Wackelpartie
Sprung über die Jahrhunderte: «Die Glasmenagerie» ist ein Theater-Klassiker des 20. Jahrhunderts. Das Theater Basel zeigt das geniale Stück in einer Spielweise des 21. Jahrhunderts.
Nun wieder in Basel! Vor 79 Jahren - und anderthalb Jahre nach der Uraufführung in Chicago - fand in Basel im Januar 1946 die deutschsprachige Erstaufführung der «Glasmenagerie» von Tennessee Williams statt. Das Stück wurde zu einem Grosserfolg des westlichen Theaters. Williams Absichten waren durchaus realistisch, aber er sprengte den bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts mit den Theatermitteln des 20. Jahrhunderts: Er machte Anleihen beim epischen Theater - eine Figur tritt aus ihrer Rolle heraus und fungiert als Erzähler -, das Bühnenbild kombinierte realistische Elemente auf ganz unrealistische Weise miteinander, eine vom Autor genau festgelegte Lichtregie spielte eine wichtige inhaltliche Rolle, und die Musik war ein eigenständiger Akteur. Das Theater zeigte offen seine Mittel.
Sie leben anderswo - der Plot
Im Süden der Vereinigten Staaten, in St. Louis am Mississippi, lebt die Familie Wingfield. Der Familienvater hat das Weite gesucht und ist nur noch als Porträt an der Wand präsent. Familienmutter Amanda muss sich mit ihren beiden Kindern, der jugendlichen Laura und dem etwas älteren Tom, alleine durchschlagen. So verschieden diese drei Personen sind, eines haben sie gemeinsam: sie leben in anderen Welten. Mutter Amanda lebt in der Vergangenheit, als sie noch siebzehn Verehrer hatte und die Welt viel besser war. Die menschenscheue Laura lebt in der Märchenwelt ihrer Glastiere-Sammlung. Tom lebt in der Welt der Kinofilme, die er sich jede Nacht reinzieht. Ein «Memory Play» nannte der Autor sein Stück. Alle Personen haben auch gute Gründe, die Gegenwart zu verleugnen: materielle Not, öde Jobs, Perspektivlosigkeit und Langeweile prägen ihren Alltag. Die gesellschaftlichen Verhältnisse verhindern ein besseres Leben umso mehr, als sie von den Figuren nicht verstanden werden.
Amanda ist eine der grossen Frauenfiguren des Theaters ihrer Zeit, sie gehört an die Seite von Mutter Courage, denn wie diese kämpft sie einen aussichtslosen Kampf um das Glück ihrer Kinder, die sie mit tyrannischer Mütterlichkeit beherrscht. Sie sagt: «Meine Aufopferung hat aus mir eine Hexe gemacht.» Und die Kinder lehnen sich zwar oftmals auf, gehorchen aber letztlich immer, weil sie gar nicht mehr wissen, wer sie sind und was sie wollen. Wenn die Tochter sich etwas wünschen darf, so fragt sie die Mutter, was sie sich wünschen soll.
Sturz ins Bodenlose
Amanda weiss, dass eine Frau wie ihre Tochter, die unverheiratet ist und keine Ausbildung hat, im Kleinbürger- und Arbeitermilieu, in dem sie leben muss, verloren ist. Die Mutter veranlasst deswegen, dass Tom einen Arbeitskollegen nach Hause bringt, den sie mit Laura verkuppeln will. Für den Schwiegersohn in spe inszeniert sie einen auf Pump organisierten grossen Empfang. Der Arbeitskollege entpuppt sich als Lauras Jugendschwarm von der High School, allerdings blieb Lauras Liebe unerfüllt und unbemerkt. Sie war schon damals zu schüchtern. Nun kommt es zu einer Annäherung, die nahezu den ganzen zweiten Akt des Stückes ausmacht. Während bisher die Erinnerung an die Vergangenheit die Figuren daran hinderte, in der Gegenwart zu leben, so entzündet jetzt die Vergegenwärtigung der Vergangenheit einen Funken der Hoffnung und der Liebe zwischen Laura und Tom. Laura verliert etwas von ihrer autistischen Verschlossenheit. Es kommt zu einem Tanz, bei dem allerdings Lauras Lieblings-Glastier zu Boden fällt und zerbricht. Es kommt zu einem Kuss. Dann aber gesteht der junge Mann, dass er «gebunden» ist und unmittelbar vor der Hochzeit steht. Laura fällt ins Bodenlose.
Wie inszeniert frau so einen Klassiker?
Die britische Regisseurin Jaz Woodcock-Stewart (Jahrgang 1990) hat das Stück gleichsam entkernt. Die für den Fortgang der Geschichte relevanten Dialoge sind erhalten geblieben, die anderen wurden gestrichen und in theatrale Aktionen und in Körpersprache umgesetzt. Das gelingt zumeist sehr gut! Eine gut choreographierte Orgie von Klapsen und Stössen zwischen Mutter und Tochter erzählt mehr über deren Beziehung als viele Worte. Tom tröstet seine Schwester, indem er mit ihren Pferdchen spielt, als wär er noch ein Bub. Und wenn er nachts betrunken in die enge familiäre Zwangsgemeinschaft einbricht, so bedarf es keines Dialogs, um die Peinlichkeit der Situation zu vermitteln. Auch der Stress der Mutter, ihre Hektik, können gespielt und gezeigt werden. Und wenn die Mutter den jungen Mann, den sie eigentlich für ihre Tochter vorgesehen hat, anmacht, so funktioniert das nur, weil es gerade nicht explizit formuliert wird.
