Warum staatliche Verschwendung nötig ist

Die Corona-Krise hat uns vier ökonomische Lehren erteilt. Die Lernkurve verläuft allerdings sehr flach.

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Bloss nicht zu viel staatliches Sparen jetzt. (Foto: Unsplash/Phil Goodwin)

Die erste Lektion ist weitherum verstanden worden:

Wir sind in hohem Masse auf die Bereitstellung öffentlicher Güter angewiesen. Das gilt nicht nur für das Gesundheitswesen, sondern auch für die Schulen, die auch unter schwierigen Bedingungen funktionieren müssen, für den Transport, die Müllabfuhr etc.

Nicht zuletzt brauchen wir in den Regierungen und Ämtern gutes, hoch qualifiziertes Personal. In den Ländern mit ungenügenden öffentlichen Leistungen hat das Leben der Normalbürger*innen in der Corona-Krise noch weniger Spass gemacht als zuvor.

«Die Marktwirtschaft ist allergisch gegen Verzicht und Sparsamkeit.»

Zweite Lektion:

Die Marktwirtschaft leidet nicht bloss unter konjunkturellen Dellen, nein, sie ist allergisch gegen Verzicht und Sparsamkeit. Schrauben wir unseren Konsum auch nur für ein paar Monate und wenige Prozentpunkte zurück, gerät das ganze System ins Wanken

Schätzungsweise ein Drittel aller Jobs hängt davon ab, dass wir Dinge und Dienstleistungen konsumieren, die wir nicht wirklich oder zumindest nicht dringend brauchen. Wenn wir aber nur schon ein paar Wochen lang auf diesen Luxuskonsum verzichten, können sich immer mehr Leute auch das Notwendige nicht mehr leisten und der Konsum bricht erst recht ein. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, musste die EU eben ein Hilfsprogramm von 1800 Milliarden Euro auf die Beine stellen (das in der Zwischenzeit vom Europaparlament gestoppt wurde und auf seine Anpassungen wartet).

«Anders als die Wirtschaft kann der Mensch gut auf Konsum verzichten.»

Dritte Lektion:

Anders als die Wirtschaft kann der Mensch gut auf Konsum verzichten. Obwohl wir während Monaten nur das Nötigste an Lebensmitteln einkaufen konnten, auf den Besuch und Restaurants und Kaffees verzichten mussten und kaum noch gereist sind, haben wir dennoch keine Not gelitten. Wie auch? Insgesamt ist unserer Lebensstandard auf das Niveau von vor etwa sechs Jahren gesunken und damals war das BIP pro Kopf auch schon fast doppelt so hoch, wie in den Zeiten des «Wirtschaftswunders» der 1960er Jahre. Viele haben das entschleunigte Leben der Corona-Zeiten sogar genossen.

Vierte Lektion:

Die Arbeit wird sehr ungleich und unfair entlohnt. Mies bis schlecht bezahlt werden alle Tätigkeiten, die den täglichen Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung dienen. Das gilt insbesondere für Arbeiten in der Landwirtschaft, der Nahrungsmittelindustrie, im Baugewerbe und in der Pflege.

«Entsandte» Erntehelfer*innen aus Polen, Altenpfleger*innen aus Rumänien und Plattenleger*innen aus Süditalien verdienen so wenig, dass sie mit ihrem Konsum nichts zur einheimischen Nachfrage beitragen können. Gut bezahlt wird hingegen Arbeit für die Luxusbedürfnisse der Reichen – etwa in der Vermögensverwaltung – oder für den Export. So ist etwa die Wertschöpfung pro Arbeitsstunde in der Pharma-Industrie 19 mal so hoch wie die in der Landwirtschaft.

Soweit die vier Lektionen.

Was lernen wir daraus, wenn es jetzt darum geht, die Wirtschaft wieder auszulasten und uns für die nächste Pandemie oder für eine zweite Welle fit zu machen?

Zwei generelle Schlussfolgerungen drängen sich auf: 

Erstens müssen wir mit staatlichen Leistungen – vor allem im Gesundheitswesen – klotzen statt kleckern.

Zweitens müssen wir die Einkommensverteilung zugunsten der lebensdienlichen Tätigkeiten verschieben.

Wie der jüngste EU-Gipfel – einmal mehr – zeigt, fährt aber der Zug weiterhin genau in die Gegenrichtung. Die erwähnten 1800 Milliarden Euro fliessen nur, wenn die Nehmer-Staaten «Reformen» einleiten. Im EU-Jargon sind das Massnahmen, die darauf abzielen, ein Land «wettbewerbsfähiger» zu machen. Dass heisst, dass man den globalen Investoren günstige «Rahmenbedingungen» bieten muss, worunter man tiefe Unternehmenssteuern und «flexible» Arbeitsmärkte versteht.

Unter diesem keineswegs neuen Druck der EU hat etwa Italien seine staatlichen Investitionen in den letzten zehn Jahren real um nicht weniger als 38 Prozent gesenkt. Gemessen an seinen chronischen Exportüberschüssen ist Italien äusserst konkurrenzfähig. Der Preis dafür ist allerdings sehr hoch. Vor lauter Sparen und «Flexibilisieren» hat das Land die Fähigkeit verloren, die einheimischen Bedürfnisse – etwa nach genügend Spitalbetten – in Nachfrage umzuwandeln. 

Apple: 13 Milliarden Euro Steuern gespart

Vor allem der in der Schweiz so hoch geschätzte Steuerwettbewerb dient dazu, den Staatskonsum einzuschränken. So hat etwa Apple durch die Verlagerung der Gewinne in Steueroasen wie Irland und die Niederlande mindestens 13 Milliarden Euro Steuern gespart. Der Versuch der EU-Kommissarin Margrethe Vestager, diese Steuern nachzufordern ist – vorerst – am Veto des Europäischen Gerichtshofs gescheitert.

Dieser Entscheid hat die NZZ sehr gefreut: «Der Steuerwettbewerb liefert der Politik einen wichtigen Anreiz, staatliche Güter zu einem günstigen Preis bereitzustellen.»

Das hätte man nach einem kurzen Blick auf die neuesten Quartalsergebnis von Apple besser und richtiger formulieren können: Dank dem Steuerwettbewerb und dank tiefen Löhnen konnte Apple seinen reichen Aktionären allein im letzten halben Jahr 46 Milliarden Dollar an Dividenden und Kapitalrückzahlungen überweisen.

Wetten, dass der Staat dieses Geld besser verschwendet hätte. 

Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und eine*r der bekanntesten Wirtschaftsjournalist*innen der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.


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