sein ganzes Leben verbracht hat. Zu Kriegsbeginn im Jahr 2014 floh meine Mutter mit dem letzten Zug aus Luhansk zu mir in den Westen der Ukraine, wo ich zur Zeit gewohnt habe. Mein Vater wollte nicht mitkommen. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Die Angst davor, was passieren könnte, wenn ich zurückgehe, war immer zu gross.

Putin hat diese wahnsinnige Idee, dass Lenin die Ukraine kreiert hat. Ich glaube, er träumt davon, die Ex-Sowjet-Länder zurückzubekommen. Der Westen und die Ukraine werden von russischen Nationalisten und prorussischen Medien als faschistisch verschrien. Und sie verbreiten ein Narrativ, dass russischsprechende Menschen nicht mehr in der Ukraine geduldet und unterdrückt werden. Das stimmt schlicht nicht. Die meisten Menschen in der Ukraine sprechen beide Sprachen: Ukrainisch und Russisch.

Ich kann es nicht ganz fassen, was gerade in meiner Heimat passiert. Dass wir nun vor einem weitreichenden Krieg stehen.»

Der Ukraine-Konflikt

Der seit 2014 schwelende Konflikt in der Ostukraine droht zu eskalieren. In einer Rede erklärte der russische Präsident Wladimir Putin die beiden Regionen Luhansk und Donezk für unabhängige Republiken. Im östlichen Donbasgebiet, zu dem Luhansk und Donezk gehören, leben tausende Separatist*innen, die die Autonomie von der Ukraine fordern. Jedoch sind nicht alle Einwohner*innen dieses Gebiets Separatist*innen. Russland hat inzwischen Truppen entsandt, um die Republiken bei der Proklamation ihrer Grenzen zu unterstützen. 

«Putin verbreitet eine sehr einseitige Interpretation der gemeinsamen Geschichte Russlands und der Ukraine und stellt die Berechtigung der Ukraine als souveräner Staat in Frage», sagt der Basler Fabian Baumann, der als Osteuropahistoriker an der Universität Chicago forscht. Für den russischen Präsidenten sei die Ukraine ein historisch gewachsener Teil der russischen Nation, eine Idee, die aus dem Zarenreich des 19. Jahrhunderts stammt, so Baumann. «Er nimmt der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung.»

Die Ukraine ist seit 1991 ein unabhängiger Staat. Das Donbas-Gebiet gilt als die am meisten industrialisierte Region mit der stärksten sowjetischen Identität. Die Menschen dort verfielen nach 1991 in Frustration, weil sie sich von der ukrainischen Regierung im Stich gelassen fühlten. Seit 2014 herrschen kriegsähnliche Zustände in der Ostukraine, die die Region vom Rest des Landes abschotten: «Bis heute ist die Versorgung für die Menschen dort grauenhaft», sagt Baumann.

Für mehr Informationen: SRF protokolliert die Ereignisse in der Ostukraine mit einem Live-Ticker. Auch die deutsche Tagesschau tickert und liefert Einschätzungen in Text und Video.

Zarema

ist Russin und engagiert sich für den Diaspora-Verein «Russkij Basel»: 

«Ich bin Pazifistin. Ich will keinen Krieg. Aber es ist schwer abzuschätzen, was als nächstes passiert. Wir sind zufrieden, dass die Menschen in Luhansk und Donezk nun unter Protektion von Russland sind. Die Menschen in der Donbas-Region haben schon seit 2014 Angst vor der Ukraine.

Unser Präsident Putin hat wichtige und gute Dinge gesagt in seiner Rede am Sonntag. Es braucht dringend weitere Gespräche zwischen den Politikern, ich glaube, es wäre möglich, eine friedliche Lösung zu finden.»