Rosie Elniles Bühne mit ihren rauhen Betonwänden ist im ersten Teil brutal leer und wirkt doch beengend. Jede Figur hat ihre Nische, in die sie sich zurückziehen kann, ansonsten spielt sich fast alles am Boden ab. Die Figuren kauern und liegen. Sie sind auf Grund gelaufen wie gekenterte Schiffe.
Wunderbare Spieler und Spielerinnen
Obwohl das Stück nach wie vor Ende der 30er Jahre spielt, ist es Woodcock-Stewart und den Darstellenden gelungen, in den historischen Figuren Menschen unserer Gegenwart zu entdecken. Ja, mehr noch: sie zu Alltagsfiguren zu machen, sie nahbar zu machen. Hilke Altefrohne als Mutter Amanda ist in allem das Gegenteil von Isabelle Huppert, die vor wenigen Jahren in Paris die Rolle als hysterisch überdrehte Heroine gab. Altefrohne ist selten laut und sie ist nicht alt, sondern in ihren besten Jahren. Sie gibt die in paternalistische Muster verstrickte zähe Kämpferin, unheroisch, aber tapfer, und modern: Sie ist eine der Mütter, die nicht älter sein kann als ihre Kinder. Sie herrscht aufgrund kleiner, tyrannischer Gesten. Egal, ob sich der Bub ekelt oder nicht, am Schluss wird ihm Milch in seinen Kaffee gekippt: schnell, nebenbei, wirkungsvoll.
Antoinette Ullrich zeigt die Laura als verstockte, fahrige, stotternde Jugendliche, die sich in ihrer Haut so unwohl fühlt, dass mir als Zuschauer auch schon der Pelz zu jucken anfängt. Ihre Laura kapselt sich ab in der digitalen Welt ihres Computers und in der Musik ihrer Kopfhörer. Sie knurrt, grunzt und schreit in Growling-Technik vor ihrem Bildschirm, aber auch dadurch kann sie sich nicht von ihren Hemmungen und Ängsten befreien. Ihr Sexualleben reduziert sich auf gelegentliche Onanie zu entsprechenden Filmsequenzen. In der grossen Annäherungsszene mit ihrem Jugendschwarm müsste sie sich etwas früher und etwas stärker vom autistischen Stottern befreien. Ihr Tanz mit ihrer Pubertätsliebe ist dann allerdings wieder grosse Klasse.
Auch Jan Bluthardts Tom ist eine zeitgenössische Figur: Der überforderte Mann. Unzufrieden, aber auch unterwürfig, gelegentlich aggressiv, aber eigentlich gutmütig - und nicht wirklich intelligent. Ändern kann er nichts, ihm bleibt nur die Flucht. Und die löst seine Probleme auch nicht wirklich.
Julian Anatol Schneider hat es am schwersten, denn er muss Normalität spielen. Sein Jim, der im zweiten Teil des Stückes Eingeladene, ist laut Textbuch «ein netter junger Mann». Die Regie hat ihn zum Motorradfahrer gemacht – was er aber nicht spielt. Er bleibt pflichtschuldigst blass.
Vibrationsplatten und ein Motorrad
Die wenigen, von der Regie erfundenen Ergänzungen des Stückes sind von unterschiedlicher Qualität. Statt des Porträts vom geflohenen Familienvater lässt die Regisseurin ein riesiges, buntes Motorrad auf die Bühne bringen. Eine im wahrsten Sinne des Wortes glänzende Idee! Ein wirkungsvolleres Symbol für die Männlichkeit, die grad mal wieder an gesellschaftlicher Attraktivität zu gewinnen scheint, liesse sich kaum denken.
Im Raum verteilt sind zahlreiche Vibrationsplatten. Stehen oder sitzen die Spielenden auf ihnen, so werden sie geschüttelt. Das Stück wird zur Wackelpartie. Es ist eine etwas platte Metapher für den unsicheren sozialen und psychologischen Grund der Figuren. Der Effekt ist lustig, nutzt sich aber schnell ab. Das Lied «Geh aus mein Herz und suche Freud» ist vollkommen deplatziert. Generell dröhnt die Musik zwar laut, erfüllt ihre Funktion aber nicht. Und dass die Schlussszene, die Annäherung zwischen den beiden jungen Menschen, nicht wie im Original bei Kerzenlicht spielen darf, rächt sich am Stückende, wo das Kerzenlicht als Metapher gebraucht wird, bitter.
Ratschläge zum Schluss
Ich empfehle: Lesen Sie vor dem Theaterbesuch das Stück – das ist ein Erlebnis eigener Intensität, und ausserdem ist das Textverständnis von der Bühne herab nicht durchweg gesichert. Dann aber gehen Sie hin! Lassen Sie sich vom harzigen Anfang nicht abschrecken. Aus unerfindlichen Gründen spricht der Erzähler das Publikum nicht an, sondern murmelt eine Art inneren Monolog. Danach aber erleben Sie eine mit viel Respekt fürs Original und mit wachem Sinn für unsere Zeit fantasievoll gestaltete, mitreissende Aufführung mit wunderbaren Schauspielerinnen und Schauspielern.