Alexander

sieht das kritischer. Er ist Ukrainer und Vater von drei Töchtern lebt seit acht Jahren in Basel. Seine ukrainische Heimat fehlt ihm, das, was zurzeit geschieht, macht ihn traurig und wütend. Er geht mit Putin hart ins Gericht: 

«Putins Gebaren sind ein Hohn und eine Affront gegen die internationale Gemeinschaft. Sanktionen bedeuten ihm nichts, das ist ein Witz für ihn. Ich glaube, er ist zu allem fähig. Wir hoffen trotzdem, dass alles gut wird. Und wir diesen Sommer wieder mit unserer Familie vereint sein werden. 

Die neuen Entwicklungen und Eskalationen sind angsteinflössend. Wie ist das noch möglich im 21. Jahrhundert? Diesen Sommer wollte ich mit meiner Frau und unseren drei Töchtern unsere Verwandtschaft in der Ukraine besuchen. Meine Frau und ich sind dort aufgewachsen. Aus beruflichen Gründen zog es uns 2014 in die Schweiz. Aber wir fühlen uns zu unserer Heimat verbunden, haben die ukrainische Flagge in unserem Haus und die alte Karte, wo die Krim noch zu uns gehört hat.

Letzten Dezember besuchte ich unsere Familie. Es fuhr mir ein, zu realisieren, dass die Menschen dort ein Leben leben, nicht wissend, was als nächstes geschieht. Meine Frau und ich verfolgen besorgt und gestresst, wie sich die Situation entwickelt. Sogar unsere älteste Tochter, sie ist 10, hat verstanden, dass gerade viel passiert.»

Denis*

hält sich mit der Kritik an Russland zurück. Für ihn gibt es kein Schwarz oder Weiss. Als Zehnjähriger zog er mit seiner Familie aus der Ostukraine nach Basel. Früher verbrachte er jeden Sommer in der alten Heimat. Das änderte sich, als 2014 der bis heute andauernde Konflikt in der Ostukraine entflammte: 

«Meine Verwandtschaft kommt ursprünglich aus dem Osten der Ukraine, aus Anthrazit gleich an der russischen Grenze. Aber seit 2000, seit ich zehn bin, lebe ich mit meiner Familie in der Schweiz. Wir fuhren trotzdem für die Ferien jeden Sommer zurück. Das hörte 2014 mit der Maidan-Revolution auf.

Ich telefoniere regelmässig mit meiner Familie und Freunden dort, um mitzubekommen, was zurzeit abgeht. Wenn ich mit meiner Tante spreche, spüre ich den proöstlichen Einfluss, Russland gilt als gut. Es ist nicht einfach, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.

Für mich sind Ukrainer und Russen das gleiche Volk. Kulturelle Unterschiede wurden künstlich geschaffen – mit dem erstarkenden Nationalismus in der Ukraine, wurde die russische Sprache zum Politikum. Aber in Wirklichkeit sprechen praktisch alle Ukrainer russisch.

Die Unabhängigkeitserklärung von Luhansk und Donezk macht keinen Sinn. Es braucht eine andere Lösung. Ich glaube, viele Leute in der Region würden sich gerne Russland anschliessen. Diese Diskussion muss geführt werden. Ich hoffe sehr, dass der Dialog mit Putin gesucht wird. Eine Eskalation wäre für die Menschen dort verheerend. Sie haben jetzt so schon wenig. Die Versorgung ist auf niedrigem Niveau. 

Hier in der Schweiz spüre ich in meinem Umfeld Unmut von anderen Ukrainern, weil ich kein Patriot bin und klar Stellung beziehe. Das finde ich schade. 

Für mich gibt es keinen schöneren Ort als die Ukraine. Wenn ich die gleichen Möglichkeiten dort hätte, die ich hier in der Schweiz habe, würde ich ich zurückgehen.»

Für die russische und ukrainische Diaspora werden die nächsten Tage und Wochen ein Bangen. Die Hoffnung und ihre Stimme haben Zarema, Alexander, Eugenia und Denis deswegen aber nicht verloren.

___________

*Name der Redaktion bekannt

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Vermisst in Basel: Das Meer

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